In Baden-Württemberg ist beispielsweise der Landtagsabgeordnete und ehemalige AfD-Mann Heinrich Fiechtner als dauerpräsente Figur in der "Querdenken"-Bewegung aktiv, in der unter anderem Mordphantasien gegenüber kritischen Journalisten zirkulieren. Der praktizerende Arzt, der für seine Eklats berüchtigt ist, musste mehrmals von der Polizei aus dem Plenarsaal des Landtags getragen werden, nachdem er wegen Provokationen und Hetzreden von den Sitzungen ausgeschlossen worden ist. In Fiechtners Telegram-Gruppe wurden "Einzeltäter" herbeigesehnt, die "jedem Regierungspolitiker eine Kugel" verpassen sollen, während der Abgeordnete selbst den rechen Parlamentssturm in Washington als "Showveranstaltung" verharmloste: "Wenn der Bogen überspannt wird, müssen die Bürger die Gesetzesbrecher, die Verfassungsbrecher vertreiben." Und da sei es seiner Meinung nach angebracht, "vielleicht ernst zu machen". Zudem beschimpft der rechtsradikale Verschwörundsideologe seine politischen Gegner mit Vorliebe als Nazis, etwa indem er Impfbefürworter als "Jünger Josef Mengeles" bezeichnet.
Solche haarsträubenden Äußerungen, die mit einer Verharmlosung der NS-Terrorherrschaft einhergehen, sind als Basis einer Diskussion nicht ernst zu nehmen – im Gegensatz zum sozialen Phänomen des massenhaften Wahns, der in Krisenzeiten zuverlässig um sich greift und mit seinen gesellschaftlichen Ursachen in Zusammenhang gebracht werden muss.
Dabei handelt es sich längst um einen Gemeinplatz, dass ausgesuchte Sündenböcke, wie absurd die Vorwürfe gegen sie im Einzelnen auch klingen mögen, für krisenhafte Entwicklungen verantwortlich gemacht werden: Der Jude George Soros finanziere und plane die globalen Flüchtlingsströme, der Milliardär Bill Gates steuere die Conona-Pandemie, eine mächtige Klimaverschwörung erfinde aus Profitgier die menschengemachte Erderwärmung – so einfach lassen sich Krisentendenzen, denen reale Probleme im Spätkapitalismus zugrunde liegen, per Verschwörungsnarrativ auf eingebildete Generalbösewichter abladen. Die übliche Frage nach dem Cui Bono ("Wem nützt das?") ist dabei auch in Teilen der politischen Linken präsent, wo sie einen Anknüpfungspunkt an den neurechten Massenwahn darstellt.
Reale Verschwörungen als Vorlagen für Projektionen
Was aber lässt so viele Menschen, nicht nur während der Corona-Pandemie, aber insbesondere in Krisenschüben, an eine allmächtige Gruppe glauben, die hinter den Kulissen die Strippen von Politik, Wirtschaft oder Medien zöge, um die Geschicke der Welt zu lenken?
Ein Merkmal, das die verschiedenen Ausformungen des Verschwörungswahns gemeinsam haben, ist die Projektion: Dabei überträgt das Verschwörungsdenken konkret erlittene Herrschaftserfahrungen auf das große Ganze der Gesellschaft. Denn seit Herausbildung der Herrschaft des Menschen über den Menschen gibt es durchaus reale Verschwörungen. Sie bilden eine der ältesten Techniken zur Eroberung und Aufrechterhaltung von Macht. Sei es beim intriganten Karrierekampf im Politikbetrieb oder bei dubiosen Geschäftspraktiken im Streben um größtmögliche Rendite oder sogar auf staatlicher Ebene, wie etwa die geopolitischen Machenschaften im Watergate-Skandal zeigen (deswegen sind übrigens gerade im populistischen Politspektrum Verschwörungsideologien so populär: man projiziert seine eigenen Erlebnisse beim Postengeschacher auf die Gesamtgesellschaft). All das sind Alltagserfahrungen, auf denen Verschwörungsideologien aufbauen können.
Bei der Übertragung dieser Verschwörungspraktiken auf das Weltsystem Kapitalismus erscheint dieses nun fälschlicherweise, als wäre es wie ein Unternehmen, ein Staat oder eine Partei strukturiert – wo es überall konkrete Interessen und Akteure gibt, wie auch konkrete Schuldige, die es zu verantworten haben, wenn etwas schiefläuft. Ein Krisenschub, eine Pandemie und letztlich jede weitere, wie auch immer geartete Verfehlung im Weltgeschehen muss in dieser Denkweise folglich von irgendwelchen Bösewichten verursacht worden sein, solange die zugrunde liegende Irrationalität des Systems ausgeblendet wird.
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Joachim Petrick
am 22.01.2021