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Gehsteigbelästigung und Paragraf 218

Kulturkampf

Gehsteigbelästigung und Paragraf 218: Kulturkampf
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Seit einem halben Jahrhundert hat sich unter Konservativen nicht viel im Umgang mit ungewollt schwangeren Frauen verändert. Gehsteigbelästigungen durch fanatische Abtreibungsgener:innen sollen sie weiter aushalten müssen.

Sie wiederholen ihre immer gleichen Litaneien, tragen Gebete vor, drangsalieren ungewollt Schwangere mit Plakaten oder rotbespritzten Plastikföten. Immer wieder stehen selbst ernannte Lebensschützer:innen in Frankfurt oder München, in Passau, Pforzheim oder Stuttgart vor Beratungsstellen oder Arztpraxen für Schwangerschaftsabbrüche.

Klaus Reinhardt, der Präsident der Bundesärztekammer, berichtet von "zum Teil radikal auftretenden Aktivisten", von Mails mit Beleidigungen und Bedrohungen. Nötig sei eine konsequentere Verfolgung, die strafrechtliche Ahndung, und man müsse Gehsteigbelästigungen vor Arztpraxen klar von politischen Demonstrationen abgrenzen – "denn das, was einige Kolleginnen und Kollegen erleben, geht über das Recht auf Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäußerung weit hinaus". Mit einem neuen Gesetzentwurf will die Ampel-Regierung nun gegen solche Aktionen vorgehen: In einem Umkreis von 100 Metern um die Beratungsstelle oder Arztpraxis dürfen Schwangere nicht von Abtreibungsgegner:innen belästigt werden. Bei Verstoß sind Bußgeldstrafen von bis zu 5.000 Euro fällig. Mitte April hat der Bundestag erstmals zum Gesetzentwurf beraten, zwei weitere Lesungen sind angesetzt, dann wird er über die geplante Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes abstimmen.

Die CDU spricht von Angriff auf die Meinungsfreiheit

Die Veranstalter:innen solcher Protestaktionen machen keinen Hehl aus ihren Absichten und erst recht nicht aus dem, was sie ihre Erfolge nennen: Seit 2007 seien weltweit 22.829 Kinder vor einer Abtreibung gerettet worden, "weil jemand vor der Klinik gebetet und die Mutter Ja zum Leben gesagt hat", erläuterte vor zwei Jahren Tomislav Čunović, der Geschäftsführer der US-amerikanischen Organisation "40 Days for Life International". 132 Abtreibungseinrichtungen in der Bundesrepublik hätten ihre Tätigkeit eingestellt und 247 Mitarbeiter von Abtreibungsorganisationen ihre Arbeit aufgegeben, "weil jemand für sie gebetet hat".

In der Ausschuss-Anhörung im Bundestag vor Pfingsten sprach Čunović von einem unverhältnismäßigen Eingriff in die Versammlungsfreiheit aufgrund einer "nicht erforderlichen Abstandsregelung" und sogar von einem "friedlichen Gebet", von einem in beiderseitigem Einverständnis stattfindenden Gespräch "zwischen einer schwangeren Frau und einer 'Gehsteigberaterin'", das weder aufdringlich noch nötigend sei. "Friedliche und christlich motivierte Lebensretter" sollten "unter Generalverdacht" gestellt werden.

Ein Professor, unter anderen, gab ihm – jedenfalls in Sachen Versammlungsfreiheit – recht. Steffen Augsberg von der Justus-Liebig-Universität Gießen nannte das Ganze überflüssig und zugleich übergriffig. Eine Professorin – unter anderen – widersprach: Sigrid Boysen (Universität der Bundeswehr Hamburg) mochte keinen unzulässigen Eingriff in die Meinungs- oder Versammlungsfreiheit erkennen. Es gehe nicht um einen Meinungskampf im öffentlichen Raum, sondern um das Ziel, die verpflichtende Beratungslösung zu schützen.

Viele Politikerinnen in der Union wollen Letzterem allerdings auch nicht folgen. Nina Warken, die Generalsekretärin der CDU Baden-Württemberg, sieht keinen wesentlichen Änderungsbedarf im gesetzlichen Schutz für ungewollt Schwangere. Wie viele Politiker:innen in der Union sieht auch Nina Warken, die Generalsekretärin der CDU Baden-Württemberg, keinen wesentlichen Änderungsbedarf im gesetzlichen Schutz für ungewollt Schwangere. Die 44-jährige Bundestagsabgeordnete gibt im Streit um den Gesetzentwurf der Bundesregierung digital zu Protokoll, dass der "unverhältnismäßig in die Versammlungs- und Meinungsfreiheit eingreift". Es gebe nur "einige wenige Fälle" von Gehsteigbelästigungen seitens Abtreibungsgegner:innen in Deutschland. Betroffene hätten ein Anrecht darauf, ihrer Pflicht zu einem Beratungsgespräch ohne unverhältnismäßige Angriffe nachzukommen. "Das heißt aber nicht, dass sie Meinungsäußerungen, die in einem angemessenen Rahmen getätigt werden, nicht aushalten müssen." Für die ungestörte Durchführung von Beratungsgesprächen brauche es dieses Gesetz nicht, behauptete die stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Silvia Breher, obwohl sie weiß, dass viele Städte an Gerichten – in Baden-Württemberg am Verwaltungsgerichtshof – mit ihren Vorgaben für solche Aufmärsche gescheitert sind. Gerade deshalb hatte sich die Ampel in Berlin in ihrem Koalitionsvertrag entschieden, neue einheitliche, rechtssichere Rahmenbedingungen mit Abstandsregelungen und Bußgeldern einzuführen.

Doch detaillierte Kenntnisse sind nicht vonnöten für weitreichende Drohungen seitens CDU und CSU sowie der AfD, auch bezüglich eines erst kürzlich präsentierten Kommissionsberichtes. Dieser empfiehlt die Fortentwicklung des Paragraphen 218 und die Legalisierung von Abtreibungen mindestens in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen. Dass der Bericht gleichzeitig zur laufenden Debatte über ein Verbot von Gehsteigbelästigungen veröffentlicht wurde, nehmen CDU, CSU und AfD als Anlass, die zwei ohnehin komplizierten Materien absichtlich zu vermengen. Laut Susanne Hierl (CSU) etwa dränge sich im geplanten Gehsteigbelästigungs-Verbot der Verdacht auf, "dass die Weichen für legalen Schwangerschaftsabbruch weiter gestellt werden sollen", berichtet die taz. Von einer "Agenda", Abtreibungen "in toto" zu legalisieren und "§ 218 in kleinen Schritten abzuschaffen", spricht die AfD-Bundestagsabgeordnete Beatrice von Storch.

Argumente wie vor 50 Jahren

Die frühere SPD-Landesvorsitzende und heutige Bundestagsabgeordnete aus dem Wahlkreis Aalen/Heidenheim Leni Breymaier nennt als Beispiel den Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer der Union Thorsten Frei. Weil "unglaublich ist", monierte sie im Parlament, "dass Sie, noch bevor Sie überhaupt draufgeschaut haben und sich angehört haben, wie das alles begründet wird, der Öffentlichkeit schon verkünden, dass Sie zum Bundesverfassungsgericht marschieren".

Die Union rüstet also schon mal vorsorglich auf im Kulturkampf – retour in die Zukunft. Zentrale Argumente klingen wie vor 50 Jahren, als im Bundestag hitzig über die Reform des § 218 hin zu einer Fristenregelung debattiert wurde. Auch das Frauenbild vieler hat sich nicht geändert. Der damalige CDU-Bundestagsabgeordnete und spätere Stuttgarter Justizminister Heinz Eyrich warnte in der Generaldebatte am 25. April 1974 davor, "es, was die sozialen Sicherungen betrifft, manchem so angenehm zu machen, dass er nicht mehr die Hemmung entwickelt, das nicht zu tun" und sprach vom "Gutdünken der Frau". Und dann führte er noch "die vielen Fälle" an, in denen der Mann auf den Abbruch dränge: "Wir können die Verantwortung dafür nicht übernehmen, dass die Frau noch weniger frei sein wird als bisher." Mit einer einstweiligen Verfügung verhinderte Baden-Württemberg beim Bundesverfassungsgericht damals das Inkrafttreten des Gesetzes und somit die Fristenregelung. Da konnte Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) noch so viele warnen vor der Auseinanderentwicklung von "Rechtsauftrag und sozialer Wirklichkeit" rund um den damals seit gut hundert Jahren geltenden Paragrafen 218. "Es gab viele dunkle Wege in die Illegalität, es gab viel Krankheit und Tod, die hätten vermieden werden können", sagte der Kanzler in der bis in die Morgenstunden des 26. April andauernden Debatte.

Baden-Württemberg ist erheblich unterversorgt

Fast zwei Jahre dauerte die politische und juristische Auseinandersetzung, 1976 kam die Indikationslösung, unter der Abtreibungen nur dann straffrei waren, wenn bestimmte Voraussetzungen vorlagen, beispielsweise nach einer Vergewaltigung. Mittlerweile sind Schwangerschaftsabbrüche lediglich innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen und nach erfolgtem Beratungsgespräch nicht strafbar. Breymaier wird nicht müde, daran zu erinnern, wie unterversorgt Baden-Württemberg mit seinen elf Millionen Einwohner:innen ist. Gerade mal 16 Kliniken und Praxen seien bekannt, die Abtreibungen durchführen. In Freiburg oder Ulm nicht eine einzige. "Die regionalen Unterschiede sind erheblich", weiß auch die Tübinger SPD-Abgeordnete Dorothea Kliche-Behnke, die eine Pflichtberatung befürwortet und die ersatzlose Streichung des Paragrafen 218. Sie verweist auf die vom damaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in Auftrag gegebene Studie "Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer – Angebote der Beratung und Versorgung" (ELSA), die den großen Nachholbedarf im Süden und insbesondere im Südwesten dokumentiert.

Danach kommt eine Beratungsstelle landesweit auf mehr als 24.000 Frauen. In Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Bremen ist das Verhältnis eins zu unter 6.000, in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Hamburg, Thüringen, Brandenburg und Schleswig-Holstein eins zu unter 10.000. Für ELSA haben mehrere Unis dreieinhalb Jahre geforscht, unter anderem auch zu den Anfeindungen, die ungewollt Schwangere erlebten. Fast ein Viertel der befragten Frauen berichtete von Bedrohungen und Angriffen, die Hälfte von Gehsteigbelästigungen – von wegen "einige wenige Fälle".

Justizministerin Marion Gentges (CDU) sieht zumindest die Gefahr, "dass der Spießrutenlauf vor den Praxen und Kliniken Betroffene abhält, sich beraten zu lassen". Doch es seien eben zwei Grundrechte gegeneinander abzuwägen und dieser Prozess sei schwierig: "Wir haben auf der einen Seite die Beratung zum Schutz der Frauen und ihrer ungeborenen Kinder und wir wollen, dass die Beratung in Anspruch genommen wird. Auf der anderen Seite ist die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit ein hohes Gut." Wer das zweite groß redet, redet das erste klein. Und dann würde weiterhin, befürchtet Gudrun Christ vom Verband für Sexualberatung Pro Familia, Versammlungsfreiheit über die Persönlichkeitsrechte Schwangerer gestellt. Demütigungen und Stigmatisierungen inklusive.

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