Sie und von Bonin kennen die rasenden Gedanken, die keine Ruhe mehr lassen, den Tatendrang und die Ohnmachtsgefühle. "Eine Zeit lang hatte ich sogar Schuldgefühle beim Spaßhaben", verrät von Bonin. Ist denn Freude noch vertretbar, wenn künftigen Generationen eine verwüstete Erde hinterlassen wird? Zwei Jahre hat sie sich keinen Urlaub und keine Auszeit gegönnt. Doch heute denkt sie anders. "Es ist wichtig, auch gute Gefühle zuzulassen. Sonst wird es lähmend." Den Vollzeit-Einsatz auf Hochtouren hält auf Dauer niemand durch. Also ist es nötig, sagt Toussaint-Teachout, sich auch mal Aktivismus-Pausen zu verordnen und sich ein paar "weniger politische Inseln" zu suchen. Für sie sind das Yoga und Tanz.
Die Krise ist kein individuelles Problem
Zur Burnout-Prävention in Jugendjahren trifft sich die Stuttgarter Gruppe – wie auch andere – regelmäßig mit den Psychologists for Future. Diese verweisen auf ihrer Website darauf, dass Sorgen und Ängste "für einen angemessenen Umgang mit der Krise vor allem etwas Gutes" seien, denn "sie motivieren uns zum Eingreifen". Zunächst einmal sei die Furcht eine natürliche Schutzreaktion, ein Ausdruck des Überlebensinstinkts. "Erst wenn Besorgnis und Furcht überhandnehmen, ist die Entwicklung dysfunktionaler, lähmender Ängste im Sinne einer psychischen Erkrankung zu erwarten."
Die Wissenschaftler warnen allerdings eindringlich davor, bei Klimaangst und -depression allein das Individuum in den Blick zu nehmen: "Wenn nämlich die Angst vor den Auswirkungen der Klimakrise zunehmend pathologisiert wird, rückt eine zu überwindende Angst in den Fokus der Bemühungen." Die Krise würde somit als ein "individuelles Anpassungsproblem" erscheinen. "Dabei geht es eigentlich um eine globale Bedrohung, die nur gesellschaftlich-politisch überwindbar ist. Der Versuch der Pathologisierung kann auch als eine Strategie gesehen werden, gesellschaftliches Engagement für den Klimaschutz zu diffamieren und notwendige politische Entscheidungen zu verhindern."
Noch immer haftet der sichtbaren Verletzlichkeit ein Stigma an: Wer politisch ernst genommen werden will, so scheinen es die ungeschriebenen Gesetze des gesellschaftlichen Diskurses zu verlangen, muss Erfolg ausstrahlen und Stärke zeigen. Allerdings drängt die Frage, ob nicht ein fundamentaler Perspektivwechsel überfällig wäre: Wer im Zeitalter der vermeidbaren Krisen, zu denen neben der menschengemachten Erderhitzung auch Hungersnöte und Heimatverlust für Millionen von Menschen zählen, nicht gelegentlich gebeutelt ist vom Weltgeschehen, ist entweder abgestumpft oder uninformiert.
Kolja Schultheiß findet es jedenfalls bedenklich, wenn die Depression zur Volkskrankheit wird. Laut "Ärzteblatt" weist ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland "eine oder mehrere klinisch bedeutsame psychische Störungen auf". Bei dieser Häufigkeit vermutet Schultheiß strukturelle Ursachen. "Wenn mehr Menschen das Leben führen könnten, das sie gerne führen würden, kann ich mir nicht vorstellen, dass der Wert so hoch wäre."
Das böse K-Wort
Im Zuge seiner Therapie hat er viele Leute kennengelernt – längst nicht alle leiden (nur) am Klima – und Freundschaften geschlossen, zu denen es ansonsten eher nicht gekommen wäre. Darunter ist die Tochter eines Immobilienmoguls, die ihm angeboten hat, mal im Privatjet der Familie mitzureisen. Aber Schultheiß ist noch nie geflogen und möchte auch nicht damit anfangen. Als er einmal einem RTL-Reporter von seiner lebenslangen Abstinenz erzählt hat, schien dieser schwer enttäuscht zu sein. Vielleicht liegt es daran, dass Schultheiß noch nie auf RTL zu sehen war.
Der Umgang mancher Medien mit der Klimakrise und den Gegenprotesten verwundert den Jugendlichen. "Ich frage mich zwar, wie das sein kann, aber oft habe ich den Eindruck, dass das Ausmaß der Katastrophe von vielen noch gar nicht erkannt wurde." Da passt es ins Bild, wenn Konservative und Wirtschaftsliberale es als Wahlwerbung für die Grünen empfinden, wenn der WDR ernsthaft über die Klimakrise berichtet. Bei Befragungen, berichtet Schultheiß, habe es sich manchmal so angefühlt, als wollten ihm Reporterinnen und Reporter gleich den Kopf tätscheln. Nach dem Motto: Schaut her, wie süß dieser junge und wütende Protest doch ist! In vielen Beiträgen habe der Schwerpunkt schlussendlich darauf gelegen, wie vertretbar es denn sei, für Demonstrationen die Schule zu schwänzen – und weniger auf der Botschaft, dass es radikale Umwälzungen braucht, wenn das Pariser Klimaschutzabkommen mehr als ein Scherz sein soll.
Insgesamt hat Schultheiß den Eindruck, dass Systemfragen in vielen Publikationen eher nicht so gerne gestellt werden. Obwohl eine Mehrheit der Deutschen laut Umfragen der Ansicht ist, dass der Kapitalismus mehr schadet als nützt, erscheine es offenbar als unseriös oder ahnungslos, die Marktwirtschaft zu hinterfragen. "Aber das Gesundbeten katastrophaler Zustände zeugt offenbar von Kompetenz", spottet er. Grundsatzkritik würde allenfalls als Randerscheinung auftauchen – "was teils auch auf Aktivisti abfärbt, die dann viel herumdrucksen und weniger verfängliche Formulierungen suchen, vielleicht von einer ökologischen Transformation reden, aber das böse K-Wort tunlichst vermeiden." Wenn es aber Jahrzehnte lang nicht gelinge, die globalen Emissionen zu reduzieren und das Artensterben einzudämmen, "obwohl politisch andauernd die Absicht bekundet wird, das in Zukunft besser zu machen, ist doch die naheliegende und logische Schlussfolgerung, dass unser System nicht funktionsfähig ist".
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SSV Ulm 1846 - aweng asozial, aber immer antifaschistisch!
am 06.03.2021Und die AfD so: Klimawandel gibt es nicht! Deutschland zuerst! (frei nach…