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Tödliche Polizeischüsse

Ein Innenminister wie ein Internetproll

Tödliche Polizeischüsse: Ein Innenminister wie ein Internetproll
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Innerhalb weniger Tage sterben zwei Menschen in Baden-Württemberg, erschossen von der Polizei. Zumindest in einem Fall ist strittig, ob der Beamte zu Recht zur Waffe griff. Doch Innenminister Thomas Strobl (CDU) stellt sich sofort in Stammtischmanier hinter die Schützen.

Wenn die Gewerkschaft der Polizei (GdP) und ein Innenminister schützend die Hand über die Polizei halten, ist das in der Regel kein gutes Zeichen. Es bedeutet eigentlich immer, dass dem Gewalt vorausgegangen sein muss: Etwa, wenn Klimaaktivist:innen forsch aus Lützerath geräumt werden, um den Weg für Kohlebagger frei zu machen. Oder wenn Demonstrant:innen Prellungen beklagen, weil die Polizei mit Schlagstöcken auf sie einschlug, wie bei den 1.-Mai-Demos in Stuttgart der vergangenen zwei Jahre. Im schlimmsten Fall ist jemand gestorben, getötet mit der Dienstwaffe.

Letzteres passierte gleich zweimal innerhalb nur weniger Tage in Baden-Württemberg. Am 26. Juni starb ein 27-jähriger Afghane in Wangen, Kreis Göppingen. Mehrere Schüsse sollen ihn getroffen haben. Die Uniformierten wollten ihn bei seiner Wohnung abholen und festnehmen, gegen ihn lag ein sogenannter Vorführungsbefehl wegen einer Körperverletzung vor. Als er ein Messer zog und einen Polizisten verletzte, schossen die Beamten. Fünf Tage später, in der Nacht zum 1. Juli, starb ein 29-jähriger Algerier in Stuttgart-Ost nach dem Schuss eines Polizisten. Zuvor hatte er einen gleichaltrigen Landsmann vor einer Bar "mit einem scharfen Gegenstand", womöglich eine Glasscherbe, am Hals verletzt – nur gut 100 Meter und in Sichtweite vom Polizeipräsidium in der Ostendstraße entfernt. Der Täter floh in einen naheliegenden Innenhof, wo ihn ein Polizist aufspürte.

Noch am selben Tag berichtete die "Stuttgarter Zeitung" (StZ) von einem Video eines Anwohners, der durch den Polizeieinsatz geweckt worden war. Was er mit dem Handy aufzeichnete, lasse Zweifel aufkommen, ob der tödliche Schuss tatsächlich gerechtfertigt war, schrieb die Zeitung. Als der Beamte den Flüchtigen entdeckte, habe er nach Kolleg:innen gerufen. Der 29-Jährige soll dann über einen Maschendrahtzaun gesprungen sein, währenddessen rief der Polizist: "Stehenbleiben oder ich schieße!" Und dann fällt auch schon der Schuss, der den Flüchtigen niederstreckte – laut "Stuttgarter Zeitung" nur etwa eine halbe Sekunde, nachdem dieser nach dem Zaunsprung auf dem Boden aufkam.

Hat der Polizist zu Unrecht geschossen? Es war dunkel, der Tatverdächtige bewegte sich rasch und der Polizist musste davon ausgehen, dass er eventuell noch bewaffnet war. SWR wie "Stuttgarter Zeitung" konfrontierten Polizeiausbilder mit dem Video. "Lehrbuchmäßig" sei das Vorgehen des Beamten, zumindest bis er den Algerier stellt, beteuern die Polizeicoaches. Sie würden jedoch mit Blick auf die darauffolgenden Momente davon abraten, die Waffe auf den Flüchtenden zu richten. Aber sicher ist auch: Es ist keine leichte Entscheidung, die der Beamte innerhalb weniger Sekunden treffen muss. Ob der Beamte im Recht war oder nicht, kann ein Laie ohne Ahnung vom Polizeidienst und der konkreten Situation nicht objektiv bewerten.

Für Strobl ist die Schuldfrage klar

Doch einer steht offensichtlich ohne Wenn und Aber zu seiner Polizei: Innenminister Thomas Strobl (CDU). Nachdem fünf Tage zuvor in Wangen der Afghane erschossen worden war, ließ Strobl folgenden Satz ab: "Wer Polizisten mit dem Messer angreift, hat sich entschieden, nicht mehr zu leben. Jedenfalls, nicht mehr in diesem Land zu leben." Also anders gesagt: Wer die Polizei angreift, darf getrost erschossen oder wenigstens abgeschoben werden. Klar, Polizist:innen haben das Recht auf Selbstverteidigung und dürfen im äußersten Notfall zur Waffe greifen. Nur sagt Strobl es eben nicht so sachlich, sondern greift zur harscheren Formulierung. Die Frage nach der Schuld am Tod durch Polizeischüsse ist für ihn somit klar: Die Getöteten tragen diese allein. Nach dem Stuttgarter Vorfall wiederholt Strobl: "Wer Polizistinnen oder Polizisten mit einem Messer angreift, riskiert das eigene Leben!" Und das, obwohl der 29-Jährige im Stuttgarter Osten nach allem, was derzeit bekannt ist, unbewaffnet war und zur Flucht ansetzte, nicht zum Angriff.

Und was will der Landesinnenminister überhaupt mit der Aussage mitteilen? Wer gegenüber der Polizei gewalttätig auftritt, ist immer von Todessehnsucht getrieben? Alle von der Polizei Erschossenen begehen also "Suicide by cops", wie es in den USA heißt? Darauf wollte Strobl sehr wahrscheinlich nicht hinaus. Vielmehr dürfte es ihm darum gehen, der ihm unterstellten Polizei den Rücken freizuhalten. Das Signal: Wenn du im Dienst tötest, stehe ich zu dir, solange du einen triftigen Grund nennen kannst. Beweise braucht Strobl nicht. Nach dem Todesfall in Wangen nutzt er gleich noch die Gelegenheit, um Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) für die Grenzkontrollen zu loben und daran zu erinnern, dass er selbst gerne nach Afghanistan abschieben würde.

Was Abschiebungen nach Afghanistan mit diesem konkreten Fall zu tun haben sollen? Vermutlich will Strobl darauf hinaus, dass der Angriff erspart geblieben wäre, würde mehr abgeschoben werden. "Kriminelle Ausländer raus!", skandieren Rechtsextreme offen auf Demos, Strobl drückt dasselbe verklausuliert aus. So bedient er rassistisches Gedankengut.

Dass er derartiges absondern kann, ohne großartigen Widerspruch, verdeutlicht, wie tief solche Narrative bereits in der Bevölkerung verankert sind. Oder vielleicht noch schlimmer: Wie sehr sie sich bereits daran gewöhnt hat, dass – nicht nur – bei CDU-Politiker:innen der Gedankensprung von "Ausländer" zu "Kriminalität" und "Abschieben" kein weiter ist.

Widerspruch wirkt

Auch deutschlandweit versteigen sich bekannte Internet-Koryphäen zu ähnlichen Aussagen. Der Youtuber und Streamer "Montanablack" sagte auf der Streamingplattform "Twitch", auf der ihm über fünfeinhalb Millionen Menschen folgen, nur kurz vor der Tat in Wangen Ende Juni: "Wenn du einen Polizisten schlägst mit der Faust, dann finde ich, sollte der Polizist das Recht haben, dich zu erschießen." Der Tätowierte blickt dann ernst in die Kamera, im Hintergrund steht sein giftgrüner Lamborghini in seiner Luxusbude, bevor er fortfährt: "Und damit meine ich nicht, dir einfach in dein Bein zu schießen, sondern er hat das Recht dich zu erschießen." Gegenüber Polizeibeamten fehle einfach der Respekt, die müssten sich zu viel gefallen lassen. Im Chat stimmen Zuschauende ihm zu, einige kommentieren sofort, daran seien Migrant:innen Schuld.

Doch viele Zuschauer:innen widersprechen auch: Die Aussage gehe zu weit, schreiben sie. Am nächsten Tag rudert der deutsche Streamer zurück: Natürlich habe er nicht sagen wollen, "dass ein Polizist, der angegriffen wird, einen Freifahrtschein hat, jemanden zu erschießen". Aber ein Polizist sollte, sofern er angegriffen werde, sich verteidigen und von seiner Schusswaffe Gebrauch machen dürfen. Die Hitze am Vortag sei der Grund, weshalb er es falsch formuliert habe. Das zeigt: Wenn genügend Leute ihre Stimme gegen deplatzierte Aussagen wie diese erheben, könnte Strobl künftig vielleicht zweimal überlegen, bevor er derartiges hinausposaunt. Oder jemand müsste dringend mal die Klimaanlage im Innenministerium hochdrehen. So jedenfalls hat der Internetproll mit Lamborghini sogar mehr Anstand als der Minister bewiesen, als er sich entschuldigte und seine Aussage zurechtrückte – wenn auch nur des Images wegen.

Zum Strobl-Satz kursiert im Netz vor allem viel Zustimmung. Außerdem: rassistische Kommentare, die die Herkunft des Opfers in den Fokus rücken. "Diese 'Männer' waren nicht zufällig Migranten?", fragt jemand unter einem Video der StZ, das über den Streit der beiden Algerier berichtet, ohne die Nationalität zu nennen. Es ist nicht der einzige Kommentar, der in diese Kerbe schlägt. Sachliche Debatte oder Mitgefühl für Opfer und Hinterbliebene? Fehlanzeige. Stattdessen offener Rassismus.

Und wieder liefen keine Bodycams

Als Innenminister hätte Strobl gut daran getan, sein Vertrauen in ein unabhängiges Justizsystem zu bekunden und sachlich auf die laufenden Ermittlungen zu verweisen. Was dabei helfen würde: Bodycams. Bei keinem der beiden jüngsten Fälle gibt es Aufzeichnungen der Polizei – bei letzterem Fall trug der Beamte nicht einmal eine Kamera. Und das, obwohl eine SWR-Anfrage ergab, dass "alle operativen Einheiten der Stuttgarter Schutzpolizei mit Bodycams ausgestattet" seien.

Aufnahmen solcher Polizeieinsätze würden eine eindeutige Beweislage schaffen. Schon 2016 forderte die GdP-Zeitschrift "Polizeipraxis", dass die Kamera beim Ziehen der Dienstwaffe automatisch aktiviert werden müsste. Ob das bereits möglich ist? Auf Anfrage schreibt eine Sprecherin des Innenministeriums, dass dieses sich mit "Möglichkeiten und Grenzen einer Koppelung von Einsatzmitteln mit der Bodycam" befasse. Vielleicht kommt eine solche Technik also in Zukunft zum Einsatz. Zu hoffen wäre es. Dass die Kameras bei Einsätzen, die Beamte belasten könnten, meist nicht eingeschaltet sind, ist schließlich kein Zufall. Möglicherweise hätten die Betroffenen von Polizeigewalt oder die Hinterbliebenen von Getöteten dann auch eine größere Chance, vor Gericht zu ihrem Recht zu kommen. Bisher stehen die Chancen nämlich schlecht, dass Beamte wegen Polizeigewalt verurteilt werden. Ob eine bessere Beweislage Innenminister Strobl von Stammtischparolen abhält, darf allerdings bezweifelt werden.

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