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Pro-Familia-Chefin Gudrun Christ

"Antifeminismus ist die Vorhut"

Pro-Familia-Chefin Gudrun Christ: "Antifeminismus ist die Vorhut"
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Sie ist eine entschiedene Frauenrechtlerin und hat sich als Geschäftsführerin von Pro Familia Baden-Württemberg mehr als ein Jahrzehnt in die Politik eingemischt. Nun geht Gudrun Christ in Rente. Im Kontext-Interview berichtet sie vom Kulturkampf von rechts und wie sicher geglaubte Errungenschaften unter Druck kommen.

Frau Christ, aus der Idee, den Abbruch einer Schwangerschaft endlich zu entkriminalisieren, ist nichts geworden. Sexualpädagogische Angebote sind massiv unter Druck. Pro Familia Baden-Württemberg hat gerade seinen 60. Geburtstag begangen. Welche Gründe gibt es überhaupt, um ihn in zufriedener Stimmung zu feiern?

Gudrun Christ (65) kommt aus einem "winzigen Dorf im Odenwald", wie sie sagt. Nach der Ausbildung zur Erzieherin an der Katholischen Fachschule für Sozialpädagogik in Neckarsulm studierte sie in Esslingen und im Anschluss, bereits als Diplom-Sozialarbeiterin, Anfang der 1990er-Jahre berufsbegleitend Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Uni Tübingen. Sie war Referentin für Öffentlichkeitsarbeit bei Brot für die Welt und kam vor elf Jahren als Geschäftsführerin zu Pro Familia. Ihre dortige Nachfolgerin ist die Sozialökonomin Pia Riegger.  (jhw)

Pro Familia ist in den Kommunen Baden-Württembergs aus der Daseinsvorsorge nicht mehr wegzudenken. Das ist ein großer Erfolg. Wir haben eine breite Palette an Beratungsangeboten, Hilfen für junge Familien, Unterstützung bei allen Fragen rund um Sexualität und Partnerschaft, aber auch sexualpädagogische Angebote in Schulen, längst auch für Lehrer*innen und für Fachkräfte in Kitas. Wir haben sehr engagierte, qualifizierte und kreative multiprofessionelle Teams aus Sozial- und Sexualpädagog*innen, Ärztinnen, Psycholog*innen und sind in 26 Kommunen im Land mit Beratungsstellen vertreten.

Sie verwenden und sprechen das Sternchen.

Ja. Ich könnte auch sagen: selbstverständlich. Es hat etwas mit Sichtbarkeit unterschiedlicher Geschlechter zu tun. Wir verwenden es. Wem tut es weh? Wer hat einen Nachteil? Wenn jemand den Stern nicht benutzen will, benutzt er ihn eben nicht. Niemand ist gezwungen. Die Angriffe kommen immer nur aus einer Ecke.

Da sind wir mittendrin im Kulturkampf. Sie haben viel Erfahrung gesammelt im Inland und seit 2014 bei Pro Familia. Wie konnte es dazu kommen, dass gesellschaftliche Errungenschaften wieder derart unter Druck sind?

Wir leben in Zeiten großer Verunsicherung. Das hat mit globalen Krisen und Konflikten zu tun, die in kurzer Folgen nahe an unser Leben gerückt sind: Corona, weltweite große Fluchtbewegungen aufgrund von Kriegen, der russische Angriffskrieg, die Klimakrise. Aber viele Menschen verunsichert auch das Tempo von Veränderungen in der Gesellschaft, und das nutzen gut organisierte rechte Kräfte nicht nur im Netz aus, um gegen Aufklärung, gegen Geschlechtergerechtigkeit, gegen den Feminismus zu agitieren. Gleichstellung, aber auch geschlechtliche Vielfalt und Gleichberechtigung werden als Gender-Ideologie diffamiert und bekämpft. Dabei ist Antifeminismus immer die Vorhut für Radikalisierung. Und diese Diffamierung ist überhaupt nicht auf Geschlechterrollen beschränkt, sondern umfasst viele soziale Kategorien, wie sexuelle Orientierung oder Herkunft.

Mit welchen Auswirkungen im Alltag von Pro Familia?

Gerade diese Woche wurde einem Kindergarten in einer ländlichen Gemeinde, der einen Elternabend mit einer Mitarbeiterin von Pro Familia zum Thema psychosexuelle Entwicklung von Kindern durchführen wollte, der Raum im Rathaus gekündigt. Der Gemeinderat hat diesen Beschluss gefasst. In einer anderen ländlichen Gemeinde hat der Bürgermeister eine Fortbildung von Erzieherinnen mit einer ähnlichen Begründung untersagt. Solche Entwicklungen sind alarmierend. Da verrutscht etwas.

Mit welcher Begründung?

Das Thema sei zu politisch.

Und was steckt hinter dieser Begründung?

Angst vor Eltern. Die könnten Ärger machen. Angst vor Wähler*innen. Es baut sich eine Stimmung auf, die deutlich über Rechtsaußen und die AfD in die Mitte der Gesellschaft reicht. Nehmen Sie die Debatte um das Bundesverfassungsgericht.

Wie schauen Sie auf die vorläufige Nichtwahl von Frauke Brosius-Gersdorf?

Wirklich mit Entsetzen. Und zwar aus mehreren Gründen. Frauke Brosius-Gersdorf wurde auf üble Weise verunglimpft, nur weil sie findet, der Schwangerschaftsabbruch müsse in Teilen außerhalb des Strafrechts geregelt werden. Eine Haltung, die juristisch sehr gut begründet ist und mit der sie in der Mitte der Gesellschaft steht. Es ist erschreckend, dass daraus ein Kulturkampf gemacht wurde.

Es zeigt aber auch, dass die Gegner einer Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs keine wirklichen Argumente gegen eine Neuregelung haben und stattdessen mit Hetze und Verleumdung diesen Kulturkampf inszenieren. Brosius-Gersdorf war Mitglied der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin. Die war hochkarätig besetzt und hat nach einem Jahr ihren Bericht vorgelegt, der klare Empfehlungen zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs aussprach und einen Weg zur Entkriminalisierung aufzeigte. Der ist längst überfällig, auch aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtungen, die Deutschland eingegangen ist, zum Beispiel der UN-Frauenrechtskonvention. Der zuständige Ausschuss der Vereinten Nationen hat Deutschland wiederholt für die Regelung zum Schwangerschaftsabbruch kritisiert. Mit der Ampel schien endlich ein Durchbruch in Sicht.

Schien?

SPD, Grüne und FDP haben das Thema zu spät angepackt. Dabei war der Vorschlag der Kommission durchdacht und wissenschaftlich fundiert. Ich hatte aber den Eindruck, dass es den drei Parteien dann doch unangenehm war, dass er so eindeutig ausfiel, mit klaren Hinweisen für eine Entkriminalisierung. Zeit dafür wäre seit April 2024 durchaus gewesen. Dann gab es im Oktober einen Gesetzesentwurf aus der Zivilgesellschaft, der ebenfalls ignoriert wurde. Und als die Ampel zerbrach, brachten 300 Abgeordnete überparteilich einen Entwurf ein, der eine Fristenlösung in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft formulierte, bei Beibehaltung der Beratungspflicht. Das war eine Minimallösung und die ist trotzdem gescheitert. Das ist bitter, weil ein erschreckendes Frauenbild zutage tritt.

Inwiefern?

Es gibt keinen vergleichbaren Vorgang für Männer, dass sie so diskriminiert werden, dass ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung derart eingeschränkt wird. Ich denke, das Frauenbild ist von dem sehr alten Thema der Kontrolle der Fruchtbarkeit mitgeprägt. Der Ausgangspunkt ist bis heute, Frauen zu kontrollieren. Deshalb verunsichern Errungenschaften in der Gleichstellung Männer besonders, und unserem Eindruck nach vor allem junge Männer. Fakten sprechen eine eindeutige Sprache. Nach der Ipsos-Erhebung zum Weltfrauentag 2024 finden fünfzig Prozent der Bundesbürger*innen, dass in Deutschland schon genug für die Gleichstellung getan werde, unter Männern sind es aber 60 Prozent. 45 Prozent der Männer sind sogar der Meinung, durch zunehmende Gleichberechtigung würden Männer diskriminiert. Und ein nicht unerheblicher Anteil von jüngeren Männern sieht die Männlichkeit sogar durch Care-Arbeit bedroht. Schlechte Nachrichten.

Was muss sich also nach Ihrer langen Erfahrung im Umgang mit schwangeren Frauen in schwierigen Situationen ändern?

Zum einen die Haltung, denn jede Entscheidung, die eine ungewollt Schwangere vor dem Hintergrund ihrer sehr persönlichen Situation trifft, ist zu respektieren. Frauen treffen verantwortungsvolle Entscheidungen, die geltende Rechtslage erklärt sie aber für unmündig. Niemand aus dem Kreis der Abtreibungsgegner*innen kümmert sich um Frauen, wenn sie das Kind bekommen wollen. Wollen sie nicht, wird die Entscheidung politisiert. Zum anderen ist da die Frage nach dem Zugang zu Information und zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen. Es ist nach wie vor mühsam, Ärzt*innen zu finden, vor allem, wenn es um einen operativen Abbruch geht. Frauen müssen oft lange herumtelefonieren und immer öfter weit fahren, um einen Abbruch durchführen zu lassen. Da es kein Teil der Gesundheitsversorgung ist, ist die kassenärztliche Vereinigung nicht zuständig. Und das Land, das die Versorgung sicherstellen muss, erhebt selbst keine Daten. Wir fordern schon lange – zusammen mit den anderen Trägern der Schwangerenberatung – eine Datengrundlage. Das ist auch für die Bedarfsplanung wichtig. Der Schwangerschaftsabbruch muss Teil der Gesundheitsversorgung werden und von der Krankenkasse übernommen werden. Denn auch das ist eine Folge der Rechtswidrigkeit: Die Frauen müssen den Eingriff selbst bezahlen. Das Land erstattet die Kosten bei niedrigem Einkommen. Das bedeutet aber einen weiteren Gang, einen Antrag und eine weitere Offenbarung.

Da drängt sich die Frage auf, was sich überhaupt zum Positiven verändert hat in den inzwischen 14 Jahren grüngeführter Landesregierungen?

Inzwischen wird nicht mehr rigoros bestritten, dass es bei Schwangerschaftsabbrüchen ein Versorgungsproblem gibt. Und es ist in Baden-Württemberg in den letzten Jahren gelungen, das Thema Sexualität und Behinderung stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken und fachlich voranzubringen. Wir haben zwischen 2019 und 2024 zwei große Projekte zusammen mit der Lebenshilfe BW durchgeführt, die durch das Land gefördert wurden. Dabei sind neue Bildungsangebote und -materialien entstanden. Wir konnten Einrichtungen dabei unterstützen, sexualpädagogische Konzepte zu entwickeln – mit echter Beteiligung der Menschen mit Behinderungen. Aber leider finden wir kein Gehör für unsere Forderung, eine Regelförderung für solche Angebote zu schaffen. Die LGBTTIQ-Angebote sind ausgebaut worden. Das hat auch mit dem politischen Klima zu tun, es gibt seit 2015 einen Landesaktionsplan Akzeptanz und gleiche Rechte. Auch eine Familienförderstrategie wurde erarbeitet.

Die wartet noch auf ihre Umsetzung.

Stimmt. Die Landesmittel sind sehr viel begrenzter ausgefallen als notwendig, aber es sind immerhin Mittel vorgesehen. 2024 hat das Land eine Gleichstellungstrategie angestoßen, für die bislang noch keine Gelder in Sicht sind.

Wie wirkt sich fehlende Finanzierung aus?

Zum Beispiel auf die Angebote zu Sexualität und Behinderung. Seit die Projektmittel weggefallen sind, müssen wir die Angebote zurückfahren. Notwendig wären eigene Fördertöpfe, auch für sexuelle Bildung. Probleme werden immer mit Projekten angegangen. Das ist in Ordnung, wenn nach der Auswertung dauerhaft Mittel eingestellt würden. Genau daran fehlt es aber häufig.

Was wünschen Sie Pro Familia und damit allen, die auf einschlägige Unterstützung angewiesen sind, zum Geburtstag?

Wir wünschen uns, dass die Notwendigkeit sexueller Bildung in Gesellschaft und Politik besser wahrgenommen wird. Dabei geht es im Kern darum, Menschen zu befähigen, selbstbestimmt zu leben und zu lieben, eigene und Grenzen anderer zu achten und Akzeptanz für unterschiedliche Lebensmodelle zu entwickeln. Sexuelle Bildung fordert Gleichberechtigung und ist daher ein Moment der Demokratieförderung. Wir wünschen uns, dass Menschen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung ein selbstbestimmtes Leben leben können. Eine bunte Gesellschaft, die Vielfalt achtet und akzeptiert. Und wir wünschen uns, dass die Demokratie wehrhaft bleibt. Das erfordert auch eine starke Zivilgesellschaft. In konservativen Kreisen verschieben sich Haltungen weiter nach rechts, weil damit der Rechten das Wasser abgegraben werden soll. Aber das funktioniert nicht, das zeigt sich doch an den Wahlergebnissen. Demokratie- und menschenfeindlichen Positionen ist so nicht zu begegnen. Wir müssen doch gemeinsam gegenhalten und die Demokratie schützen.

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