Dass die in der digitalen wie in der realen Welt gerne mit der "Demo für alle" vernetzten radikalen Gruppen gegenwärtig dennoch meinen, in der Offensive zu sein, hängt an zwei Ereignissen. Papst Franziskus hatte sich abweichend vom Predigttext Mitte Oktober bei einer Generalaudienz seine rhetorische Frage "Ist es richtig, ein menschliches Leben zu beseitigen, um ein Problem zu lösen?" selbst beantwortet: "Einen Menschen zu beseitigen, ist wie die Inanspruchnahme eines Auftragsmörders, um ein Problem zu lösen." Gudrun Christ, der baden-württembergischen Pro-Familia-Landesgeschäftsführerin, "fehlen eigentlich die Worte ob dieses unerträglichen Vergleichs". Es sei inakzeptabel, dass die Notlage von Frauen nicht ernstgenommen werde, betont Christ. Niemand könne sich anmaßen, für andere zu entscheiden. "Da wird eine Debatte aus den Siebzigerjahren geführt", erinnert sich die Diplom-Pädagogin. Die Gesellschaft sei schon weiter gewesen.
Richter zweifelt, ob Paragraf 219a verfassungsgemäß ist
Dieser Befund wird gestützt von einer Entscheidung des Landgerichts Gießen, das eine Verurteilung der Ärztin Kristina Hänel wegen illegaler Werbung für Abtreibungen bestätigte. Der Vorwurf: Die Medizinerin werbe auf ihrer Homepage für Schwangerschaftsabbrüche und verstoße damit gegen den Paragrafen 219a. Der untersage das öffentliche Anbieten, Ankündigen oder Anpreisen von Schwangerschaftsabbrüchen. Die Medizinerin gibt allerdings nicht auf, zumal der Gießener Richter selbst Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Paragrafen erkennen ließ. Geplant ist, die Frage dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen.
Was einerseits erfreuliche Klarheit im Sinne der Frauen schaffen könnte, andererseits aber kein gutes Licht auf die Gestaltungskraft der Großen Koalition wirft. Die SPD hat sich längst auf eine Abschaffung des Paragrafen festgelegt; selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel hat eine Regelung versprochen, um klar zwischen Information und Werbung zu unterscheiden. In einem<link https: www.sexuelle-selbstbestimmung.de _blank external-link-new-window> Offenen Brief an die Bundesregierung macht sich das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung – getragen von Verbänden wie der AWO über DGB-Frauen und Grüne bis Pro Familia – für eine Abschaffung stark: "Wir, die unterzeichnenden Organisationen, fordern, dass Ärztinnen und Ärzte ohne Risiko vor Strafverfolgung darüber informieren dürfen, wie, wo und durch wen straflose Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden (...). Frauen benötigen einen niedrigschwelligen Zugang zu sachlichen Informationen über medizinische Möglichkeiten und Implikationen eines Schwangerschaftsabbruchs sowie über Ärztinnen und Ärzte in erreichbarer Nähe, die ihn ausführen."
Damit ist ein weiteres drängendes Problem aufgeworfen. Denn "erreichbare Nähe" muss inzwischen dehnbar ausgelegt werden. Rund um den Bischofssitz Trier zum Beispiel sind mehr als hundert Kilometer gemeint. Auch in Südbaden ist die Nachfrage deutlich größer als das Angebot. "In der Gesamtheit", sagt Claudia Krüger, Sprecherin im baden-württembergischen Sozialministerium, "gibt es keine Versorgungs-Engpässe im Land". Die Versorgungslage könne "regional betrachtet jedoch unterschiedlich ausfallen". Die AOK geht landesweit von rund 500 Arztpraxen und von einer zweistelligen Zahl an Kliniken aus, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen oder vorgenommen haben.
Recherche mit Wirkung: Sozialministerium will Versorgungslage checken
Die Länder sind gesetzlich verpflichtet, nicht nur eine ausreichende Versorgung sicherzustellen, sondern sogar die Kontaktdaten jener GynäkologInnen vorzuhalten, die Abbrüche durchführen. Allein die Stadtstaaten Hamburg, Berlin und Bremen erfüllen diese Vorgaben. Immerhin hat die Kontext-Recherche Konsequenzen. "Wir nehmen dies zum Anlass", sagt Krüger, "bei allen Kassen und Kliniken mit gynäkologischer Abteilung eine Abfrage über die Anzahl der vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Außerdem wollen wir uns die Altersstruktur der Ärzte genauer anschauen, um zu antizipieren, wo eventuell in den kommenden Jahren Versorgungslücken entstehen können." Und Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) will einen Diskurs in der Ärzteschaft anstoßen. Denn es sei "in unser aller Interesse, eine ausreichende Zahl an Ärztinnen und Ärzten vorzuhalten, die betroffenen Frauen in dieser schwierigen Situation helfen".
Derweil wird in Pforzheim weiter demonstriert. Und im Netz finden sich immer neue Verbündete der radikalen AbtreibungsgegnerInnen. "Abtreibung geht uns alle an. Wegschauen macht das nicht besser!", schreibt etwa Christiane Lambrecht, bayerische Landesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben (CDL), "deswegen danke ich Papst Franziskus".
6 Kommentare verfügbar
Peter Balden
am 31.10.2018