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Dannenröder Forst

Ein Hoch auf den Ungehorsam

Dannenröder Forst: Ein Hoch auf den Ungehorsam
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 Fotos: Jens Volle 

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Politik braucht Druck, sonst kommt sie auf dumme Ideen – etwa Wälder plattzumachen, damit der freie Bürger Gas geben kann. Zum Glück regt sich dagegen Protest wie im Dannenröder Forst. Doch statt zivilem Ungehorsam zuzujubeln, unterstellen viele Medien eine ominöse Lust an Gewalt.

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Das Charakteristische an kleineren deutschen Städten ist, dass sie alle nach demselben Prinzip aufgebaut sind. Wo bei der Gestaltung von Ortschaft und Umland die Prioritäten lagen und größtenteils noch immer liegen, zeigt sich in und um das hessische Stadtallendorf ganz mustergültig. Wer auf dem Weg zum Bahnhof – er soll 2010 angeblich modernisiert worden sein – die Niederkleiner Straße entlangschlendert, kann nicht nur das Autohaus Schwalm und den Car Wash Service Stadtallendorf bestaunen, sondern spaziert in wenigen Minuten an vier Tankstellen vorbei. Trotzdem ist der Ort seinem Landkreis bei der Verkehrswende voraus: Neben Marburg ist die Stadt mit ihren knapp 22.000 Einwohnern die einzige hier, in der kommunale Buslinien zum Einsatz kommen. Jeweils einmal pro Stunde und mit vielen Ausnahmen am Wochenende.

Um das Autofahren in der Region noch attraktiver zu gestalten, ist Großes geplant: An die A49, die derzeit ausgebaut wird, soll Stadtallendorf über die B454 zwei Anschlüsse erhalten, einen im Norden und einen im Süden. Ein Wermutstropfen: Im benachbarten Dannenrod, nur ein paar Kilometer weiter, muss es für mehr Autobahn weniger Wald geben. "Ich habe nie daran gezweifelt, dass das ein wichtiges und sinnvolles Infrastrukturprojekt für die Region ist", verriet Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) kürzlich in der "FAZ" – und zu befürchten steht, dass er das ernst meint. Vermutlich hat er aber recht, wenn er sagt: "Dieser Lückenschluss wurde von vielen in der Region lange herbeigesehnt."

Gewalt im Wald

Wie aus Polizeikreisen zu erfahren ist, habe es bei den Einsätzen im Dannenröder Forst eine mittlere zweistellige Zahl von verletzten Beamten gegeben. Nicht alle davon seien durch Fremdeinwirkung zu Schaden gekommen, teilweise handle es sich Arbeitsunfälle – etwa weil Einsatzkräfte bei der Begehung des unwegsamen Geländes umgeknickt sind. Auf einer Pressekonferenz bilanzierte die Polizei, dass "vier tätliche Angriffe auf Polizeibeamte" registriert worden seien. 

Gegen einen Unbekannten wird aktuell wegen des Verdachts des versuchten Totschlags ermittelt. Er soll von mehreren Zeugen dabei beobachtet worden sein, das Halteseil einer Konstruktion durchgeschnitten zu haben, unter der sich Polizisten und ein Baggerfahrer befanden. Verletzt wurde niemand.

Die Aktivistenseite beklagt neben Pfefferspray- und Schlagstockeinsätzen den Gebrauch von Elektroschockern gegen Baumhausbesetzer in 20 Metern Höhe. Zudem sei die Polizei für zwei durchgetrennte Sicherungsseile verantwortlich, sodass Aktivistinnen metertief abstürzten und sich schwere Verletzungen zuzogen. In einem Fall ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen einen Beamten. Hinweise auf eine vorsätzliche Tat gebe es nicht. (min)

Damit eine Lücke schließbar wird, muss zunächst eine Schneise geschlagen werden. Vertraglich festgehalten ist die Rodung von 27 Hektar Wald. Naturgemäß ruft ein solches Vorhaben Protest auf den Plan. Ebenfalls entspricht es der Tradition, dass dort, wo sich Menschen für den Umweltschutz einsetzen, Springers Zeitungen ein paar gut gemeinte Ratschläge parat haben. Selten aber kristallisiert sich der Idealtypus reaktionärer Gelehrsamkeit so rein heraus wie in einem aktuellen Kommentar für die "Welt". Denn "ihr Ziel kann man – je nach Blickwinkel – durchaus ehrenwert finden", schreibt dort ein Curd Wunderlich über "junge Klimaaktivisten, die alles der Einhaltung des Pariser Klimaabkommens unterordnen wollen". Ihre Methoden erscheinen ihm "jedoch immer zweifelhafter" – mit "offensichtlich krimineller Energie" und tolerierten "Gewaltexzessen". Was fehlt noch auf der Strichliste? Der Hinweis: "Idealismus ist wichtig und muss von gemäßigten politischen Kräften ausgehalten werden. Fanatismus aber nicht."

Die am Protest Beteiligten könnten Teilaussagen unterschreiben. Denn tatsächlich ist der Fanatismus unerträglich, angesichts einer eskalierenden Klimakrise mit sich jährlich überbietenden Allzeitrekorden bei den freigesetzten Treibhausgasen einen artenreichen Forst zugunsten des individualisierten Straßenverkehrs niederzuholzen. Allerdings sehen nur wenige der Umweltschutz-Aktivisti ihren Antrieb in krimineller Energie; sie berufen sich zumeist auf das Konzept des zivilen Ungehorsams, der dem bürgerlichen Parteienspektrum Bauchschmerzen bereitet, weil er nur per Grenzüberschreitung funktioniert.

Moralisch keine Steuern zahlen

Dabei müsste der Mensch, der den Begriff "ziviler Ungehorsam" geprägt hat, auch einem Christian Lindner von Grund auf sympathisch sein: Weil er weder die Sklaverei noch den Mexiko-Krieg mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, weigerte sich der US-amerikanische Philosoph Henry David Thoreau im Jahre 1846, seine Steuern zu zahlen. Die logische Konsequenz: Er landete im Knast.

Vom Freiheitsentzug ließ sich der Rebell allerdings nicht bekehren, im Gegenteil: Mit seinem drei Jahre später erschienenen Essay "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" stachelte er potenzielle Nachahmer auf: "Wenn das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz. Mach' dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten."

Doch wie bei allem, was mit der Moral zusammenhängt, sind objektive Maßstäbe unmöglich. Wie viel Grenzüberschreitung angebracht ist, um gegen ungerechtes Recht anzukämpfen, ist eine so komplexe Streitfrage, dass die philosophischen Betrachtungen dazu Bibliotheken füllen. Ist jeder Rechtsbruch kategorisch abzulehnen? Darf zur Beseitigung staatlichen Unrechts Gewalt angewendet werden? Welches Maß an Widerstand ist verhältnismäßig?

Hannah Arendt antwortet darauf ganz anders als Immanuel Kant, und Sokrates vertritt nicht den gleichen Standpunkt wie Jana aus Kassel. Auch Winfried Kretschmann steuert einen Denkanstoß zum Thema bei: Einmal die Schule zu schwänzen, klärte der Spitzengrüne im April 2019 die streikenden Kids von Fridays for Future auf, das falle noch unter zivilen Ungehorsam. Doch dürfe daraus keine Dauerveranstaltung werden: "Sonst sucht sich zum Schluss jeder sein Thema aus, das er dann irgendwie moralisch auflädt."

Die Frage nach der Begründung ist in der Tat eine wichtige. Im autoritären Verbrecherregime lässt sich der radikale Protest gegen die herrschenden Tyrannen besser rechtfertigen als im demokratischen Rechtsstaat, dessen politischer Kurs durch Wahlen und Mehrheiten legitimiert ist.

Wohin ausweichen?

Allerdings billigt es eine liberale Rechtsphilosophie, in deren Geiste das Grundgesetz entstanden ist, Individuen zu, sich einzelnen Gesetzen und Normen zu widersetzen – auch vor dem Hintergrund der deutschen Vergangenheit mit den schlimmsten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte. Einerseits ist eine behütete Rechtsordnung zwar zwingende Voraussetzung für staatliches Handeln. Andererseits wäre es unverhältnismäßig, von allen Bürgerinnen und Bürgern eine komplette Unterwerfung zu verlangen. Denn sobald ein Gesetz oder eine Regel mit dem eigenen Gewissen unvereinbar ist und sich eine Person damit nicht arrangieren kann, bliebe ansonsten nur eine Option: Den Geltungsbereich der Rechtsordnung – also das Staatsgebiet – zu verlassen. Wobei unklar bleibt, ob man anderswo aufgenommen würde. 

Im konkreten Fall ist die Frage, wohin man denn gehen soll, wenn's einem hier nicht gefällt, noch gravierender: Denn die Klimakrise ist ein riesiges Problem für den gesamten Globus, mit potenziell letalen Folgen für die Spezies Mensch – es ist also schlechterdings unmöglich, sich ihr zu entziehen. Aktivismus für den politisch vernachlässigten Erhalt unserer Lebensgrundlagen ist eher keine Nebensache, die nun "irgendwie moralisch aufgeladen" wird – vielmehr erscheint es hochgradig asozial, der Autoindustrie Vorrang einzuräumen.

Weil das Motiv selbst also schlecht angegriffen werden kann, wird von den Apologeten der Umweltzerstörung kurzerhand bestritten, dass es der tatsächliche Antrieb sei. "Viele fragen sich, wie viel von dem Protest der ernsthaften Sorge um den Erhalt der Natur entspringt und wie groß der Anteil der Krawallaktivisten ist", liefert die "FAZ" als Steilvorlage im bereits erwähnten Interview mit Minister Beuth. Der verwandelt gekonnt und zweifelt, ob es sich bei "nicht wenigen" überhaupt "um Umweltaktivisten handelt". Das entspricht der Blattlinie: "Polizeihasser sind keine Naturschützer", kommentierte dort Philip Eppelsheim stellvertretend für die Polizeifreunde und unterstellte den Protestierenden: "Worum es geht, ist der Spaß am Widerstand, am Kampf und letzten Endes auch an der Gewalt."

Und da ist nun der Punkt erreicht, an dem es etwas albern wird. Die vielfach kolportierte Erzählung, wonach es "Krawallaktivisten" überall dort, wo sie mit der Staatsmacht aneinandergeraten, allein um ausgelebte Zerstörungslust gehe, ist, was ihre analytische Tiefe betrifft, enorm einfältig. Menschen, die es wohlwissend in Kauf nehmen, für ihre Aktionen potenziell mehrere Jahre im Knast zu landen, die sich in ihrer Freizeit früh morgens aus dem Bett quälen und stundenlange Fahrten auf sich nehmen, um sich bei eisigen Temperaturen von Wasserwerfern beregnen zu lassen, machen das nicht, weil sie von ihren Motiven überzeugt sind, sondern weil sie Gewalt so extrem geil finden? Come on! Wer so viel Freude daran hat, Menschen zu verletzen, landet eher bei Mixed Martial Arts, einer Hooligan-Gang oder dem bayerischen Unterstützungskommando

Schäuble for Future

"Ich hoffe sehr, dass wir begreifen, dass die Pandemie, so schlimm sie auch ist, nicht unser größtes Problem ist. Das ist der Klimawandel, der Verlust an Artenvielfalt." [Wolfgang Schäuble in der FAZ, 5.12.2020]

Warum er keine Alternative dazu habe als die Autobahn durch den Wald zu bauen, versucht Hessens grüner Verkehrsminister mit dem Recht zu begründen. Er halte sich an die Gesetze, sagt Tarek al-Wazir in der taz: "Ich bin nicht Donald Trump." Gut geframed, Löwe!

Dabei ist es bizarres Herumgeblödel so zu tun, als würden in der Politik keine Verträge gebrochen – es taugt aber regelmäßig als Vorwand, wenn das eigene Duckmäusertum zur Tugend verklärt werden muss.

In einem Gastbeitrag für den "Spiegel" haben die Klima- und Menschenrechtsaktivistinnen Carola Rackete und Luisa Neubauer – letztere war am vergangenen Wochenende mit dabei im Dannenröder Forst, Barrikaden bauen – plausibel begründet, warum es Protest braucht, wenn ganz legal die menschlichen Lebensgrundlagen zerstört werden. Und sie haben darauf hingewiesen, dass "wir den globalen ökologischen Zusammenbruch schon längst vertraglich besiegelt" haben. Es stellt sich also nicht die Frage, ob Verträge gebrochen werden – sondern welche.

Denn auch das Pariser Klimaschutzabkommen sollte eigentlich eine bindende Wirkung haben. Nach fünf Jahren fällt die Zwischenbilanz aber extrem ernüchternd aus. Es scheint überfällig, nicht mehr an die Moral der Menschen, sondern ihren Überlebensinstinkt zu appellieren, wie sich allwöchentlich überschlagende Katastrophenmeldungen verdeutlichen. Dabei sind nicht nur die jüngsten Hiobsbotschaften von Gewicht, etwa dass sich Teile der Arktis diesen November im Vergleich zum Vorjahr um 14 Grad erwärmt haben. Besonders exemplarisch für den verdrängenden Umgang mit einer sich abzeichnenden Katastrophe ist eine von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbeachtete Datenanalyse, die vergangenen Oktober in den "Scientific Reports" von "Nature" erschienen ist. Der wissenschaftliche Beitrag rechnet der Menschheit eine perspektivische Wahrscheinlichkeit von weniger als zehn Prozent aus, ohne "irreversiblen Zusammenbruch der Zivilisation" zu überleben – im optimistischsten Szenario. Als Hauptgrund machen die Autoren neben der allgemeinen Erderhitzung insbesondere die ungebremst voranschreitende Entwaldung und das damit verbundende Artensterben verantwortlich. Doch hat es das Thema in die "Tagesschau" geschafft?

Am schlimmsten für die grüne Lunge des Planeten ist dabei der in Brasilien regierende Faschist, der den Regenwald verheizt. Dass aber auch die in Deutschland beheimateten Grünen dabei mitmachen, einen artenreichen Forst zugunsten des Autoverkehrs niederzuholzen und den Protest dagegen unsanft aus dem Weg räumen lassen, verdeutlicht, dass die bedeutendste politische Bewegung der Gegenwart auch hierzulande keine ernstzunehmende parlamentarische Repräsentanz findet.

Weil es sich moralisch allerbestens begründen lässt, warum es gerecht wäre, nachfolgenden Generationen einen halbwegs bewohnbaren Planeten zu übergeben, die Politik aber bislang vor Maßnahmen zurückschreckt, die geeignet sind, dieses Ziel zu erreichen, ist zusätzlicher Druck sehr zu begrüßen. Tatsächlich sind nur wenige Szenarien vorstellbar, die Ungehorsam, Widerstand und das Brechen von Regeln eher legitimieren würden.


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3 Kommentare verfügbar

  • Peter Pan
    am 10.12.2020
    Antworten
    Sehr guter Beitrag! Danke Minh Schredle (Text) und Jens Volle (Fotos; Twitter: @fotografie_JV). "Ziviler Ungehorsam" ist eine in Deutschland leider immer noch unterentwickelte Protestform, die aber gerade in der Klimagerechtigkeitsbewegung an Bedeutung gewonnen hat. Waren es in den 80er-Jahren des…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 14 Stunden
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