Wenn du aus einem der Kinos in der Innenstadt kommst und keine Angst hast, psychisch und physisch bis zum Äußersten zu gehen, kämpfst du dich über den Weihnachtsmarkt. Du bekommst dort für neun Euro einen zwölf Zentimeter langen Spielzeug-Porsche oder achtzig Gramm Dubai-Schokolade. Ich habe mich für das Auto entschieden, weil man damit ein schönes Christian-Lindner-Denkmal bauen kann. Die Dubai-Stimulans dagegen ist eher vergänglich, sofern man mit dem Zuckerzeug seine kannibalistische Gier befriedigt, weil es Engelshaar enthält.
Zu meiner weiteren Weihnachtsmarktbeute gehören neben dem Porsche ein Pack Lammfellsohlen. Diese Dinger haben gegenüber anderen tierischen Kleidungsstücken den Vorteil, nicht von veganen Ultras erkannt zu werden, solange es mir beim Blick auf die Weihnachtswelt nicht die Schuhe auszieht.
Die noch amtierende Innenministerin Nancy Faeser hat vor Beginn der Stuttgarter Glühweindorf-Saison zur Wachsamkeit auf Weihnachtsmärkten aufgerufen. Der Verfassungsschutz halte diese Rummelplätze für ein "ideologisch geeignetes Ziel für islamistisch motivierte Personen". Sie seien ein "Inbegriff der westlichen Kultur und Lebensweise". Wie meine antiislamistischen Schutzmaßnahmen aussehen sollen, wurde mir nicht gesagt. So habe ich beschlossen, Glühwein zu meiden, um im Ernstfall Nikolaus- und Terroristenbärte unterscheiden zu können.
Nun wissen wir, dass Warnungen vor Gefahren im Stadtleben Konjunktur haben, nicht nur zur Weihnachtszeit. Und Geheimdienstlern sieht man es nach, wenn sie nicht wissen, dass der Begriff "Kultur" an sich für eine Lebensweise steht, die Koppelung "Kultur und Lebensweise" also unsinnig ist.
Stützpunkte einer humanen Lebensweise
Davon allerdings haben auch die demoskopischen Schlauköpfe nichts gehört, die neulich ermittelten, ob die Menschen im Land wollen, dass "Kultur" vom Staat finanziell gefördert werden müsse. Gemeint ist in solchen Fällen jedoch nicht die Kultur, sondern immer der Kulturbetrieb, was viele Politiker so wenig unterscheiden wie Leitartikler.
Vor diesem Hintergrund glauben etliche immer noch, der Kulturkampf von rechts mache sich erst dann bemerkbar, wenn Nazis Theatersäle stürmen. Bis heute begreifen sie nicht, dass der völkische Kulturkampf nicht nur den Kulturbetrieb im Visier hat. Angegriffen wird alles, was eine demokratische Lebensweise ausmacht. Im Verfassungsschutzjargon: Demokratische Räume sind ein "ideologisch geeignetes Ziel für faschistisch motivierte Personen".
Das Wort "Kultur" im Zusammenhang mit staatlicher Förderung, generös "Subvention" genannt, wird ständig so schwammig gebraucht, dass ein großer Teil der Bevölkerung "Kultur" für einen nicht "systemrelevanten", also verzichtbaren Zuschussbetrieb halten muss. Weniger lebenswichtig als Dubai-Schokolade, auch wenn hin und wieder eingeräumt wird, dass etwas Unterhaltung und emotionale Gemeinschaftserlebnisse den städtischen Standortfaktor aufwerten. Bringt Umsatz. Dass der Kulturbetrieb, also unsere internationale Kunst und deren artverwandten Disziplinen, Einfluss auf unsere Lebensweise, unser soziales Verhalten und unsere Weltsicht haben, wird von der Politik meist ignoriert. Nebenbei: Kultur haben auch Rechtsextreme und Barbaren.
Ich kann nichts dafür, solche Gedanken kommen mir auf dem Weihnachtsmarkt nach Frau Faesers Mahnung, wachsam zu sein. Keinerlei Warnungen erhält die Bevölkerung hingegen, sich wachsam und wehrhaft auf dem freien Markt zu bewegen. Dort fliegen uns die Folgen von Wohnungsnot und Mietwucher um die Ohren, während die Kosten für Lebensmittel und Energie explodieren und Arbeitsplätze vernichtet werden. Und hat dieser freie Markt als Inbegriff westlicher Kapitalismuskultur wieder mal Schwierigkeiten, streicht die Politik sofort Geld für den Kulturbetrieb – und vernichtet damit Stützpunkte und Räume einer humanen Lebensweise, was die Rechten freut.
Im Unterwäschespektrum weltoffen
Ich gebe zu, eigentlich ist dieser Politikkram kein Kolumnenstoff vor Weihnachten. Auch deshalb nicht, weil es mir inzwischen scheißegal ist, wie kurz die Beine von Lindners Lügen auf dem freien Markt der Charakterlosigkeiten sind. Und wie schrill die Ich-hab-Schuld-Bremse dieses Weihnachtsmanns im Porsche quietscht. Wesentlich wichtiger war mir zuletzt die Frage, ab welchen Temperaturen es legitim ist, im B-Block der Stuttgarter Kickers neben Schuhwerk mit Lammfellsohlen lange Unterhosen zu tragen. Lange Unterhosen sehe ich als unumstrittenen Inbegriff westlicher Kultur, ohne den Kulturen anderer Himmelsrichtungen das Recht auf diese Beinkleider abzusprechen. Auch wenn dieses Thema ziemlich maskulin erscheinen mag, denke ich im Unterwäschespektrum weltoffen.
Apropos warme Unterhosen. In jüngster Zeit werde ich auffallend oft gefragt, ob ich mich schlecht fühle. Meine Texte, sagt man mir, erweckten zunehmend den Eindruck, ich sei der Melancholie verfallen, der berüchtigten "Schwarzgalligkeit", die aufs Gemüt drückt. Entwarnung: Zuletzt ist es mir gelungen, meine Schwermut angesichts der Weltlage und des nahenden Endes an allen Ecken und Enden mit dem Kauf des Porsches auf dem Weihnachtsmarkt einzudämmen. Ein Rennauto ist der Inbegriff unserer apokalyptischen westlichen Kultur ohne Tempolimit. Und der Geschwindigkeitswahn hat auch großen Einfluss auf die Lebensweise des vom Leben müden Spaziergängers. Jahrelang war ich der Meinung, ich könne mit nur drei bis höchstens fünf Kilometern pro Stunde herumschlendern, um der Welt etwas abzugewinnen – der kleinen Stadt gemächlich ins große Maul zu schauen.
1 Kommentar verfügbar
nesenbacher
am 11.12.2024„Ich bin nicht talentiert genug, um beim Laufen auch noch lächeln zu können.“
Walk on! ;-)