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Stuttgart 21

Katzenjammer um Flächennutzung

Stuttgart 21: Katzenjammer um Flächennutzung
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Das Wohnen der Zukunft rückt in noch weitere Ferne: Dass die Bebauung der meisten durch S 21 frei werdenden Flächen wohl erst spät in den 2030er-Jahren beginnen kann, wird laut beklagt. Es ist aber alles andere als überraschend. Kritiker fordern nun, wenigstens die Flächen zu nutzen, die auch ohne das Projekt schon längst hätten entwickelt werden können.

Dass durch Stuttgart 21 viel neuer Wohnraum geschaffen werde, wird auch von so manchem Projektkritiker noch zu den besseren Argumenten für das riesige Bauvorhaben gezählt. Dabei herrschte genau in diesem Punkt auch von Anfang an viel Skepsis: Nicht nur, weil angesichts des Vermarktungsdrucks, der auf den von der Stadt teuer gekauften Flächen liegt, schon früh Zweifel daran laut wurden, ob dort tatsächlich günstige Wohnquartiere entstehen würden. Sondern auch, weil sich Stuttgart Mitte der 1990er Jahre, als das Projekt vorgestellt wurde, bevölkerungstechnisch auf einem Schrumpfkurs befand, der noch bis 1998 anhielt (damals rund 582.000 Einwohner). Danach wuchs die Einwohnerzahl wieder, erst sehr langsam, ab Mitte der 2010er Jahre dann immer schneller – Ende 2018 lebten laut Statistischem Landesamt knapp 635.000 Menschen in Stuttgart. Absehbar war dies bei der Projektvorstellung 1994 nicht, die Prognosen deuteten damals eher auf weiteres Schrumpfen hin, und auch, wie die Entwicklung ab jetzt auf lange Sicht weitergeht, steht in den Sternen.

Gleichwohl monierten die Tiefbahnhof-Kritiker schon früh, dass, wenn denn Wohnraum tatsächlich gebraucht würde, dieser auf großen Teilen der vom S-21-Marketing angepriesenen 100 Hektar Fläche auch völlig unabhängig von Stuttgart 21 entwickelt werden könnte – und zudem sehr viel schneller. Beispielsweise auf einem Großteil des so genannten C-Areals am Nordbahnhof, oder auch auf dem ganzen oder einem Teil der Fläche des schon lange überdimensionierten Abstellbahnhofs (B-Areal), die beide in der aktuellen Planung das Rosensteinviertel bilden sollen. Auf diese Weise stünde zwar "etwas weniger Fläche" für die Stadtentwicklung zur Verfügung, "aber diese Flächen haben deutlich geringeren Kostendruck und sind ab sofort bebaubar – nicht in einer ungewissen Zukunft", brachte es der Grüne Peter Pätzold 2011 in einem Artikel auf den Punkt.

Tempi passati. Seit 2015 ist Pätzold Baubürgermeister in Stuttgart und preist unisono mit dem ebenfalls grünen Oberbürgermeister Fritz Kuhn die S-21-Flächen als Lösung des Wohnraummangels. Und Pätzold müht sich auch immer wieder zu betonen, dass unmittelbar nach Fertigstellung des Tiefbahnhofs (von der Bahn sehr optimistisch für Dezember 2025 angepeilt) die Entwicklung der Flächen beginnen werde. Ganz so, als wolle er damit dem Argument der S-21-Kritiker – und seinem früher eigenen – begegnen, dass Stuttgart 21 mit seinen immer wieder verschobenen Fertigstellungsprognosen tatsächlich bedarfsgerechten Wohnungsbau blockiere und eben nicht ermögliche.

Im günstigsten Fall wird ab 2032 gebaut

Die Argumentation vom Wohnraumsegen S 21 erhielt nun vergangene Woche einen empfindlichen Dämpfer. Nicht vor dem Jahr 2032 werde die Stadt die frei werdenden Gleisflächen bebauen können – im günstigsten Fall, wenn sie mit der Bahn ein schnelleres Verfahren beim Gleisrückbau verhandeln kann. Im schlechtesten Fall könne es 2035 oder sogar 2037 werden, teilten Kuhn, Pätzold und ein von der Stadt beauftragter Anwalt laut "Stuttgarter Zeitung" (StZ) den Fraktionschefs im Gemeinderat mit. Der Katzenjammer daraufhin war groß. Rolf Gaßmann, Chef des Stuttgarter Mietervereins, sprach von einer "Katastrophe", der Hausbesitzerverein und OB-Kandidat Martin Körner (SPD) warfen Kuhn schwere Versäumnisse vor, und selbst StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs kommentierte am 19. Juni in seinem Blatt säuerlich: "Wohnraum, der vielleicht (!) ab 2037 gebaut werden kann, ist kein Argument gegen Wohnungsmangel." 

Die Verzögerung hängt offenbar damit zusammen, dass das Ergebnis des Planungswettbewerbs für das Rosensteinviertel von 2019 nicht mit dem Kaufvertrag harmonisiert, den die Stadt 2001 mit der Bahn über die Flächen geschlossen hat. Die nun geplante Topographie ist eine leicht andere, die ein oder andere Bahnstruktur soll nun erhalten werden, und über dies alles müsse nun neu zwischen Stadt und Bahn verhandelt werden. Ob mit diesem Zeitrahmen gerechnet wurde, lässt die Stadtverwaltung auf Kontext-Anfrage im Vagen: Seit 2018 sei sie in einer Arbeitsgruppe Rückbau in Gesprächen mit der Bahn, um "ein abgestimmtes und möglichst schnelles Verfahren zu bekommen, welches die Entwicklung der Fläche insbesondere für Wohnungsbau ermöglicht." Und Ziel der Verhandlung "ist es gerade, weit vor 2035 mit der Bebauung beginnen zu können."

Doch tatsächlich ist der bejammerte Zeitrahmen alles andere als überraschend. Der S-21-kritische Blogger Fritz Möbus erinnerte an "die Blaupause für das Rosensteinviertel, den ehemaligen Güterbahnhof Bad Cannstatt". Auf der rund 25 Hektar großen Fläche soll das Stadtquartier "Neckarpark" mit vielen Wohnungen entstehen. Aber auch 20 Jahre, nachdem die Stadt das ungenutzte Gelände gekauft hat, steht dort noch kein einziges Wohngebäude. Und auch das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 stellt fest: "Von Anfang an war klar, dass einer endgültigen Fertigstellung des Tiefbahnhofs noch Jahre für Probebetrieb, Gleisentfernung, Abbau der massiven Beton-Überwerfungsbauwerke, Sanierung des nach über 100 Jahren Bahnbetrieb hoch kontaminierten Bodens und Modellierung der Flächen folgen würden." 

Schuster: Zeitdauer spielt keine Rolle

Von Seiten der Tiefbahnhof-Kritiker wurde besonders in den Protestjahren 2010 und 2011 der schwer kalkulierbare Zeit- und Kostenaufwand für Gleisentfernung, Altlastenbeseitigung und Flächenmodellierung immer wieder angeführt – halbwegs genaue Zeitangaben gab es damals nie. Auf Seiten der S-21-Freunde schien dies neben der grundsätzlichen Durchsetzung des Projekts eine nachrangige Frage zu sein, wie eine Antwort des damaligen Oberbürgermeisters Wolfgang Schuster (CDU) auf eine Anfrage von Grünen, SÖS und Linken im Stuttgarter Gemeinderat im Oktober 2011 beweist: "Die Entwicklung der Flächen soll sich aus Gründen einer organischen Stadtentwicklung ohnehin über einen längeren Zeitraum erstrecken, weshalb die Zeitdauer für eine mögliche Altlastenbeseitigung und die Geländemodellierung keine wesentliche Rolle spielt."

2013 dann, der Grüne Kuhn war schon OB, war in der StZ zu lesen, dass die Stadt "bis zu fünf Jahre" für die Räumung des Gleisvorfelds ansetzt. Und wiederholt hat Kuhn in letzter Zeit auf Anfragen betont (zuletzt hier), dass sich nach der "baulichen Fertigstellung" von S 21 noch "ein monatelanger Probebetrieb" anschließe, "während parallel der alte Hauptbahnhof in Betrieb bleibt" – demnach muss das Gleisvorfeld so lange unangetastet bleiben. Mit Addition und leichtem Aufrunden ist man schon schnell bei 2032.

Bis die Flächen dann fertig bebaut sind, wird es also so oder so mindestens bis in die 2030er, eher in die 2040er Jahre dauern. Als "völlig unabsehbar" bezeichnet Aktionsbündnis-Sprecher Martin Poguntke, "ob und welcher Wohnungsbedarf" dann in Stuttgart bestehen werde. Seine Forderung daher: "Wenn Wohnungen gebraucht werden, dann jetzt. Und Flächen für mindestens 1.000 Wohnungen sind bereits jetzt vorhanden – die Bahn muss lediglich die Baulogistikfläche beim Nordbahnhof freigeben."

Eine "Schimäre" nennt das Aktionsbündnis den Wohnungsbau im Zuge von S 21, vom "Phantom" spricht die Fraktionsgemeinschaft aus Linke, SÖS, Piraten und Tierschutzpartei im Stuttgarter Gemeinderat. Deren Vorsitzender Hannes Rockenbauch befindet, "das letzte positiv aufladbare Argument für den Weiterbau der Stuttgart-21-Befürworter" sei nun "Makulatur", weswegen er fordert, dass "Verwaltung und Rat der Stadt eine Neupositionierung zum Milliardengrab S 21 vornehmen und einen Baustopp fordern".

Das Schlüsselgrundstück: klein, aber oho

Davon ist, wenig überraschend, nichts zu spüren. Baubürgermeister Pätzold sah sich vielmehr genötigt, noch am vergangenen Freitag per Pressemitteilung der desaströsen Resonanz entgegenzusteuern: "Keinesfalls" wolle die Stadt "erst dann mit der Bebauung beginnen, wenn das gesamte Gleisvorfeld durch die Bahn abgeräumt ist. Und niemand hat gesagt, dass alle freiwerdenden Flächen gleichzeitig bebaut werden sollen".

Was Pätzold dann anführte, ist überschaubar: Er nannte die im Bebauungsplan so genannte Fläche C1, wo schon ab 2023 die sogenannte "Maker City" und auch das Opern-Interim hin sollen (Kontext berichtete). Pätzold weiter: "Und ab 2026 wollen wir die Fläche A3 am Manfred-Rommel-Platz, also direkt am Hauptbahnhof bebauen. Dazu soll der Gemeinderat noch in diesem Jahr über die Nutzung dieses Schlüsselgrundstücks entscheiden." Besagtes Schlüsselgrundstück liegt direkt nördlich des zukünftigen Bahnhofdeckels und ist mit 1,42 Hektar nicht besonders groß. Wohnbebauung wird es auf A3 eher keine geben: Die Bahn ist vertraglich verpflichtet, eine Tiefgarage zu bauen, und oben soll Kultur oder Gewerbe hin; zeitweise waren in der Vergangenheit eine Schlossgarten-Philharmonie und ein Neubau des Lindenmuseums im Gespräch.

Momentan ist A3 noch der Vorderbereich der wegen der Baugrube nach hinten versetzten Kopfbahnhofgleise, es liegt also jede Menge Geraffel darauf, dessen Beseitigung gekoppelt mit dem Probebetrieb eine schon 2026 erfolgende Bebauung ambitioniert erscheinen lässt.

Mit welchem Zeitaufwand für diese vorbereitenden Maßnahmen die Stadt rechne, beantwortet die Stadtverwaltung auf Kontext-Anfrage eher vage und allgemein: So werde die Bahn etwa den Probebetrieb "vor der Inbetriebnahme des neuen Tiefbahnhofs 2025" durchführen, "so dass dieser zwischen Fertigstellung Infrastruktur und Inbetriebnahme stattfinden kann." Und durch Gespräche mit der Bahn solle Zeitverlust vermieden werden.

Wenn das nicht Hoffnung macht.

Gäubahn-Anbindung jetzt leichter?

Die neu bekannt gewordenen Zeiträume riefen auch die Befürworter einer Gäubahn-Anbindung über die bestehende Strecke an den neuen Tiefbahnhof auf den Plan. Zur Erinnerung: Anfang 2019 wurde klar, dass wegen der noch völlig unabsehbaren Fertigstellung der neuen Streckenführung über den Flughafenbahnhof auf den Fildern – es steht hier immer noch die Planfeststellung aus – ab 2025 eine mehrjährige Abkopplung der aus Richtung Zürich kommenden Gäubahn vom Stuttgarter Hauptbahnhof droht. Daraufhin wurde von verschiedenen Seiten gefordert, wenigstens interimsweise die Gäubahn in ihrer jetzigen Führung über die Panoramabahn bis zum Hauptbahnhof zu erhalten (Kontext berichtete hier und hier), und diese Forderung hatten im April 2020 die Verbände BUND, VCD und Pro Bahn in einem offenen Brief erneuert. Die Stadt hat dies bislang kategorisch abgelehnt, da zum einen ein Beschluss des Gemeinderats von 2018 existiere, der "eine interimsweise oder dauerhafte Führung der Gleise von der Panoramabahn in den Hauptbahnhof" ausschließe, und sie außerdem direkt nach Fertigstellung von S 21 mit der Bebauung beginnen wolle.

Der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) in Stuttgart sieht die Karten jetzt neu gemischt. Mit dem "neuen, den Realitäten angepassten Zeitplan für die städtebauliche Entwicklung" sei eine Gäubahnunterbrechung für einen Interimszeitraum "nicht mehr nötig", so BUND-Regionalgeschäftsführer Gerhard Pfeifer in einer Pressemitteilung. Der bisherige Gäubahnbetrieb und der angestrebte Städtebau kämen sich nicht mehr in die Quere. Und Pfeifer verweist noch auf ein weiteres Argument, das wegfalle: Die S-21-bedingte Verlegung der S-Bahntrasse, wegen der bislang eine so frühe Kappung der Gäubahn überhaupt erfolgen sollte, lasse sich "laut Auskünften der Bahn und des Landesverkehrsministeriums" auch ohne Eingriffe in die Gäubahntrasse umsetzen.

Die Stadtverwaltung sieht dies erwartungsgemäß anders und verweist auf Kontext-Anfrage wie bisher auf besagten Gemeinderatsbeschluss. Nichts zu machen.

Beim Landesverkehrsministerium wird die BUND-Forderung vermutlich wohlwollender gesehen. Denn unter anderem eine Gäubahnanbindung über die alte Strecke ist Teil des Konzepts für einen den Tiefbahnhof ergänzenden unterirdischen Kopfbahnhof, den Minister Winfried Hermann (Grüne) im vergangenen Juli präsentierte. Seitdem tagt eine Arbeitsgruppe mit Vertretern von Bahn, Land, Stadt und Region, um darüber zu beraten, was für Optimierungen umsetz- und vorstellbar wären (Kontext berichtete).

Der Arbeitsgruppe geht es so ähnlich wie dem Gesamtprojekt S 21: Ihr Ende ist einstweilen nicht absehbar. Wurde im vergangenen November für die Verkündigung von Ergebnissen noch Mai in Aussicht gestellt, ist auch diese Frist mittlerweile verstrichen. Auf die Anfrage, ob es eine neue Prognose gebe, ist die Antwort der Stadt denkbar knapp: "Die Gespräche laufen."


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6 Kommentare verfügbar

  • Ruby Tuesday
    am 30.06.2020
    Antworten
    Ich meine, man müsste einmal die Schadensbilanz vergleichen, von den wenigen Jugendlichen die mal "Dampf" abgelassen haben und den Politiker*innen und Verwaltungsbeamten von Bahn, Berlin und Stuttgart. Die Schadenssumme in Tagessätze umrechnen und für jeweils 10.000 Euro einen Tag Haft aussprechen.…
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