In der Ausstellung "Protest – Von der Wut zur Bewegung" im Landesmuseum im Alten Schloss in Stuttgart kann man auf einen Zettel kritzeln, wann man es für richtig hielte, eine Revolution zu starten. "Im nächsten Morgengrauen", schrieb ich. Anderntags kam ich anscheinend nicht rechtzeitig aus dem Bett, und Donald Trump wurde zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt.
Es ist nicht alles schlecht in God's Own Country. Wenn Franz Kafka in seinem Roman "Amerika" über die Einfahrt des sechzehnjährigen Karl Roßmann in den New Yorker Hafen schreibt, dass um Lady Liberty "die freien Lüfte" wehten, dann ist diese Beobachtung bis heute richtig. In New York dürfen seit Ende Oktober Fußgänger Straßen abseits von Zebrastreifen und Ampeln straffrei überqueren. Bis dahin wurden dafür schon mal 250 Dollar fällig. In Stuttgart praktiziere ich den nicht reglementierten Schritt schon lange konsequent, weil die Ampeln bei uns nicht für die Fußläufigen, sondern für die Motorisierten programmiert werden.
Das Überqueren von Straßen ohne Rücksicht auf die amtlichen Wege nennt man in den USA "Jaywalking". Wenn ich richtig informiert bin, kommt dieser Begriff aus dem Slang des Mittleren Westens: "Jay" steht für Landei, für Dorftrampel. Diesen Schlag Mensch beobachte ich in unserem etwas städtisch geratenen Dorf vor allem in U- und S-Bahnstationen. Da kommen dir auf allen nicht rollenden Treppen ständig Menschen stramm links entgegen und starren dich wütend und kampfbereit an, wenn du ihnen als rechtmäßiger Rechtsgeher nicht sofort mit einer Rolle rückwärts Platz machst.
Als ich 1982 erstmals ein paar Tage durch New York stiefelte, war ich ein echter Jay. Mit einem Freund, der schon einige USA-Erfahrung hatte, wollte ich unbedingt den berühmten Club Max's Kansas City besuchen. Dort waren, hatten wir gehört, Leute wie Andy Warhol und David Bowie, Robert Rauschenberg und Patti Smith zugange. Als wir per Taxi an der richtigen Adresse ankamen, war da aber nichts. Gar nichts. Der Laden hatte ein Jahr zuvor dichtgemacht. Wir schauten so blöd aus der Wäsche, wie wir waren. War mir eine Lehre. In den Jahren danach kam ich in New York nicht immer nur zu spät.
Traum vom gottverdammt-gelobten Land
Wie viele andere wollte ich schon als junger Mensch unbedingt nach Amerika. Ich war aber viel zu feige, diese damals in meinen Vorstellungen viel zu weite Reise anzutreten, auch wenn es schon brauchbare Düsenflugzeuge gab. Es hätte irgendwie so funktionieren müssen wie in "Alle Toten fliegen hoch. Amerika", dem Roman des Schauspielers Joachim Meyerhoff: "Mit achtzehn ging ich für ein Jahr nach Amerika. Noch heute erzähle ich oft, dass es ein Basketballstipendium war, aber das stimmt nicht. Meine Großeltern haben den Austausch bezahlt." Mit achtzehn hatte ich nicht einmal mehr Großeltern. Und wir Jays spielten Fußball, nicht Korbball.
Wenn ich auf mein Leben als Jay, den sie später Joe nannten, zurückblicke, geht mir viel Amerikanisches durch den Kopf. Die Hinwendung zu diesem gottverdammt-gelobten Land hatte nicht nur Karl May zu verantworten, der mir ein Amerika vermittelte, das er nicht gesehen, sondern in Archiven zusammengeklaut hatte. Ich weiß noch, wie wir als Kinder Anfang der Sechzigerjahre immer wieder an einer lebensgefährlichen Kurve der B 29 mitten in unserem Dorf standen und warteten, bis eine Kolonne der US-Armee vorbeikam. Das geschah gar nicht so selten. Die Lastwagen und Jeeps mussten in dieser Kurve sehr langsam fahren, wir winkten und schrien "Dschewing Gumm". Das war unsere Aussprache von Chewing Gum, und wenn wir Glück hatten, warfen uns die Soldaten ein paar Päckchen Wrigley's Spearmint zu. Einige Jahre später kamen der Rock 'n' Roll und die Hollywoodfilme hinzu, und die Amerikanisierung des Dörflers nahm ihren Lauf.
In der Kreisstadt, in der ich zur Schule ging, gab es zwei US-Kasernen. Nicht alle Kneipen hatten ein "Off limits"-Schild an der Tür hängen, und wir trafen leibhaftige GIs. Manchmal, wenn sie uns mochten, nahmen sind uns mit in ihren NCO-Club (den Non-commissioned Officers Club für Unteroffiziere). Dort spielten professionelle Rockbands mit Fender- und Gibson-Gitarren. Etwas Größeres gab es nicht. Ein Schwarzer GI machte mich schon als junger Kerl in einer Kneipe darauf aufmerksam, dass es falsch sei, das N-Wort zu verwenden. Egal, ob auf Deutsch oder Englisch. In der Schule hatte mir das niemand gesagt, und in meinem Regal stand ein Roman von George Simenon aus dem Jahr 1957 mit dem N-Wort als Titel auf dem Deckel.
Nie wäre ich auf die Idee gekommen, Anti-Amerikaner zu werden. Wie auch, wenn man Bob Dylan und die Beach Boys, Frank Zappa und Miles Davis hörte. Und Bücher amerikanischer Autoren las. Der Anti-Amerikanismus war für einen Jungen in Levi's-Jeans und Boots undenkbar – und löste trotzdem heftige Debatten aus. Auch in der Provinz tagten in den Siebzigern K-Gruppen, deren Argumente mir zu denken gaben. Aber K-Gruppentypen, Revolution hin oder her, waren nun mal keine Rock 'n' Roller. Erst recht keine Cowboys. Und so wurde ich kein Feind Amerikas. Auch nicht wegen der United Fruit Company, nicht wegen Coca-Cola und der CIA, nicht mal wegen Vietnam – auch wenn das schon deshalb übel scheiße war, weil wir hin und wieder hörten, dass ein GI aus unserem Bekanntenkreis ziemlich unvermittelt in den Krieg geschickt wurde. Vielleicht, weil er in einer Kneipe über die Stränge geschlagen hatte – es kursierten Gerüchte.
Mal Tragödie, mal Komödie – Amerika war ein Film
Und dann bildete sich so langsam die Vorstellung von den USA als einem Land der Bürgerrechte und der kämpfenden Menschen: das andere Amerika. Der Blick darauf war noch lange Zeit nicht so klar und nicht so deutlich. Amerika war ein Film. Manchmal Tragödie, manchmal Komödie, oft beides, aber immer cool. Und Jimi Hendrix zerfetzte mit seiner Fender Stratocaster die Hymne. Die sogenannten Staaten waren nun mal ein Mythos mit unglaublichen Geschichten. Und für den jungen Jay blieb das nicht länger nur das kindliche Amerika, das sich im Schlager mit Gewalt auf Erika reimte. Der Brite David Bowie sang: "This Is Not America", was immer er damit meinte.
Einmal, auch in den Achtzigern, war ich morgens zum Frühstück in einem New Yorker Restaurant der Kette Howard Johnson's. Obstsalat und Eier mit Speck. Als ich aufstand und gehen wollte, rief hinter mir einer durchs Lokal: "Joe!" Ich blieb nicht stehen, schließlich hieß in New York jeder Zweite so. Aber dann hörte ich die Stimme noch einmal, wesentlich lauter. Als ich mich umdrehte, erkannte ich trotz meines unscharfen Frühstücksblicks einen Kumpel aus dem Nachbardorf meiner Jugend. Er erzählte mir, dass er schon eine ganze Weile bei Howard Johnson's als Koch arbeite. Das beruhigte mich einigermaßen: Womöglich war New York City doch nicht ganz so groß, wie ich als Jay gedacht hatte. Aber vieles in dieser Stadt war lehrreich, und es gab noch kein Youtube.
2 Kommentare verfügbar
nesenbacher
vor 3 Wochenhttps://de.wikipedia.org/wiki/Kabinett_Trump_II
Schlimmer geht tatsächlich immer.
PS: Seit Dylan seine Rechte an den Konzern Universal Music verkauft hat, ist die letzte Illusion auch geplatzt.
Auch wenn dieser Song…