Erinnern Sie sich noch an das seltsam peinliche Gespräch, zu dem uns unsere Eltern nötigten? Bei Youtube gibt es ein Video: "Parents explain the Birds and Bees." Mit 10 926 382 Aufrufen. Zu sehen sind Eltern im Aufklärungsgespräch mit ihren Kindern. Sie malen Vaginas auf Schautafeln, kichern und zeigen alle Anzeichen von Nervosität. Sie sehen sich Kindern gegenüber, die mit amüsantem Teilwissen, ungläubig staunenden Augen, skeptischen Blicken zuhören. Mir selbst blieb das "ernste Gespräch" mit meinen Eltern erspart. Sie haben es wohl solange rausgeschoben, bis ich die Antworten selbst gefunden hatte. Das Thema Sex war bei mir daheim tabu.
Pro familia ist ein Segen
Kein Wunder, wenn Kinder nicht mit ihren Eltern darüber reden wollen. Meist nur peinlich. Auch deshalb ist pro familia ein Segen. Ihre Mitarbeiter gehen mit den richtigen Unterrichtsmaterialien – jetzt verschrieen als "Sex-Koffer" – in die Schulen und informieren altersgerecht und umfassend. Sie wissen, was junge Menschen quält, treibt, verunsichert und überzeugen oft durch ihre Souveränität, Offenheit, Wertneutralität und Erfahrung. Ihr Anschauungsmaterial ist wichtig. Der taktile Umgang mit den Objekten unterstützt die reine Theorie durch Anfassen und Ausprobieren und beseitigt Unsicherheiten bei der Anwendung von Tampons, Kondomen und Ähnlichem.
Und nicht zu vergessen: Sie vermitteln auch, dass Sexualität kein Leistungssport ist. Sie machen den jungen Menschen Mut, sich individuell und in ihrem Tempo der Sexualität zuzuwenden – oder eben noch nicht. Die vorgegaukelten Idealbilder der Medien und Pornografie werden relativiert und als das gezeigt, was sie sind: kommerziell erzeugte Scheinwelten. Es wird aufgeklärt, dass diese eben nicht mit der eigentlichen Sexualität verwechselt werden sollen, die von Empfinden, Zuneigung, Liebe und Verantwortung getragen wird. Ich hätte mir in meiner Jugend solche Aufklärungsarbeit sehr gewünscht.
Nun bin ich trotzdem keine schwäbische Hausfrau geworden. Daran hat auch der Biolehrer mit dem Putzbesen nichts geändert. Auch wenn seine hygienisch einwandfreie, höchst effektive Darstellung des Gesamtzusammenhangs der pietistischischen Prägung hier im Ländle entsprochen hat. "Erst die Arbeit, dann das Vergnügen", ist doch die Devise. Angeblich erlebt ein echter Schwabe den Orgasmus befriedigend, wenn er rationell und zweckdienlich ist. Jetzedle. Sodele!
Damit könnte das Thema "Sexualerziehung heute" eigentlich befriedigend erledigt sein. Die Kinder finden selbst bei schlechter Aufklärung irgendwie ihren Weg – wenn da nicht die reaktionären Lautsprecher und autoritären Charaktere unterwegs wären.
Was ist los? Ein neuer Bildungsplan ist los, und seitdem wird sich richtig gesamtgesellschaftlich erregt. Über die Möglichkeit der kindlichen Erregung.
Ja so was: Bei Holzpenissen werden Kinder ohnmächtig
Wer hier lange zuhört, dem schwinden wahrlich die Sinne. Abstruse Ängste werden auf die Straße getragen: Durch entfesselte, komplett enttabuisierte "Sexualpädagogen" kommt es zu Übergriffen auf unschuldige Kinder. Familie und Geschlechtsidentitäten werden abgeschafft und Kindergartenkinder zum Onanieren angeleitet. Wir erfahren, dass sensible Kinder angesichts der Holzpenisse im "Sex-Koffer" ohnmächtig geworden seien. Das staatlich verordnete Sodom und Gomorrha droht in Form des neuen Bildungplans.
Um das alles zu verstehen, ist es vielleicht notwendig zu wissen: Die Hirnforschung lehrt, dass überwiegend "alte Hirnregionen", die schon dem Neandertaler das Überleben erleichterten, aktiv werden, wenn es um Sexualität und Verteidigung des Nachwuchs beim erwachsenen Menschen geht. So überrascht es nicht, wenn viele in das Stadium von Brüllaffen zurückgefallen sind.
Nun sind wir sehr deutsch und zählen, in aller Gründlichkeit, alle möglichen sexuellen Identitäten und Präferenzen auf, keine, noch so kleine Erscheinungsform auslassend. "Wozu soll mein Kind etwas über Lesben, Schwule, Transsexuelle, Transgender, Intersexuelle und Queer-Geschlechtliche erfahren? Wo ist da der Bezug zur kindlichen Realität?", fragen sich entsetzte Eltern, während bei der Ausstrahlung des Grand Prix Eurovision ein nicht sofort geschlechtlich einzuordnendes Wesen mit Vollbart und Abendkleid über die Bühne schwebt und unter europaweiten Sympathiebekundungen auch noch gewinnt.
Mir scheint, es geht inzwischen um mehr als nur um die "Wurst".
Es geht um Homosexualität in der Schule, um Homophobie, um Diskriminierung, um die Sexualerziehung an sich. Es geht um ein drittes Geschlecht in Personaldaten, Ausweisen und Toilettenhäuschen, es geht um verschiedene Menschenbilder, die "richtige" Sicht auf die Gesellschaft, um Rücksichten und Einflüsse von Kirche(n), Lobbyisten, Parteigängern. Letztlich um einen Kulturkampf beziehungsweise um die Rettung des Abendlands.
Schwule, Lesben, Transen – in jeder TV-Soap zu sehen
Und was sagen die, um die es geht? Ich habe junge Menschen gefragt, was sie von der ganzen öffentlichen Erregung halten. Die häufigsten Rektionen: O Mann, wie peinlich! Komisch, dass Erwachsene auf einmal darüber diskutieren, was in der Schule nicht gelernt werden soll. Sonst kann es doch nie genug sein. Wozu die Diskussionen? Schwule, Lesben, Transen – in jeder TV-Soap zu sehen. Wo ist das Problem?
10 Kommentare verfügbar
Roland Riedl
am 26.02.2016Sehr wohl ist Pro Familia und der Koffer ein Segen.
Warum?
Sexualität kann sich zwischen Faszination, Attraktivität, Unheimlichkeit, Neugierde, Sehnsucht und dem Unkrollierbaren bewegen.
Und Sexualität ist in der Tat nicht…