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Stuttgart 21

"Züge fliegen nicht durch die Luft"

Stuttgart 21: "Züge fliegen nicht durch die Luft"
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Volle Stuttgart-21-Woche: Im Verkehrsausschuss des Bundestages wird über die Novelle des Eisenbahngesetzes diskutiert, der S-21-Lenkungskreis legt Missstimmungen offen, und auf ihrem Landesparteitag fordern die Grünen den Erhalt der Gäubahn bis zum Stuttgarter Hauptbahnhof.

Auch wenn die Deutsche Bahn nach wie vor verkündet, in exakt zwei Jahren, im Dezember 2026, werde Stuttgart 21 in Betrieb gehen – rund um das Projekt ist momentan sehr vieles sehr vage. Völlig unklar ist nach wie vor nicht nur die Finanzierung des Pfaffensteigtunnels, durch den die von Singen kommende Gäubahn einmal geführt werden soll, sondern auch die Finanzierung des DKS 3 – die dritte und letzte Stufe des "Digitalen Knotens Stuttgart", ein 2018 beschlossenes Pilotprojekt, das die Ausrüstung des kompletten Bahnknotens mit der digitalen Leittechnik ETCS vorsieht (Kontext berichtete). In beiden Fällen gehört die Finanzierung nicht zum eigentlichen Projektkosten-Topf für Stuttgart 21, und beides sollte hauptsächlich der Bund bezahlen.

Als neues Damoklesschwert für all jene, die beim Stichwort Stuttgart 21 allein wegen erhoffter neuer Immobilien leuchtende Augen kriegen, kam dann jüngst noch die Novelle von Paragraf 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) hinzu: Die besagt, dass im Augenblick nicht mehr gebrauchte Gleisflächen nicht mehr so einfach, sondern nur noch aus ganz bestimmten Gründen entwidmet werden können, und der Wohnbau gehört nicht dazu (Kontext berichtete).

Und das ist ein ganz reales Problem, wie eine Anhörung des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestages am 2. Dezember zeigte (hier zum Nachschauen). Dirk Flege, Geschäftsführer der "Allianz pro Schiene", und Dirk Berends, Vorstand der Bentheimer Eisenbahn AG, nannten eine Vielzahl von Beispielen aus ganz Deutschland, bei denen aktuell versucht werde, stillgelegte Strecken zu reaktivieren – "aber überall kommt die Reaktivierung überhaupt nicht voran wegen erfolgten Entwidmungen", sagte Flege. Oft seien die ehemaligen Strecken mittlerweile bebaut, und auch wenn es ein hohes öffentliches Interesse an einer Reaktivierung gäbe: "Eine entwidmete Strecke wieder neu zu widmen, ist fast unmöglich", sagte Berends und forderte: "Wir sollten lernen aus der Vergangenheit und diese Fehler nicht noch einmal machen." Eine Position, die auch die Grünen haben – eigentlich. Denn im Ausschuss zeigte sich auch, wie divers die Partei in diesem Punkt sein kann.

Grüne beim Eisenbahngesetz sehr divers

Der Ausschuss hatte zu der Sitzung geladen, weil die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag einen Änderungsentwurf für den kontroversen Paragrafen 23 AEG vorgelegt hatte, der mit Sachverständigen diskutiert werden sollte. Und während etwa die Grünen-Fraktion den Passauer Rechtsprofessor Urs Kramer als Experten geladen hatte, gehörte zu den von CDU/CSU Geladenen unter anderem der Stuttgarter Grüne und Baubürgermeister Peter Pätzold.

Kramer und Pätzold sind in der jüngeren Diskussion um Stuttgart 21 durch recht gegensätzliche Positionen zur Gäubahn bekannt. Zum Hintergrund: Die DB will deren Anschluss an den Stuttgarter Hauptbahnhof über die Panoramatrasse einige Monate vor der Inbetriebnahme von S 21 kappen und die Strecke in Stuttgart-Vaihingen enden lassen, weil ein Teil der Strecke der neuen S-Bahn-Führung im Weg sei. Das ließe sich mit minimalem Aufwand auch anders planen, aber das ist eine andere Geschichte. Eine neue, alternative Führung der Gäubahn durch den weder fertig geplanten noch finanzierten Pfaffensteigtunnel liegt aber noch in mindestens mittelferner Zukunft, falls sie überhaupt je zustande kommt. Kramer erstellte dazu 2022 ein Rechtsgutachten, in dem er – wie zwei andere Gutachten – zum Schluss kam, allein wegen dieser jahrelangen Unterbrechung sei eine Stilllegung der Strecke durch die Bahn verboten (Kontext berichtete). Und zwar schon nach dem bisherigen Recht, damals gab es noch keine Novelle des AEG. Pätzold wiederum sind alle Argumente gegen eine Gäubahn-Kappung schnuppe, da er als Baubürgermeister allein die Umsetzung des geplanten Rosensteinviertels auf den ehemaligen Gleisflächen im Blick hat.

In dieser Hinsicht gab es bei der Ausschusssitzung wenig Neues. Zwar sagte Kramer, die AEG-Novelle sei gar nicht so streng wie immer behauptet – der Gesetzestext erlaube durchaus, dass in einzelnen Fällen abgewogen werde. Aber seine und die Ausführungen anderer Sachverständigen zeigten doch, dass das wirklich nur in Fällen gelte, wenn absolut sicher sei, dass Gleisflächen nicht mehr für Bahnbetrieb genutzt werden würden. Das ist weder bei der Gäubahn der Fall, noch bei den übrigen Kopfbahnhofgleisen in Stuttgart.

Nicht auf Pätzolds Linie ist der Nürtinger Bundestagsabgeordnete Matthias Gastel, der für die Grünen im Verkehrsausschuss sitzt und als einer der wenigen bei der Anhörung auf die Gäubahn einging. Das jetzige Problem habe damit zu tun, dass in den 199oer "gegen alle politische Vernunft" eine Gäubahnführung über den Stuttgarter Flughafen angestrebt worden sei (Kontext berichtete). Und er habe zwar „volles Verständnis“ für die Stadt Stuttgart, die bauen wolle, bittet aber auch um Verständnis für die vielen Gäubahn-Pendler, die zum Hauptbahnhof wollten.

Zerknirschung und Verwirrung beim Lenkungskreis

Keine Kappung der Gäubahn wäre dem grünen baden-württembergischen Verkehrsminister Winfried Hermann lieber. Der aber scheiterte schon mit seiner Idee eines Ergänzungs-Kopfbahnhofs für S 21 an der Betonhaltung der Stadt. Vier Tage nach der Verkehrsausschusssitzung, am 6. Dezember, trifft er sich mal wieder mit Vertretern der S-21-Projektpartner zum Lenkungskreis, und in der stark verspäteten Pressekonferenz danach geht es aber mit keinem Wort um die Gäubahn. Dafür um das vielbeschworene Modul DKS 3, die dritte Stufe des "Digitalen Knotens Stuttgart". Dass der Bahnvorstand dieses Projekt im Februar per Gremienvorbehalt vorerst gestoppt hatte, war bereits im Juni bei der letzten Lenkungskreissitzung Thema gewesen. (Kontext berichtete)

Getan hat sich seitdem nichts, entsprechend zerknirscht wirken alle Beteiligten auf der Pressekonferenz. Woran es hakt, führt Bahn-Infrastrukturvorstand Berthold Huber lange aus und trägt die Problemverästelungen so monoton vor, dass ihm nur schwer zu folgen ist. Grob: Dass Mittel des Bundes gekürzt wurden, und dass trotzdem eine Generalsanierung des deutschen Streckennetzes gestemmt werden müsse, mache alles nicht einfacher. Dass es aktuell bundespolitisch eine Hängepartie mit einer Regierung ohne Mehrheit gäbe, erst recht nicht, und überhaupt sei dies ein Lehrstück, was passiere, wenn ein Infrastrukturprojekt nicht durchfinanziert sei. Aber er wolle abgesehen davon betonen, sagt Huber, dass S 21 auch ohne den DKS 3 in Betrieb gehen könne.

Das schmeckt den Projektpartnern erwartungsgemäß nicht. Schon in einem vor knapp drei Wochen verschickten Brief an den DB-Aufsichtsrat hatten sich Hermann und der neue Regionalpräsident Rainer Wieland "fassungslos" darüber gezeigt, dass die Aufhebung des Gremienvorbehalts für den DKS 3 offenbar gerade kein Thema bei der Bahn sei. Das hat sich nicht geändert. Hermann korrigiert bei der Pressekonferenz lediglich, dass es wohl nicht wie im Brief formuliert um 825 Millionen Euro Bundesmittel für die Digitalisierung gehe, die zu verfallen drohen, wenn sie nicht bis Ende 2024 abgerufen würden, sondern lediglich um 239 Millionen. Huber versucht in der Folge deutlich zu machen, dass die 239 Millionen nicht zwangsläufig verfallen, warum genau, bleibt indes nebulös. Verwirrung bringt dann auch noch Projektsprecher Jörg Hamann rein, der irgendwann behauptet, DKS 3 gehöre seines Wissens gar nicht zu der vor Jahren getroffenen Digitalisierungsvereinbarung, worauf ihm Hermann sofort mit Quellenbeleg widerspricht.

Konkret scheint dennoch eines: Der Eröffnungstermin im Dezember 2026 wackele nach Auskunft der Bahn nicht, der Zeitplan stehe, sagt Hermann, nicht ohne süffisant zu ergänzen: "Ich sage immer: einstweilen." Und noch einen Seitenhieb kann er sich nicht verkneifen: Auch wenn der Zeitplan stehe, es zeigten sich immer wieder Schwierigkeiten, etwa, "dass der Star-Architekt die Oberleitungen nicht so richtig eingeplant hat, wie sie sein sollten." Gemeint ist Christoph Ingenhoven.

Grüne stimmen für den Gäubahn-Erhalt

Bliebe der Zeitplan so, würde Ende April 2026 die Gäubahn vom Stuttgarter Hauptbahnhof abgekoppelt. Das ist zwei Tage später Thema bei der Landesdelegiertenkonferenz (LDK) der Grünen in Reutlingen. Käme die Kappung, müssten "tausende Pendler im Vaihinger Bahnhof umsteigen", sagt dort Hendrik Auhagen. Und jeder, der nicht lebensfremd sei, wisse, was das bedeutet: "Einen massenhaften Umstieg von der Schiene auf die Straße", und damit verbunden ein massiver Anstieg des CO2-Ausstoßes sowie ein fatales Zeichen für alle, die eine klimagerechtere Mobilität wünschten. "Die Realbotschaft lautet: Seid doch bloß nicht so dumm und verzichtet auf das Auto!"

Auhagen ist ein Grünen-Urgestein der ersten Jahre: Ende der 1980er war er Bundestagsabgeordneter, heute ist er engagiert im Kreisverband Konstanz und Mitglied in dem seit März 2024 aktiven Landesbündnis "Pro Gäubahn". In Reutlingen wirbt er vehement für einen Antrag der Kreisverbände Konstanz, Rottweil und Tuttlingen, die Gäubahn zu erhalten – "für klimafreundliche Mobilität und eine echte Verkehrswende", so dessen Unterzeile. Im Antragstext bekommt auch die Landeshauptstadt Stuttgart ihr Fett weg: Deren "egoistische Position", dass Stuttgart oberirdisch praktisch gleisfrei werden solle und das Abhängen von 1,4 Millionen Menschen im Einzugsgebiet der Gäubahn hinter die eigenen Immobilieninteressen zurückzutreten habe, werde "entschieden" abgelehnt.

Der Antrag geht nach Auhagens leidenschaftlicher Rede mit nur einer Enthaltung durch – auch die in Reutlingen anwesenden Winfried Hermann und Matthias Gastel stimmen dafür.

Bei der allgemeinen Aussprache auf der LDK greift der bahnpolitische Sprecher der Grünen-Landtagsfraktion Michael Joukov das Thema auf. "Züge fliegen nicht durch die Luft", sagt er. "Wir brauchen die Gäubahn!" Und er macht die Bereitschaft seiner Partei klar, die Haltung in der Koalition auf Landesebene rasch auszudiskutieren. "Im Klartext an die Kolleg:innen der CDU", so der Ulmer Abgeordnete in Reutlingen, "wir lassen nicht durchgehen, dass sie in Singen das Gegenteil von dem erzählen, was sie in Stuttgart sagen."

Auch die CDU zeigt Regungen in der Gäubahn-Frage

Joukov spielt auf einen "Gäubahn-Dialog" der CDU Ende November an, zu dem der stellvertretende Bundesvorsitzende Andreas Jung und Landes- und Fraktionschef Manuel Hagel (beide CDU) geladen waren. Als Fazit posteten die Veranstalter: "Die Strecke Singen–Stuttgart muss beschleunigt werden – direkt, ohne jahrelangen Umstieg in Vaihingen. Wir sind keine Sackgasse, sondern eine wichtige Drehscheibe Europas." Und das Singener Wochenblatt machte nach dem Treffen öffentlich, dass Hagel versprach, das Erfahrene mit nach Stuttgart zu nehmen und ein Treffen der Oberbürgermeister aus der Region mit dem Stuttgart CDU-OB Frank Nopper zu organisieren. Man müsse "schwätzen mit den Leuten", wird Hagel zitiert, "und das Machbare identifizieren".

Das weitere Vorgehen, um den Forderungen aus dem Gäubahn-Antrag Leben einzuhauchen, erläutert Grünen-Landeschef Pascal Haggenmüller auf Kontext-Anfrage. Ausdrückliches Ziel sei, den Beschluss konkret in die Positionierung der Landesregierung einfließen zu lassen. Haggenmüller will sich noch vor Weihnachten deshalb mit Verkehrsminister Hermann treffen, um sich abzustimmen.

Auf die aktuellen Entwicklungen geht am Montagabend auch der Filmemacher Klaus Gietinger ein, der zur Vorführung seines neuen Films "Der Kampf um die Gäubahn ist ein Kampf um die Bahn" im Stuttgarter Delphi-Kino ist. "Es ist gerade Bewegung in der Sache", sagt er, "nicht nur wegen des Paragrafen 23, sondern auch wegen des Grünen-Antrags". Andererseits höre man gerade, "dass schon wieder Bäume gefällt werden sollen". Gietinger bezieht sich darauf, dass Anfang Dezember bekannt wurde, dass die Stadt Stuttgart auf dem Areal C1, ein Teil des geplanten Rosensteinviertels, ab Januar erste Rodungen für die sogenannte "Maker City" durchführen will, 134 Bäume sollen weichen – ungeachtet der AEG-Novelle. Am 17. Dezember sollen die Fällungen Thema im Stuttgarter Gemeinderat sein.

Vielleicht sollten die Grünen dort, nachdem ihr Landesverband sich so für die Gäubahn ausgesprochen hat, Gietingers Film mal im Rathaus vorführen lassen. Der ist zwar zuweilen sehr polemisch und scharf, aber akkurat in der Dokumentation, wie haarsträubend die politischen Entscheidung in Richtung Stuttgart 21 und in Bezug auf die Gäubahn waren – und sind. Und er dokumentiert auch in Bild und Ton die erstaunliche Wandlung von Peter Pätzold, der 2013 noch ganz anders klang.

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3 Kommentare verfügbar

  • Annette Thomas
    am 18.12.2024
    Antworten
    Vor gut vierzehn Jahren stand ich schwanger im Schlossgarten in der Menschenkette. Stunden später rollten die Wasserwerfer an.
    Heute ist mein Großer dreizehn und ich werde nachher mit ihm besprechen, wie viele von uns sich im Januar wieder im Rosenstein einfinden sollen, um noch einmal Protest…
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