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Ausstellung "und jetzt!" in der Weißenhofgalerie

Architektur neu denken

Ausstellung "und jetzt!" in der Weißenhofgalerie: Architektur neu denken
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Klimawandel, Ressourcenverbrauch, Müllberge: Das Bauwesen muss sich ändern und ist doch so durchreglementiert, dass Veränderung kaum möglich erscheint. Junge Architekt:innen versuchen es trotzdem – eine Ausstellung in Stuttgart stellt die Ansätze mehrerer Büros vor.

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Seine Maximen verpackt Studio Malta in schlagwortartige Slogans: "Träumen – dialogische Ideenentwicklung" steht etwa an der Wand der Architekturgalerie am Weißenhof zwischen Fotos von Mitmachveranstaltungen, Bauklötzchen, Postkarten und Zeichnungen. Oder: "verstehen – kooperative Wissensproduktion", und nicht zuletzt: "feiern – Aneignung als Erfolgskriterium". So stellt sich das junge Stuttgarter Büro vor, das das soeben wieder abgebaute Containerdorf an der Wagenhalle geplant und die vorbildliche Bürgerbeteiligung zum Leonhardsviertel organisiert hat.

Studio Malta ist eines von fünf Architekturbüros, die die Weißenhofgalerie in ihrer aktuellen Ausstellung "und jetzt!" vorstellt – die anderen kommen aus Berlin und Hamburg. Sie alle haben sich erst vor Kurzem gegründet, aus dem Studium oder bestehenden Arbeitsverhältnissen heraus, Studio Malta vor sechs Jahren, andere erst vor wenigen Monaten. Und gemein ist allen, dass sie neue Wege gehen wollen: kooperativ und ressoucenschonend arbeiten. Darüber wird viel geredet, es passiert aber viel zu wenig. Passend dazu der Titel der von Lena Engelfried gemeinsam mit Hannah Noller und Christian Holl kuratierten Ausstellung: "Akute Positionen junger Büros zu Architektur und Planung."

Passieren müsste viel, auch was die bürokratische Durchreglementierung des Berufsstands betrifft. Kaum haben im Kontext-Gespräch Kuratorin Lena Engelfried und Jan-Timo Ort von Studio Malta angefangen zu erzählen, entspinnt sich schon eine lebhafte Diskussion über die neun sogenannten Leistungsphasen der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI). Für alle Nicht-Architekt:innen: Wer als vollwertiges Mitglied in die Architektenkammer eingetragen werden will, muss zwei Jahre Praxis mit Tätigkeiten in allen neun Leistungsphasen vorweisen können, von der Grundlagenermittlung über die Entwurfs- und Genehmigungsplanung bis zur Objektbetreuung.

Das ist an sich nicht verkehrt. Aber das gesamte Gebiet der Architektur steht vor enormen Herausforderungen. Das Bauwesen ist für mehr als die Hälfte der globalen klimaschädlichen Emissionen verantwortlich. Ressourcen werden verbraucht, die kaum noch vorhanden sind. Der Abriss von Gebäuden verursacht gigantische Schuttberge, die bald nicht mehr deponiert werden können. Um dem zu begegnen, gibt es längst Konzepte, die Stichworte sind bekannt: Kreislaufwirtschaft, Urban Mining und so weiter. Nur: Wie kommt man da hin?

Polycarbonara: weglassen, erhalten, probieren

"Als ich studiert habe", bekennt Laura Pfeiler vom Hamburger Büro Polycarbonara in der Ausstellungsbroschüre, "gab es kein einziges Bestandsprojekt, es gab nur Neubauten." Darauf die Frage: "Wie können junge Absolvent:innen ihren eigenen Weg finden, wenn sie nicht genau dem entsprechen, was sich bereits etabliert hat?" Pfeilers Antwort: die eigene Arbeit als "alternative Forschungs- und Lernplattform" begreifen. Anders gesagt: einfach machen. Und zwar gleich.

Laura Pfeiler und Max Leo Maurer haben schon im Studium angefangen, Dinge, die sie brauchten, kostengünstig selbst herzustellen, häufig aus vorgefundenen Materialien. Daraus ist ihr Büro Polycarbonara hervorgegangen. Als sie in Hamburg einen Arbeitsraum suchten, entschieden sie sich für einen Kiosk, den sie aber auch für Gäste, Nachbarn und Veranstaltungen öffnen wollten. Im vorderen Teil finden nun auf 21 Quadratmetern ein Schreibtisch, ein Esstisch, ein Hochbett, eine Küchenzeile und ein DJ-Pult Platz. Im hinteren Teil folgt ein kleinerer Rückzugsraum, im Keller eine Werkstatt für Arbeiten, die Lärm und Dreck machen.

Der Name Polycarbonara bezieht sich auf das italienische Spaghettigericht und auf den Werkstoff Polycarbonat, mit dem sich gute Wärmedämmwerte erzielen lassen und der gut recycelbar ist. Als Beispiel steht im Ausstellungsraum ein von Spanngurten zusammengehaltenes Bücherregal. Jederzeit demontierbar, lassen sich die Fachböden aus Polycarbonat wiederverwenden, im Ganzen oder auch geschreddert.

"Weglassen, reduzieren, erhalten, probieren …", deklinieren Pfeiler und Maurer an einem Postkartenständer ihre Entwurfsprinzipien durch. Aus der Erkenntnis heraus, dass es zahllose sanierungsbedürftige Einfamilienhäuser gibt, haben sie ein Buch mit drei möglichen Transformationsszenarien und eine Selbstbauanleitung verfasst. Sie sind zwar nur zu zweit, suchen sich aber für jedes Projekt geeignete Partner.

Into Stories: Jeder Bau hat Geschichten zu erzählen

"Die neue Praxis ist eine der Kollaboration und des Austauschs", verkündet die Ausstellung. Drei große grüne Kreise an der Wand symbolisieren Radien von 200, 400 und 800 Kilometern um die Weißenhofgalerie. Daran sind auf hellgrünen Zettelchen die Büros und Institutionen gepinnt, die das Netzwerk der Ausstellung bilden.

Die eigene Küche, kleinere An- und Umbauten, Dachaufstockungen: Mit solchen Projekten hätten wohl alle Architekt:innen einmal angefangen, meint Lena Engelfried. So auch Into Stories, das Büro von Romina Falk und Sophie Frommel in Berlin. Mitten in der Corona-Zeit haben sie sich selbstständig gemacht. Ein Wortspiel? Story bedeutet auf englisch auch Stockwerk, Etage. Die Stories in ihrem Büronamen sind die Geschichten, die jeder Bau, jedes Projekt, jede Veränderung zu erzählen hat. In der Ausstellung hängt ein langer Papierbogen mit 50 Grundsätzen: "Not Into – was wir nicht machen". Einen Wertekompass nennt Engelfried das.

Abriss wirklich nötig? Die Software von Orto checktꞌs

Ungewöhnlich und zukunftsweisend erscheint, was die erst im Juli gegründete fünfköpfige Orto GmbH betreibt. Kreislaufwirtschaft und Urban Mining, das hört sich ja gut an. Doch in der Praxis heißt es dann häufig: Der Bau ist marode, muss abgerissen werden. Und die darin verbauten Materialien seien nicht mehr zu gebrauchen. Aber stimmt das auch wirklich? Haben sich die Planer die Mühe gemacht, genau zu analysieren, welche Bestandteile doch einer neuen Verwertung zugänglich gemacht werden könnten?

Orto hat eine Software entwickelt, die erlaubt, den Gebäudebestand richtig und handhabbar zu erfassen. Das beginnt mit 3D-Scans, hört aber mit den Oberflächen noch lange nicht auf. Ähnlich wie beim Building Information Modeling (BIM), das Architekt:innen erlaubt, in ihren digitalen Plänen nicht nur die Bauformen darzustellen, sondern auch Materialien und technische Daten mit anzugeben, bietet die Orto-Software die Möglichkeit, umfassende Datensätze zum Gebäudebestand anzulegen.

Ein größeres Projekt, an dem sie das Verfahren bereits erprobt haben, ist ein fünfgeschossiges Lagergebäude der Berliner-Kindl-Brauerei, das von einer Genossenschaft gemeinwohlorientiert entwickelt wird. Die Genoss:innen wollen alles richtig machen. Doch sie brauchen dafür eine Entscheidungsgrundlage. Es gibt aber noch einen anderen Aspekt: Es entsteht mehr Transparenz. Allzu oft werden Gebäude schnell als baufällig bezeichnet, während hinter der Entscheidung für Abriss und Neubau in Wirklichkeit Renditeerwartungen stehen. Eine Analyse des Bestands kann Gegenargumente liefern.

Global denken, im Kleinen gestalten: forty five degrees

Alkistis Thomidou hat schon 2019 als Stipendiatin der Solitude-Akademie die Ideen entwickelt, die hinter ihrem Büro forty five degrees stehen. Gemeint ist der 45. Breitengrad, der vom französischen Bordeaux über Turin und Venedig in Italien auch durch die serbische Hauptstadt Belgrad und durch Simferopol, die Hauptstadt der Autonomen Republik Krim verläuft. Gegründet hat sie das Büro 2020 mit Berta Gutiérrez Casaos und Giulia Domeniconi. Alle drei kommen aus Ländern südlich des 45. Breitengrads, die von der Austeritätspolitik nach der Finanzkrise 2008 besonders hart betroffen waren: Griechenland, Italien und Spanien.

Sie gestalten im Kleinen, denken aber die Unterschiede, Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten auf globaler Ebene mit. Kritische Raumproduktion nennen sie das. Sie arbeiten mit Schüler:innen und haben mit zwei weiteren Büros in Oslo und Paris eine Publikation mit Handlungsempfehlungen herausgegeben, wie Jugendliche besser in Gestaltungsprozesse eingebunden werden können.

Daran arbeitet auch Studio Malta: Ein Forschungsprojekt zur "Planungskulturellen Bildung" fragt danach, wie Jugendlichen Wissen zu Planungsprozessen und Möglichkeiten der Partizipation vermitteln ließe. Auch Migrant:innen hat das Büro im Blick. "Wir stellen fest, dass Diversität, Migration, Migrationsgeschichte noch nicht in Planungsprozesse und wissenschaftliche Diskurse einfließen", meint die Stadtplanerin Aida Nejad. In Stuttgart hat fast die Hälfte der Bevölkerung – im Beamtendeutsch: – einen Migrationshintergrund. Die Bedürfnisse dieser Gruppe spielen in der Architektur und Stadtplanung aber keine Rolle.

Studio Malta: erst Lob, dann Stillstand

Studio Malta hat auf eigene Initiative, gefördert vom Kulturamt, mit der in Eritrea geborenen Künstlerin Weiny Fitui innerhalb des künstlerischen Forschungsprojekts "Stuttgart im öffentlichen Raum" untersucht, wie Migrant:innen den öffentlichen Raum in Stuttgart nutzen. Und bei dem Projekt "Zukunft Leonhardsvorstadt" sind die Architekt:innen, statt nur zur Partizipation einzuladen, aktiv auf die Menschen im Viertel zugegangen. Jan-Timo Ort lobt die Stadtverwaltung. Sie hätten volle Unterstützung erhalten, erklärt er, obwohl sie ihren Auftrag für ein Beteiligungsverfahren ziemlich frei interpretiert hätten. Ihr Konzept wurde vom Gemeinderat einstimmig bewilligt. Nur: Seitdem herrsche Stillstand. Statt eine Konzeptvergabe für den Umbau des Züblin-Parkhauses in die Wege zu leiten, hat die Stadt den Vertrag mit dem Betreiber verlängert. Ort weiß nicht, warum.

Hier liegt das Problem: Wegweisende Initiativen wie die der Stadtlücken am Österreichischen Platz hat die Stadt wiederholt ausgebremst. Die Folge: Junge Architekt:innen, die etwas anders machen wollen, verlassen die Stadt. Viele seiner Kommiliton:innen, erklärt Ort, leben inzwischen nicht mehr in Stuttgart. Kuratorin Lena Engelfried sagt, sie hätte sich schwergetan, in Stuttgart weitere für die Ausstellung geeignete Büros zu finden. Und auch Studio Malta hat inzwischen ein zweites Standbein in Berlin.

Die vier jungen Architekt:innen, die soeben einen städtebaulichen Wettbewerb in Sasbach am Kaiserstuhl gewonnen haben, werden ihren Weg machen. Aber die Stadt Stuttgart verschenkt ihr reichlich vorhandenes Potenzial, wenn sie mit kleinlichen Bedenken und bürokratischen Behinderungen kreative Ansätze und junge Architekt:innen aus der Stadt vertreibt.


Die Ausstellung in der Architekturgalerie am Weißenhof läuft bis 1. Dezember und ist dienstags bis freitags von 14 bis 18 Uhr, samstags und sonntags von 12 bis 18 Uhr geöffnet.

Am Freitag, dem 22. November von 15 bis 19 Uhr diskutieren die an der Ausstellung beteiligten Büros mit Vertreter:innen der Stuttgarter Kunstakademie über Lehre, Praxis und Berufsbild der Architekt:innen.

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2 Kommentare verfügbar

  • D.Chrobok
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Vor allem steht die Planung vor dem großen Fragezeichen "Vereinbarkeit mit dem Können des Handwerks" und damit, dass eine Sanierung von den Gewerken zu teuer angeboten wird. "Fixpreise" von Billighausanbietern klingen unschlagbar gut für junge Familien, die keine Zeit haben, um sich während der…
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