KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Untersuchungsausschuss Polizeiaffäre BW

Eine Frage des Menschenbildes

Untersuchungsausschuss Polizeiaffäre BW: Eine Frage des Menschenbildes
|

Datum:

Die Bereitschaft, für Missstände Verantwortung zu übernehmen, ist in der Chefetage von Baden-Württembergs Innenministerium gering. Im Untersuchungsausschuss zur Beförderungspraxis bei der Polizei fragt inzwischen sogar die CDU nach systemischem Versagen.

Thomas Berger ist vom alten Schlag. Der 53-Jährige mit rotem Parteibuch hat drei Jahrzehnte Erfahrung in den Knochen und den Aufstieg aus dem mittleren, in den gehobenen und höheren Dienst der Polizei hinter sich. Er war unter Landesinnenminister Heribert Rech (CDU) Referent im baden-württembergischen Lagezentrum, SPD-Nachfolger Reinhold Gall holte den Sozialdemokraten als Leiter in die Zentralstelle. Es folgte der Vizeposten im Polizeipräsidium Einsatz, und seit 2020 ist er Chef des Präsidiums Technik, Logistik, Service. Als "hochqualifizierte Führungspersönlichkeit" lobte ihn Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz bei seiner Ernennung.

Jetzt sitzt er im Untersuchungsausschuss des Landtags zu den Vorgängen rund um den früheren Inspekteur der Polizei (IdP) Andreas Renner und der Beförderungs- und Besetzungspraxis innerhalb der baden-württembergischen Ordnungsmacht. Über die wird schon allein deshalb ernsthaft wie bisher selten gesprochen, weil Berger schnell auf den Punkt kommt: zu Fragen der Führungskultur, der Machtausübung in Hierarchien, der Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden. Und wie Aufstiegswillige mit ihren Perspektiven umgehen sollten. "Es wäre echt cool", sagt der Zeuge, "wenn sich Menschen fragen würden, ob und warum sie sich selber und ob und warum Dritte ihnen ein bestimmtes Amt zutrauen."

Noch cooler wäre, andere Spitzenbeamte wie die Landespolizeipräsidentin oder gar der amtierende Innenminister Thomas Strobl (CDU) teilten Bergers Verständnis von Pflichtbewusstsein und würden vor allem danach handeln. Gerade Strobl verkündet gern, für alles in seinem Haus habe er die Verantwortung. Gehandelt hat er nicht danach. Und die CDU sowie die ihn schützenden Grünen auch nicht. Mehr noch: Der Innenminister musste nicht einmal Verantwortung für die eigenen Verfehlungen übernehmen, dafür, dass er die Staatsanwaltschaft wochenlang hinter die Fichte geführt hat (Kontext berichtete), für die Geldauflage, die er kassiert hat (Kontext berichtete) und dafür, dass Andreas Renners Bestellung zum ranghöchsten uniformtragenden Polizeibeamten im Land allein auf ihn zurückgeht – weil er selbst ihn zu seinem Favoriten erkoren hatte (Kontext berichtete).

Die Landespolizeipräsidentin ist keine Polizistin

Strobl hat sich vor persönlichen Konsequenzen gedrückt und einen Wertebeauftragten ernannt. Jörg Krauss legte vor der Sommerpause 15 Seiten und neun Handlungsempfehlungen vor. Um die ist es ruhig geworden. "Papier ist geduldig", weiß der davon nur mäßig beeindruckte Zeuge Berger. Dann schlägt er den Bogen zur eigenen Familie: Hätte er zehn Regeln an den Kühlschrank geheftet, wären seine inzwischen erwachsenen Kinder vor allem daran interessiert gewesen, ob die Eltern die selbst befolgen. Weitere Auswirkungen aufs Zusammenleben hätte er nicht erwartet. Denn sich an Regeln zu halten, sei "eine Kulturfrage, eine Frage des Menschenbildes". Und: "Vorgesetzte müssen diese Werte leben."

Von Belästigungen Betroffene im polizeilichen Kosmos muss das aber noch lange nicht dazu bringen, sich ihren Vorgesetzten anzuvertrauen. Korpsgeist steht dagegen. Von einer Gefahrengemeinschaft, die die Einsatzkräfte bilden und bilden müssen, spricht der zweite Zeuge, der frühere Stuttgarter Präsident Franz Lutz. In einer solchen könnten derlei Meldungen als Anschwärzen missverstanden werden ("das ist natürlich falsch") und unterblieben deshalb. Ausgerechnet bei sexuellen Übergriffen liegt die Schwelle besonders hoch, weil nach dem Legalitätsprinzip sofort Ermittlungen eingeleitet werden müssten. Ein Polizist sei eben ein schlechter Kummerkasten für Kollegen, erläutert Berger, "denn wenn sich Frauen an uns wenden, muss ein Strafverfahren eingeleitet werden". Da bleibe keine Wahl.

Die Frage nach der Landespolizeipräsidentin und warum sie nicht sofort Ermittlungen gegen Renner angestoßen hat, als ihr entsprechende Vorwürfe bekannt wurden, ist übrigens schnell beantwortet: Stefanie Hinz ist keine Polizistin, sondern Juristin.

Im Ministerium wird fleißig telefoniert

Wie bei so vielen vorangegangenen Sitzungen kommen auch in der 31. merkwürdige Details zur Sprache. So erhielten Berger und Lutz vor vier Jahren zur eigenen Überraschung einen Anruf aus dem Innenministerium mit der Frage, ob sie selber IdP werden wollten. Sie wollten nicht, haben ihre Vorgesetzten auf diese Weise erfahren. Wie aus anderen Zeugenaussagen bereits bekannt ist, wurde so Renners Konkurrenz verringert. Den letzten verbliebenen Interessenten wurde, wie der Untersuchungsausschuss ebenfalls bereits herausgearbeitet hat, per Telefon regelrecht abgesagt – mit dem Hinweis auf ihre Chancenlosigkeit und dass Strobl Renner wolle. Alle außer dem Favorisierten zogen zurück.

Ein Thema für Spezialist:innen, gerade für die pensionierten Beamt:innen auf der Besuchertribüne, ist die Beurteilungspraxis bei der Polizei und wie die an ihre Grenzen stößt. Berger empfiehlt, sich immer vor Augen zu führen, dass ja immer Menschen Menschen beurteilen. Selbstverständlich habe er sich schon Fehler eingestehen müssen. "Alle bewegen sich in einem immensen Spannungsfeld", antwortet er auf die Frage der CDU-Obfrau Christiane Staab, ob es ein systemisches Versagen gebe. Laut Berger versuchten alle, "den Grundsätzen der Bestenauslese so weit wie möglich gerecht zu werden". Die stoßen aber längst an ihre Grenzen, weil bestimmte Bewerber:innen protegiert werden. Zudem ist eine Auswahl nach Befähigung gar nicht immer möglich. Der Chef des Präsidiums Technik, Logistik, Service liefert ein Beispiel aus dem eigenen Arbeitsalltag: Gesucht und gefunden wurde ein äußerst befähigter IT-Spezialist, der den Posten auch bekommt. Hätte sich aber ein Beamter mit den notwendigen Laufbahnvoraussetzungen und einer besseren Beurteilung, ganz abseits der IT, beworben, wäre dieser vorgezogen worden.

Obwohl der Ausschuss bis weit ins kommende Jahr Sitzungstermine vereinbart hat, ist absehbar, dass gerade die Beurteilungspraxis die Abgeordneten umtreiben wird, wenn sie ihre Abschlussberichte und Empfehlungen erarbeiten. "Ich bin im Zweifel, ob das bisherige System ausreicht", bekennt die CDU-Obfrau, "gerade wenn es um Spitzenpositionen und um Spezialisierung geht." Reformiert werden muss es ohnehin, denn bisher fiel dem IdP – Renner und allen seinen Vorgängern – die Rolle des Letztentscheiders zu. Strobl hat die Position aber inzwischen abgeschafft. Julia Goll, die Obfrau der FDP, kann sich vorstellen, dass künftig grundsätzlich aus Anlass eines nächsten Karriereschritts noch einmal "ganz genau hingeschaut" wird.

Grünen-Obmann Oliver Hildenbrand geht noch weiter: Die Polizei könne von einschlägigen Erfahrungen in der Wirtschaft lernen, beispielsweise beim sogenannten 360-Grad-Feedback durch verschiedene Gruppen, Kolleg:innen oder Kund:innen etwa, also nicht mehr allein durch Vorgesetzte. Sascha Binder, SPD-Fraktionsvize, beschäftigt noch ein ganz anderes Thema: das Agieren der Führungsetage im Innenministerium insgesamt. Binder hegt Zweifel, ob Minister und Landespolizeipräsidentin überhaupt bereit sind zur Veränderung von Strukturen und vor allem von Denkweisen: "Sie müssen beweisen, dass sie das können." Und wenn nicht? Strobl und Hinz dürften noch einmal geladen werden und müssten sich dann auch zu dem von Thomas Berger entwickelten Verständnis von Verantwortung verhalten.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


1 Kommentar verfügbar

  • Martin Deeg
    vor 1 Woche
    Antworten
    Ich habe mit Thomas Berger beim Bezirksdienst in Böblingen zusammen gearbeitet.

    Ein völlig anderer Charakter als die verschlagenen karriereorientierten Typen mit CDU-Parteibuch, die die Führungsebenen der Landespolizei schon damals dominierten, das Arbeitsklima vergifteten, ungeniert…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!