Dass durch Stuttgart 21 viel neuer Wohnraum geschaffen werde, wird auch von so manchem Projektkritiker noch zu den besseren Argumenten für das riesige Bauvorhaben gezählt. Dabei herrschte genau in diesem Punkt auch von Anfang an viel Skepsis: Nicht nur, weil angesichts des Vermarktungsdrucks, der auf den von der Stadt teuer gekauften Flächen liegt, schon früh Zweifel daran laut wurden, ob dort tatsächlich günstige Wohnquartiere entstehen würden. Sondern auch, weil sich Stuttgart Mitte der 1990er Jahre, als das Projekt vorgestellt wurde, bevölkerungstechnisch auf einem Schrumpfkurs befand, der noch bis 1998 anhielt (damals rund 582.000 Einwohner). Danach wuchs die Einwohnerzahl wieder, erst sehr langsam, ab Mitte der 2010er Jahre dann immer schneller – Ende 2018 lebten laut Statistischem Landesamt knapp 635.000 Menschen in Stuttgart. Absehbar war dies bei der Projektvorstellung 1994 nicht, die Prognosen deuteten damals eher auf weiteres Schrumpfen hin, und auch, wie die Entwicklung ab jetzt auf lange Sicht weitergeht, steht in den Sternen.
Gleichwohl monierten die Tiefbahnhof-Kritiker schon früh, dass, wenn denn Wohnraum tatsächlich gebraucht würde, dieser auf großen Teilen der vom S-21-Marketing angepriesenen 100 Hektar Fläche auch völlig unabhängig von Stuttgart 21 entwickelt werden könnte – und zudem sehr viel schneller. Beispielsweise auf einem Großteil des so genannten C-Areals am Nordbahnhof, oder auch auf dem ganzen oder einem Teil der Fläche des schon lange überdimensionierten Abstellbahnhofs (B-Areal), die beide in der aktuellen Planung das Rosensteinviertel bilden sollen. Auf diese Weise stünde zwar "etwas weniger Fläche" für die Stadtentwicklung zur Verfügung, "aber diese Flächen haben deutlich geringeren Kostendruck und sind ab sofort bebaubar – nicht in einer ungewissen Zukunft", brachte es der Grüne Peter Pätzold 2011 in einem Artikel auf den Punkt.
Tempi passati. Seit 2015 ist Pätzold Baubürgermeister in Stuttgart und preist unisono mit dem ebenfalls grünen Oberbürgermeister Fritz Kuhn die S-21-Flächen als Lösung des Wohnraummangels. Und Pätzold müht sich auch immer wieder zu betonen, dass unmittelbar nach Fertigstellung des Tiefbahnhofs (von der Bahn sehr optimistisch für Dezember 2025 angepeilt) die Entwicklung der Flächen beginnen werde. Ganz so, als wolle er damit dem Argument der S-21-Kritiker – und seinem früher eigenen – begegnen, dass Stuttgart 21 mit seinen immer wieder verschobenen Fertigstellungsprognosen tatsächlich bedarfsgerechten Wohnungsbau blockiere und eben nicht ermögliche.
Im günstigsten Fall wird ab 2032 gebaut
Die Argumentation vom Wohnraumsegen S 21 erhielt nun vergangene Woche einen empfindlichen Dämpfer. Nicht vor dem Jahr 2032 werde die Stadt die frei werdenden Gleisflächen bebauen können – im günstigsten Fall, wenn sie mit der Bahn ein schnelleres Verfahren beim Gleisrückbau verhandeln kann. Im schlechtesten Fall könne es 2035 oder sogar 2037 werden, teilten Kuhn, Pätzold und ein von der Stadt beauftragter Anwalt laut "Stuttgarter Zeitung" (StZ) den Fraktionschefs im Gemeinderat mit. Der Katzenjammer daraufhin war groß. Rolf Gaßmann, Chef des Stuttgarter Mietervereins, sprach von einer "Katastrophe", der Hausbesitzerverein und OB-Kandidat Martin Körner (SPD) warfen Kuhn schwere Versäumnisse vor, und selbst StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs kommentierte am 19. Juni in seinem Blatt säuerlich: "Wohnraum, der vielleicht (!) ab 2037 gebaut werden kann, ist kein Argument gegen Wohnungsmangel."
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Ruby Tuesday
am 30.06.2020