Er könne gar nicht "unbefangen durch die Gegend gehen", bekannte Winfried Kretschmann einmal bei einem Waldspaziergang mit der Presse. Das war im März 2021 bei Sigmaringen, kurz vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg. Der amtierende Ministerpräsident, heute 77 Jahre alt, zog noch ein letztes Mal als Spitzenkandidat für die Grünen ins Rennen. Allerdings konnte der studierte Biologe zwei Wochen vor der Stimmabgabe nicht ausschließlich über Politik reden – zu groß war seine Begeisterung, als er einen scharlachroten Kelchbecherling entdeckte. Der Pilz sei "eine botanische Rarität", freute sich Kretschmann gegenüber den Damen und Herren von der Presse: "Wenn Sie den gesehen haben, dann ist der Tag gerettet."
An der Authentizität seiner Begeisterung für seltene Arten besteht kein Zweifel, weltweit dürften wohl nur wenige Regierungschefs vergleichbar fundierte Kenntnisse über die heimische Flora und Fauna vorweisen können. Um den grünen Ministerpräsidenten für dessen Einsatz für den Erhalt der Biodiversität zu würdigen, benannte die Entomologin Marina Moser 2023 eine neu entdeckte Wespenart nach ihm (Aphanogmus kretschmanni). Damit scheinen die Ausgangsbedingungen für den Erhalt biologischer Vielfalt eigentlich ideal: Eine grün-geführte Landesregierung mit einem fürs Thema begeisterten Oberhaupt in einer der reichsten Regionen der Welt – und dennoch weisen auch hier die Langzeitbeobachtungen einen alarmierend Trend auf.
Denn der Klimawandel bringt nicht nur Dürren und Fluten, er verändert längst Biotope und Habitate, schmälert die Artenvielfalt. So gilt inzwischen fast die Hälfte aller 199 Vogelarten, die in Baden-Württemberg brüten, als gefährdet. Selbst der früher weit verbreitete Kiebitz wird immer seltener gesichtet. Bei einer Untersuchung im Jahr 2023 konnten nur 227 Ruf-Reviere gefunden werden, in denen Rebhühner balzen. In den 1950er-Jahren waren es noch um die 50.000.
Die Natur verarmt
Diese Zahlen seien nur bedingt vergleichbar, betont Ulrich Maurer, Präsident der baden-württembergischen Landesanstalt für Umwelt. Denn die Erhebungsmethoden würden sich unterscheiden. Und dennoch zeigten die Befunde, "wie unsere Umwelt in den letzten Jahrzehnten verarmt ist". Festzustellen ist das Phänomen auch beim Schnorcheln in Thailand oder beim Tauchgang in Ägypten, wo Korallenriffe immer mehr zu kämpfen haben. Allerdings ist Europa der Kontinent, der sich im Zuge des Klimawandels am schnellsten erhitzt – mit spürbaren Folgen im deutschen Südwesten: 17 der 20 wärmsten Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1881 datieren nach der Jahrtausendwende, der "Jahrhundertsommer" von 2003 ist zwanzig Jahre später kaum noch ein Ausreißer.
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