Wolfgang Grupp. Der Patriarch von Burladingen. Unternehmerlegende. Aushängeschild für die deutsche Leistungsgesellschaft. Gern gesehener Talkshowgast. Macher. Kaum jemand, der diesseits des Maultaschenäquators aufgewachsen ist, kennt den Textilwarenkönig von Trigema nicht. Seit gefühlt immer ist Grupp die exzentrische Personifizierung des schwäbischen Mantras "Schaffa, schaffa, Häusle baua", fliegt mit seinem Helikopter durch die Gegend und lässt einen Schimpansen mit Brille, Hemd und roter Krawatte seine T-Shirts in arschteuren Werbeclips vor der Tagesschau bewerben. Selbst wenn man ihn nicht mag, müsste man lügen, wenn man behaupten würde, dass er nicht unterhaltsam sei. Dass seine Lebensgeschichte noch nicht von irgendeinem Schlingensief-Schüler verfilmt wurde – Skandal! Dass er in Burladingen in den Achtzigern auch schon mal Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Trigema mit einem spendierten Vesper und CDU-Beitrittsformularen in eine CDU-Mitgliedschaft manipulierte, damit der Sohn eines früheren Prokuristen von Trigema CDU-Kandidat im sogenannten "Bananenwahlkreis" (wegen der geografischen Form) werden konnte – geschenkt! Mit extra gecharterten Bussen wurden die 120 Trigema-Angestellten und neuen CDU-Mitglieder damals zur Wahl des grupp'schen Wunsch-CDU-Kandidaten gekarrt, um sich mit 459 zu 416 Stimmen für Paul-Stefan Mauz zu entscheiden, den Grupp so auch in den Landtag befördern konnte. Affengeil. Wolfgang Grupp ist eben ein Macher und darüber redet er ganz offen in einer SWR-Doku.

Von all den Powersprüchen über Arbeitskultur, Hierarchie und Alltag, die Wolfgang Grupp in den vergangenen Jahrzehnten abgeliefert hatte, musste ich jetzt an einen ganz besonderen denken: "Wer ein großes Problem hat, ist selbst schuld beziehungsweise ein Versager. Denn jedes große Problem war einmal klein; hätte er es als kleines gelöst, hätte er kein großes." Ein Satz wie ein Fallbeil – über andere, vermeintlich Schwächere und nun auch über ihn selbst. Denn Wolfang Grupp, jahrzehntelang das Gesicht des deutschen Mittelstands, Verkörperung von Kontrolle, Pflicht und wirtschaftlicher Vernunft, hat vor zwei Wochen versucht, sich das Leben zu nehmen.
Und so geschmacklos es klingt: Das hat sein Gutes. Nicht weil ich Wolfgang Grupp den Tod wünsche. Sondern weil sein gescheiterter Suizidversuch offenbart, was seine ganze Tough-Guy-Performance aus der Zeit, in der angeblich alles besser war, schon immer gewesen ist: die Lebenslüge eines Mannes, der am selbst erschaffenen Image gescheitert ist. Grupps Selbstmordversuch ist der Zusammenbruch eines Lebens aus dem Märchenbuch der deutschen Leistungsgesellschaft: früh aufstehen, hart arbeiten, nie klagen, nie schwächeln, Geld verdienen, Geld verdienen, Geld verdienen. Der ewige Patriarch im Doppelreiher mit Einstecktuch war die fleischgewordene Mahnung an die Gesellschaft, sich bloß nicht über irgendetwas anderes als über Lohnarbeit und beruflichen Erfolg zu definieren. Homeoffice? Schwäche. Teilzeit? Unproduktiv. Psychische Belastung? Keine Kategorie.
Er hat's nicht verstanden
Und nun das! Der Hobby-Jäger ("Work-Life-Balance brauchen wir nicht"), der seine Frau 1986 bei der Auerhahnjagd in Österreich kennenlernte, wollte sich erschießen. Fast zwei Wochen lang wurde die Öffentlichkeit im Unklaren darüber gelassen, was mit Wolfgang Grupp passiert ist. Wer eins und eins zusammenzählen kann, wusste nach den kursierenden Stichworten "Jäger", "Waffen", "Schuss" gleich, was passiert war. Trotzdem brummten im Hause Grupp offenbar zehn Tage lange die Köpfe, wie man mit "dem Vorfall" jetzt am Schlauesten umgehen könnte, um weder dem verrentnerten Chef noch dem Unternehmen einen Imageschaden einzubrocken. Was folgte, war ein vergangene Woche – natürlich – zuerst in "Bild" veröffentlichter Brief. Und dieser Brief offenbart etwa nicht, wie "Bild" behauptet, "eine Botschaft, die zu Herzen geht", sondern eine Botschaft, die einem die Hände überm Kopf zusammenschlagen lässt ob der totalen Verblendung eines 83-jährigen Mannes, der selbst mit der eigenen Hand an der Waffe am Kopf noch dankbar für das ist, was ihn an diesen Punkt gebracht hat.
Wolfgang Grupp schreibt:
"Sehr verehrte Damen und Herren,
Seit Beginn vergangener Woche befinde ich mich im Krankenhaus. Für die zahlreichen Genesungswünsche und Nachrichten bedanke ich mich ganz herzlich. Leider kann ich mich erst jetzt selbst äußern. Mir geht es den Umständen entsprechend gut. Mein großer Dank gilt allen Ärzten, Rettungs- und Pflegekräften, die sich um mich kümmern. Ich bin im 84. Lebensjahr und leide an sogenannten Altersdepressionen. Da macht man sich auch Gedanken darüber, ob man überhaupt noch gebraucht wird. Ich habe deswegen auch versucht, mein Leben zu beenden. Es kann etwas länger dauern, bis ich wieder ganz gesund bin.
Ich habe versucht, mein ganzes Leben in den Dienst von trigema und den Kampf für die Interessen der Wirtschaft und des Mittelstands in Deutschland zu stellen. Ich weiß, dass ich oft unbequem war, aber ich bin dankbar für das, was ich erreichen und erleben durfte.
Mein großer Dank gilt meiner Frau Elisabeth und meinen Kindern Bonita und Wolfgang sowie allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Firma trigema. Ich bin mir sicher, dass meine Kinder trigema verantwortungsvoll in eine erfolgreiche und sichere Zukunft führen werden.Unsere Mitarbeiter, Kunden und unser ganzes Umfeld bitte ich darum, sie dabei zu unterstützen und ihnen ihr Vertrauen zu schenken. Darauf sollen meine Kinder sich nun konzentrieren können. Ich bin sehr stolz auf meine Frau und meine Kinder.
Ich bedauere sehr, was geschehen ist, und würde es gerne ungeschehen machen.
Mit freundlichen Grüßen und vielen Dank
Ihr Wolfgang Grupp sen."
Was in seinem Brief auffällt, ist das, was fehlt, aber zum Himmel schreit. Nämlich die Erkenntnis, dass genau das, wofür Grupp sein ganzes Leben stand, Teil, wenn nicht sogar Ursache seines Problems ist. Keine Abrechnung mit seinem "Kampf für die Interessen der Wirtschaft und des Mittelstands in Deutschland", keine Reflexion des selbstschädigenden Welt- und Selbstbilds, keine Frage danach, ob vielleicht das, was man so inbrünstig gepredigt und verteidigt hat, der Grund für die Selbstwahrnehmung ist, "überhaupt noch gebraucht" zu werden. Gerade aus der Sicht eines Kindes ein Faustschlag in die Magengrube: Natürlich wirst du gebraucht, du Vollidiot, du bist mein Vater! Zumindest in einer Vater-Kind-Beziehung, in der es jemals bedingungslos Liebe gegeben hat. Stattdessen: ein erneuter Appell an Leistung, Verantwortung, Zukunftssicherung. Dreimal geht es in dem kurzen Brief um die Firma. Als gälte es, selbst noch im Moment der größten persönlichen Krise das Unternehmen zu retten und das eigene Vermächtnis zu sichern, statt um das Menschsein. Selbst der eigene Tod wird zu einem Teil des Businessplans. Denn so richtig traut er seinen Kindern offenbar nicht zu, dass sie die Firma, die er ihnen 2024 übergab, richtig führen. Doch jetzt brauchen die Kinder ihren Vater nicht mehr. So fühlt sich Grupp Senior zumindest laut seines halben Abschiedsbriefes. Dass es im Hause Grupp jemals um irgendetwas anderes als um die Firma ging? Schwer vorstellbar.
Und deshalb ist es gut, dass Wolfgang Grupp senior diesen dramatischen Schrei nach Liebe inszeniert hat. Sicher, man hätte auch einfach mal miteinander über Gefühle reden können. Aber das war für Grupp offensichtlich nicht möglich. Weil es sein Vater schon nicht so mit ihm gemacht hat. Und der Vater seines Vaters wahrscheinlich auch nicht. Egal. 100 Jahre Firmengeschichte, zu deren Feier sogar Helene Fischer ein Ständchen sang. Nur das zählt. Und nun werden die Kinder sich noch mehr den Arsch aufreißen, um den an einer "sogenannten Altersdepression" erkrankten Papa stolz zu machen. Ein instrumenteller Terminus, den Grupp mit fast 84 Jahren anfasst wie mit einer Kneifzange. Aber irgendwas musste man der Öffentlichkeit ja erzählen. "Schrei nach Liebe" hätte wie ein Punksong geklungen. Also wurd's die mittlerweile gesellschaftlich bekannte "Alterdepression" eines Mannes, der nach einem Selbstmordversuch erklärt, dankbar für das zu sein, was er erreichen und erleben durfte. Oh Mann.
Der eigenen Ideologie zum Opfer gefallen
Trauriger geht's eigentlich kaum. Weil Grupps Worte die völlige Durchseuchung eines intelligenten Ichs durch ein ökonomisches Weltbild offenlegen, wie tödlich die Ideologie vom "immer nützlich sein müssen" in einen Menschen eingraviert ist. Wie tief der Glaube sitzt, dass die eigene Existenz nur dann legitim ist, wenn sie wirtschaftlich ist und Mehrwert erzeugt (der in Grupps Fall ja sogar in seine Tasche fließt). Und so kehrt sich der Satz "Wer ein großes Problem hat, ist ein Versager" gegen seinen Urheber. Grupp ist seiner eigenen Ideologie zum Opfer gefallen.
Und es ist gut, dass die Welt das sieht. Denn so lässt sich verstehen, dass das "Versagen" nicht im Einzelnen liegt – sondern die Kategorie eines Systems ist, das nur Menschenmaterial, keine Menschen kennt. Das wirklich Tragische an Wolfgang Grupps Selbstmordversuch ist, dass er nicht erkennen konnte, dass auch Scheitern dazugehört. Dass es okay ist, nicht mehr gebraucht zu werden. Dass man auch einfach nur da sein darf. Ohne Funktion, ohne Mehrwert, ohne Hintergedanken. Die kapitalistische Erzählung, der Grupp jahrzehntelang sein Gesicht gab, kennt diese Gnade aber nicht. Sie kennt nur "gebraucht oder nicht gebraucht werden", "Leistung oder Last". Und da ist es zwangsläufig, dass ein alternder Unternehmer sich irgendwann fragt, ob sein Leben noch Sinn hat.
Es ist gut, dass diese Fassade bröckelt. Nicht wegen der Person Grupp – sondern wegen dem, wofür er stand. Sein Zusammenbruch ist kein Einzelschicksal, sondern ein öffentlicher Spiegel. Gerade für Männer, deren Suizidrate in Deutschland dreimal höher ist als die von Frauen. Was Wolfgang Grupp in diesen Tagen durchlebt, ist das Ergebnis einer kranken Welt. Einer Gesellschaft, in der Lohnarbeit zur Identität, Daseinsberechtigung und Selbstlüge wird, durch die es sich selbst noch willfähriger ausbeuten lässt. Dass dieses Gerüst einstürzt, wenn der Beruf endet, die Kinder übernehmen, die Öffentlichkeit kein großes Interesse mehr an einem hat – das sagt weniger über den Menschen Grupp aus als über die Welt, die er mitgestaltet hat. Und über das Versäumnis, Probleme dann zu beseitigen, wenn sie noch "klein" sind. Doch hierzu fehlten ihm offenbar die nötigen emotionalen und sozialen Werkzeuge. Genau die "Softskills", die Männer wie Grupp verlachen, weil sie als "Schwäche" gelten. Wäre er schwach gewesen, hätte er stark sein können.
15 Kommentare verfügbar
Tia
vor 1 Stunde. . . sagt jemand, der bei Trigema gleich ums Eck wohnt,
und den die diversen Selbstmorde hier inzwischen nerven!!!
In Tübingen hat es kurz vor Grupp der beliebteste Mitbürger geschafft - mit 63!
„same same, but different“
Leistung im Job, beim Sport,…