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Stuttgarter Großprojekte

Talkessel imaginär

Stuttgarter Großprojekte: Talkessel imaginär
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Wer sich Stuttgarts Zukunft vorstellen will, braucht eine Leidenschaft für Mosaike. Der S-21-Lenkungskreis präsentiert eine Teileröffnung des Tiefbahnhofs 2026 als großen Erfolg – doch die Probleme des Projekts sind unübersehbar. Zudem wird die Verlegung des City-Rings Engpässe schaffen. Und überall fehlt das Geld.

Wenn es um Blicke in die Zukunft geht, nutzten weniger aufgeklärte Gesellschaften als die unsere früher gerne mal ein Orakel. Ob das immer half, sei dahingestellt. Im Orakel zu Delphi etwa kleidete die Pythia, die weissagende Priesterin, ihre prophetischen Verlautbarungen gerne in rätselhafte Worte, die dann ein weiterer Priester zu deuten hatte. Viel Raum für Fehlinterpretationen.

Züge eines Orakels in diesem Sinne haben mitunter auch die Pressekonferenzen nach den Sitzungen des Stuttgart-21-Lenkungskreises. Womöglich feilschen die sogenannten Projektpartner – also Vertreter:innen von Deutscher Bahn, Land Baden-Württemberg, Stadt Stuttgart und Region Stuttgart – hinter verschlossenen Türen wild, zoffen sich oder schreien sich gar an, wer weiß das schon? Vor der Presse geben sich die Beteiligten jedenfalls Mühe, das Bild einer konstruktiv zusammenarbeitenden Schicksalsgemeinschaft abzugeben und möglichst zuversichtlich klingende Statements abzugeben – die aber mitunter ausgesprochen interpretationsfähig oder -bedürftig sind.

So etwa beim letzten Lenkungskreistreffen am 18. Juli, der ein Sonder-Lenkungskreis war: anberaumt wegen der Unzufriedenheit des Landes mit dem Umgang der Bahn mit Streckensperrungen und Zugausfällen im Rahmen des Großprojekts. Im Vorfeld wurde gemunkelt, ob die Inbetriebnahme des S-21-Tiefbahnhofs erneut verschoben werden würde – bislang war Dezember 2026 geplant –, oder ob es vielleicht nur eine Teileröffnung geben werde. Dem hielt Bahn-Infrastrukturvorstand Berthold Huber als "wichtigste Botschaft" entgegen: "Wir nehmen im Dezember 2026 den Tiefbahnhof Stuttgart 21 in Betrieb." Um anzufügen, dass dann der gesamte Fernverkehr, aber nur die Hälfte des Regionalverkehrs durch den Tiefbahnhof laufen soll. Die andere Hälfte, inklusive der aus Richtung Zürich kommenden Gäubahn, soll erstmal noch in den bestehenden Kopfbahnhof fahren, um dann sukzessive bis zum Sommer 2027 auch in den Tiefbahnhof geleitet zu werden. Die Gäubahn schon bis zum März, der Rest bis Juli. Der Kopfbahnhof werde also noch bis Sommer 2027, "bis zur Inbetriebnahme der neuen S-Bahn-Stammstrecke" genutzt werden.

Hier ist also nur wenig Deutung erforderlich: Doch nur eine Teilinbetriebnahme. Wenn alles klappt. Huber bemüht sich, es so darzustellen, als hätte es auch schon alles 2026 klappen können, aber die "zeitliche Staffelung" habe man gemacht, um die Zumutungen für die Bahnreisenden geringer zu halten – denen ist Huber, das sagt er mehrmals, auch sehr "dankbar". Wofür, sagt er allerdings nicht dazu – vermutlich meint er ihre Leidensfähigkeit. Die hebt dafür Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) hervor: "Die Bahngäste sind nicht erlöst mit der Inbetriebnahme", sagt er, die teilweise Eröffnung sei "erkauft mit Verspätungen", und "2027 wird es mehr Sperrungen geben als 2026". Schöne Aussichten.

"Absolutes Neuland" Digitalisierung

An den Grenzen des Prophetischen kratzen wiederum Äußerungen Hubers, die sich auf die Digitalisierung beziehen. Denn es soll ja mit dem Digitalen Knoten Stuttgart (DKS) der erste volldigitalisierte Bahnknoten Deutschlands entstehen, das Leit- und Sicherungssystem ETCS macht's möglich. Oder soll es möglich machen. Denn Huber betont immer wieder, dass es "keine Blaupause für diesen digitalen Knoten" gebe, die Bahn betrete hier "absolutes Neuland", so etwas gebe es bislang weder hier noch anderswo – und in einer früheren Lenkungskreissitzung hatte Huber einmal gesagt, selbst aus Japan würde man sehr interessiert nach Stuttgart schauen, wie das gelinge.

Japan, das sollte man erwähnen, ist ein Land mit einem ausgesprochen reibungslos funktionierenden Bahnnetz, in dem bereits Verspätungen von unter einer Minute als schwere Schmach gelten. Deutschland dagegen ist ein Land mit – gut, das wissen wir alle. Wobei Japan, auch das gehört dazu, eine ganz andere Schieneninfrastruktur hat als Deutschland, wo das Netz weit komplexer ist. Der Japan-Bezug hat aber eher mit dem dort beheimateten Technik-Konzern Hitachi zu tun, der vor einigen Jahren vom französischen Konzern Thales die Bahntechnik-Sparte inklusive ETCS übernahm. Der Wechsel brachte einige Reibungen bei der Digitalisierung von S 21 mit sich, die aber mittlerweile, glaubt man Huber, ausgeräumt seien.

"Ich habe immer gesagt: einstweilen"

Ob also der DB das Betreten des "Neulands" so gut gelingt, dass sie sich Mitte 2027 vom Tiefbahnhof verabschieden kann – das scheint mehr als fraglich. Winfried Hermann, der bei den Lenkungskreis-Pressekonferenzen zuletzt immer den Part des Wasser-in-den-Wein-Gießers hatte, betont: "Es ist damit zu rechnen, dass nicht gleich alles klappen wird." Und deswegen sei es gut und wichtig zu sehen, "dass der Kopfbahnhof auf seine alten Tage noch hilft", falls der Tiefbahnhof nicht alles schafft. Dass er das nie schaffen wird, davon sind Projektkritiker und einige renommierte Verkehrswissenschaftler seit langem überzeugt. Auf die Kontext-Frage, ob er den Optimismus Hubers nachvollziehen könne, Ende 2026 werde eröffnet und Mitte 2027 sei alles fertig, deutet Hermann ein Grinsen an und sagt: "Ich habe immer gesagt: einstweilen."

Von solcherlei Zweifeln ist hingegen Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) gänzlich unbeleckt. Er gliedert seine Statements bei den Lenkungskreis-Pressekonferenzen gerne in "frohe Botschaften", und derer habe er drei vernommen: Dass der Tiefbahnhof Ende 2026 in Betrieb gehen werde. Dass die Finanzierung für den Pfaffensteigtunnel für den Gäubahnanschluss auf einem guten Weg sei. Und was ihn am meisten freut: "Spätestens im Juli 2027 kann begonnen werden, das Gleisvorfeld abzubauen." Ob diese Frist sich halten lässt – wir werden sehen.

Bürgerbegehren gegen Gleisvorfeld-Bebauung

Eine andere Frist ist fix: Bis Mitte Oktober müssen jene 20.000 Unterschriften gesammelt sein, mit denen ein Bürgerbegehren gegen die Bebauung des Gleisvorfelds, konkret, der Teilfläche A2 am heutigen Kopfbahnhof in Gang gebracht werden soll (Kontext berichtete). In der entscheidenden Sitzung des Gemeinderatsausschusses für Stadtentwicklung und Wohnen am 15. Juli, als der diese Zeitvorgaben auslösende Aufstellungsbeschluss mit großer Mehrheit gefasst wurde, löste Stadtrat Hannes Rockenbauch (SÖS) gleich zweimal Gelächter aus. Dabei war es ihm bitterernst mit seinen Ideen: erstens dem Gemeinderat noch einmal die Gelegenheit zu geben, doch noch nicht zu entscheiden, sondern sich mit der veränderten Ausgangslage zu befassen und sich anzuhören, was gegen die Bebauung spricht. Und zweitens, als er die Stuttgart-21-Fans im Gemeinderat aufforderte, ihre Ansichten doch von sich aus der Bürgerschaft zum Entscheid vorzulegen – transparent und mit allem, was dazu gehört. Zum Beispiel mit den zu erwartenden Erschließungskosten, die die Stadt wird berappen müssen, wenn die Gleise einmal wirklich nicht mehr da sind.

Die Appelle verhallten ungehört, jetzt sieht das neue Bündnis "Bahnhof mit Zukunft" beste Chancen, eine Befassung mit ihrem Anliegen im Stadtparlament durchzusetzen. Ein Argument gegen eine vergleichsweise zügige Bebauung des im Verhältnis zum gesamten neuen Rosensteinviertel schmalen Streifens zwischen Schlossgarten und den vorhandenen Glas- und Betonkästen auf dem bereits bebauten Areal A1 ist das liebe Geld. Die Erschließungskosten sind inzwischen um ein Vielfaches höher als vor zwanzig oder noch mehr Jahren kalkuliert, die Idee von bezahlbaren Wohnraum haben alle kritischen Stuttgart-21-Kenner:innen schon damals nicht geglaubt, inzwischen ist sie außerhalb jeder Realität – es sei denn, die Stadt würde unterstützend in den eigenen Säckel greifen.

Wie leer der ist, zeigt sich am Gezerre um das Große Haus der Württembergischen Staatstheater, die Oper. Der Zeitplan für die milliardenschwere Sanierung ist gestreckt bis mindestens 2040. Ganz davon abgesehen, dass Brandschutzverantwortliche bei einer Routineüberprüfung auf die Idee kommen könnten, die Stuttgarter Oper einfach zu schließen (wie beim Fernsehturm), laufen Jahr für Jahr Zusatzkosten auf. "Das ist Wahnsinn", warnt Rockenbauch im Ausschuss und kann wieder nicht überzeugen. Dabei ist erwiesen, dass bisherige Planungen Makulatur sind, denn am Interimsbau an den Wagenhallen, der den Spielbetrieb während der Sanierungspause sichern soll, muss jetzt noch einmal gespart werden (Kontext berichtete).

City-Ring-Verlegung: Es fehlt an Platz

Weitere Verzögerungen sind wahrscheinlich. Das bringt eines ganz bestimmt mit sich: Der Talkessel bleibt noch lange, selbst wenn der Tiefbahnhof dann doch irgendwann funktionieren sollte, eine Riesenbaustelle. Auf der einen Seite im Rosensteinquartier, auf der anderen an den Staatstheatern. Ganz zu schweigen von den großen Plänen für die Untere Königstraße und für die Verkehrsberuhigung des Arnulf-Klett-Platzes, die durch die beschlossene Verlegung einer Achse des City-Rings ermöglicht werden soll, also des den Innenstadtkern umgebenden, mehrspurigen Straßenrings. Auch mit letzteren durften sich die zuständigen Stadträt:innen vor der Sommerpause intensiv beschäftigen. Werden die Pläne irgendwann wahr, hat die Innenstadt ihr Gesicht tatsächlich völlig verändert. Denn vor dem alten neuen Bonatzbau soll eine Parklandschaft mit Bus- und Taxispuren sowie Zufahrten zu Tiefgaragen einen attraktiven Übergang von der heutigen City in die Stadterweiterung sicherstellen, die auf den ehemaligen Gleisflächen entstehen sollen.

Dass die alte große Bahnhofshalle für immer ein Riegel bleiben wird, ist noch das geringere Problem. Viel schwerer wiegt die Verteilung des Individualverkehrs, der heute vielspurig, geradeaus, mit Links- und Rechtsabbiegern aus dem Wagenburgtunnel fließt. Denn links vorbei am Königin-Katharina-Stift und den Staatstheatern soll der Platz weniger werden. Vom Mehrwert für die Stadt spricht Baubürgermeister Peter Pätzold (Grüne). Grüner, gefälliger, mit einem Radweg, besser verbunden mit dem Eckensee, könnte das Areal gestaltet werden. Jedoch: Es fehlt der Platz.

Erst recht, wenn jene Achse des City-Rings, die aktuell noch über die Schillerstraße vor dem heutigen Bahnhof führt, weiter nach Nordosten in die Wolframstraße verlegt wird. Ein einziger Aspekt steht für die Komplexität des Konzepts: Eine ganze Tankstelle, nämlich die an der Schwabengarage am Neckartor, müsste weichen, um überhaupt eine Chance zu haben, die neue Hauptverkehrsader per Überbauung zu schließen.

Zu den möglichen Kosten der City-Ring-Verlegung gibt es bislang keine konkreten Kostenschätzungen. Gelegenheit also, ein Orakel anzurufen. Ob bei Stuttgart 21 die Kosten aufgrund der gestaffelten Inbetriebnahme steigen, war beim Lenkungskreis übrigens nicht zu erfahren. Vor kurzem legten Medienberichte nahe, beim aktuellen Finanzierungsrahmen von 11,5 Milliarden Euro sei der Risikopuffer schon fast aufgebraucht. Über Kosten habe man überhaupt nicht gesprochen, sagte Bahn-Vorstand Huber auf eine Journalistenfrage. Aber er sehe momentan keinen Anlass, von einer erneuten Kostensteigerung auszugehen.

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