KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Bürgerbegehren zu S-21-Teilfläche

Schon wieder der olle Bahnhof

Bürgerbegehren zu S-21-Teilfläche: Schon wieder der olle Bahnhof
|

Datum:

Der Begriff ist sperrig, die Chance historisch: Das Bündnis "Bahnhof mit Zukunft" will ein "kassatorisches Bürgerbegehren" gegen die geplante Bebauung des unmittelbaren Gleisvorfelds einleiten, das durch Stuttgart 21 frei werden soll. Bis Mitte Oktober müssen 20.000 Unterschriften beisammen sein.

Es ist nicht so, dass es den Kritiker:innen von Stuttgart 21 an enttäuschenden Erfahrungen mit Bürgerbegehren mangelt. Ein Begehren mit dem Ziel, das Engagement der Stadt Stuttgart für das Milliardenprojekt zu beenden, scheiterte 2007, trotz der fast 62.000 Unterschriften. Ein zweites nahm ebenso erfolglos die Kostenexplosion ins Visier, drei weitere folgten in den vergangenen Jahren – auch sie ohne Erfolg.

Diesmal sei alles anders, sagt Stadtrat Hannes Rockenbauch (SÖS). Im Kontext-Gespräch erklärt der Vorsitzende der Fraktionsgemeinschaft Die Linke SÖS Plus im Stuttgarter Gemeinderat auch, warum. Erstmals seit der Grundsatzvereinbarung der Projektbetreiber im November 1995, also vor fast drei Jahrzehnten, ermögliche die geplante Aufstellung eines Bebauungsplans für eine wichtige Teilfläche des Gleisvorfeldes ein Bürgerbegehren gegen diese Bebauung durchzuführen. Denn: Sie verbaue die Zukunft. Eine Bebauung verhindere die vermutlich noch dringend notwendigen Verbesserungen des Milliardenprojekts in Schieflage – von einer künftigen Kombibahnhoflösung bis zur leistungsfähigen Anbindung der Gäubahn. Von einem Ausbau des ÖPNV und einer Steigerung der Fahrgastzahlen ganz zu schweigen.

Konkret geht es um das Areal mit der Bezeichnung A2. Es gehört zum unmittelbaren Gleisvorfeld des noch bestehenden 16-gleisigen Kopfbahnhofs und liegt parallel zum schon bestehenden Europaviertel zwischen LBBW-Zentrale und Milaneo. Immer wieder wird es in der Berichterstattung fälschlicherweise dem Rosensteinviertel zugerechnet, für das es schon etwas fortgeschrittenere Planungen gibt – das aber auf dem Bauabschnitt B entstehen soll. Für A2 dagegen gibt es bislang noch keine konkreten Planungen – und bestehende Visualisierungen beschränken sich darauf, zwei Reihen gleichförmiger Gebäudewürfel auf das Areal zu setzen, die an überdimensionierte Laserdrucker erinnern.

Die Stadt hat Großes mit A2 vor, wenn irgendwann mal die Gleise abgeräumt sein sollten. Jedenfalls in der Theorie und der altbekannten Hochglanz-PR: "Als Pendant zum bestehenden Europaviertel mit dem Schwerpunkt auf Büronutzungen soll das neue Europaquartier seinen Schwerpunkt auf Wohnnutzung mit viel urbanem Grün legen", heißt es in der Bekanntmachung zum Einstieg in das Bebauungsplanverfahren. 1.380 bis 1.670 Wohnungen sollten dort entstehen, "ergänzt durch soziale, gewerbliche und gemeinschaftliche Nutzungen". "Ein wesentliches städtebauliches Element" werde die künftige Athener Straße bilden, als "öffentlich zugängliches grünes Spiel‐, Sport‐ und Bewegungsband". "Drei überschaubare Nachbarschaften" und "zwei Bildungsstandorte" sollen, wie wir erfahren, das Quartier gliedern und beleben, und "lebendige Erdgeschosszonen" bieten "öffentliche Angebote in Richtung Schlossgarten".

Rückabwicklung des AEG macht Weg frei für Bebauung

Den Weg für eine Bebauung hat die neue Bundesregierung erst kürzlich freigemacht: In der 14. Bundestagssitzung Ende Juni wurde die Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) rückabgewickelt. Die war erst im Oktober 2023 in Kraft getreten und beinhaltete eine Neufassung von Paragrafen 23 AEG, die es deutlich erschwerte, nicht mehr genutzte Gleisflächen zu entwidmen und neu zu nutzen, sprich: zu bebauen (Kontext berichtete). Nach der Entscheidung vor zwei Wochen jubilierte Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU), weil Union und SPD "unverzüglich" tätig geworden und "zu der ersehnten und überfälligen Einsicht ins Sinnvolle und Notwendige gelangt" seien.

Dass sich der glühende Tiefbahnhof-Fan da mal mittel- und langfristig nicht täuscht. Kurzfristig jedoch wollen die "Tunnelparteien", wie Rockenbauch die S-21-Anhänger:innen im Gemeinderat nennt, die Steilvorlage aus Berlin "unverzüglich" versenken. Am Dienstag vergangener Woche brachte das Amt für Stadtplanung und Wohnen den Aufstellungsbeschluss für A2 in den Gemeinderat ein. Und schon nächsten Dienstag, dem 15. Juli, soll endgültig über die Zukunft dieses Geländes entschieden werden.

Trotz Wohnungsmangel: Gleise werden gebraucht

Stuttgart braucht unbestritten Wohnungen. Nur entstünden sie besser anderswo, weil die Bahnnutzer:innen wiederum genügend Gleise brauchen, damit der Verkehr funktioniert. Dass der Tiefbahnhof ohne eine Ergänzung nicht auskommt, haben bereits Heiner Geißler und der Schweizer Verkehrs-Guru Werner Stohler mit ihrem im Juli 2011 präsentierten Vorschlag "Frieden in Stuttgart" unterstrichen. Rockenbauch verweist 14 Jahre später auf das "tägliche Chaos mit Verspätungen, Fernwanderwegen und Stammstreckensperrungen" in und um Stuttgart.

Warme Worte bei Bahngipfel, Verzögerung bei S 21

Die Erwartungen waren mäßig, das Ergebnis ist zumindest atmosphärisch gut, wie Teilnehmer übereinstimmend berichten: Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) hatte am 1. Juli ins Staatsministerium zum Bahngipfel geladen, darunter auch den Bahnchef Richard Lutz höchstpersönlich. Produziert wurden schöne Bilder und warme Worte – O-Ton des Gastgebers: "Wir stärken die Partnerschaft zwischen Land und Deutscher Bahn, um unsere gemeinsame Verantwortung für Mobilität und Klimaschutz wahrzunehmen." Am Ende stand eine Absichtserklärung, um die Zusammenarbeit "für einen attraktiven und verlässlichen Bahnverkehr im Land" und den Informationsfluss zu verbessern, und ein sogenannter "Letter of Intent" zur bessereren Ausstattung von Bahnhöfen. Zwischen den Zeilen war's ergiebiger, wiewohl "Stuttgart 21" eigentlich ausgespart blieb. Dennoch verdichtet sich, dass auch der so fest für die Inbetriebnahme des Stuttgarter Tiefbahnhofs versprochene Termin Dezember 2026 wieder zur Disposition steht und die Teilinbetriebnahme immer wahrscheinlicher wird. Mit weitreichenden Folgen für die ambitionierten Bebauungspläne der Stadt Stuttgart, Bürgerbegehren hin oder her. Denn erst muss das alte Gleisfeld in einer Testphase ohnehin liegen bleiben, um die Funktionsfähigkeit des neuen Tiefbahnhofs zu unterstützen bzw. als Rückfallebene zu dienen, falls er eben nicht so funktioniert wie erhofft. Außerdem macht noch ein ganz anderes Gerücht die Runde: Dass die Erschließung des – dann früheren – Gleisvorfelds der Stadt, angesichts der angespannten finanziellen Situation, ohnehin ganz schön zu schaffen machen würde.  (jhw)

Bisher haben solche und andere Argumente nicht gezogen, nicht beim DB-Management, nicht unter den unbelehrbaren Befürworter:innen in der Politik, nicht vor Gerichten. Das Begehren, das auf den Namen "Bahnhof mit Zukunft" hört, zielt auf andere, auf direkt Betroffene: Auf die Reisenden und die Pendler:innen, die mit Verspätungen kämpfen, auf die tagtäglich im Stau Stehenden, auf die unter der hässlichen Riesenwunde im Stadtzentrum Leidenden, auf jene Bürger:innen, denen gerade angesichts der Kostenexplosion und des Zustands der Bahn vielleicht doch Zweifel gekommen sind.

"Es geht nicht um die alten Kämpfe 'oben oder unten' oder um die Frage 'Gleise oder Wohnungen', sondern darum, dass die zukunftsfähige Entwicklung des Bahnknotens Stuttgart nicht durch die Bebauung auf einer kleinen Teilfläche verbaut wird", so der SÖS-Stadtrat. Und fügt hinzu: "Die Welt steht in Flammen, und ich komme euch wieder mit unserem ollen Bahnhof" – aber es bestehe jetzt eben eine einmalige Möglichkeit.

Tatsächlich liegen Gerichtsentscheidungen vor, die zumindest die Chance für ein erfolgreiches Begehren zu eröffnen scheinen. So hat sich der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg im Februar 2024 mit einem Bebauungsbeschluss zu Lasten von Bewohner:innen, unter anderem wegen Lärmbelästigung und Naturschutzes befasst. Es ist ein Fall in einer anderen Kommune, und Gleisflächen spielen keine Rolle, aber in dem 28 Seiten starken Urteil fällt auch dieser entscheidende Satz: "Jeder 'weichenstellende' Grundsatzbeschluss, der eine Planung einleitet oder eine Planungsstufe abschließt, ist bürgerbegehrensfähig." Vorangegangene Gemeinderatsbeschlüsse in derselben Angelegenheit verhinderten ein Bürgerbegehren nicht gegen einen nachfolgenden Gemeinderatsbeschluss, der eine Planungsstufe abschließt, heißt es weiter.

Drei Monate zum Unterschriftensammeln

Fällt der Beschluss für das Areal A2 am 15. Juli tatsächlich im Gemeinderat, löst dieses Datum eine Drei-Monats-Frist aus, in der 20.000 Unterschriften gesammelt werden müssen. Derzeit werden dafür Helfer:innen gesucht. Rockenbauchs Rechnung: Sollte es gelingen, 200 Aktive zu gewinnen, müsste jede und jeder binnen drei Monaten hundert Unterschriften sammeln, pro Woche weniger als zehn. Ein Trägerkreis formiert sich gerade. Ein Brief zur Ankündigung des Vorhabens wurde am 8. Juli an OB Nopper übergeben, unterzeichnet von Rockenbauch und dem Landesvorsitzenden des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) Gero Treuner. Darin wird gleich zum Einstieg darauf hingewiesen, "dass das Teilgebiet A2 im Bereich des Projekts Stuttgart 21 weiter wesentlich für die Eisenbahn notwendig ist, und dass dieses sowohl kurz- und mittelfristig (…) als auch für weit in der Zukunft liegende Bedarfe für den Schienenverkehr benötigt wird."

Die baden-württembergische Gemeindeordnung bedient sich ebenfalls des Wörtchens "unverzüglich", denn auf diese Weise muss die Entscheidung über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens fallen, "spätestens aber innerhalb von zwei Monaten". In Absatz vier wird der weitere Verlauf erläutert: "Der Bürgerentscheid entfällt, wenn der Gemeinderat die Durchführung der mit dem Bürgerbegehren verlangten Maßnahme beschließt." Das Aktionsbündnis hält es allerdings für wenig wahrscheinlich, dass die satte S-21-Mehrheit im Gemeinderat ihre A2-Pläne einfach fallen lässt. Für diesen Fall müsste die Bevölkerung über das Begehren "Bahnhof mit Zukunft" abstimmen. Das wiederum könnte am 8. März 2026 stattfinden, dem Tag der nächsten Landtagswahl.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!