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Krawallnacht

Stuttgart steht noch

Krawallnacht: Stuttgart steht noch
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Vieles ist nicht falsch, zu wenig aber richtig: Die Berichterstattung über die "Nacht der Schande" ("Bild") in Stuttgart hat bundesweit eine mediale Realität erzeugt, die von der Wirklichkeit weit entfernt ist. Dabei war die schlimm genug. Jetzt steht das sensationslüsterne Zerrbild der Aufarbeitung im Weg.

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Es gibt kein "Schlachtfeld" (CDU-Landtagsfraktionschef Wolfgang Reinhart), auch keine Blutspur, "die sich vom Hauptbahnhof bis zur Marienstraße zieht" (StN). Es gibt keine "verwüstete Innenstadt" (dpa) und keine "bürgerkriegsähnlichen Zustände" (AfD und SPD). Aber es gibt in der deutschen Sprache jede Möglichkeit, sich differenziert auszudrücken über den Landfriedensbruch, die inakzeptablen Angriffe auf Menschen und Fahrzeuge, die Lust an Gewalt und Zerstörung, das Macho-Gebaren und das schräge Bewusstsein, wonach gewalttätiger Blödsinn eine Art Heldentat ist, wenn sie einen Filmschnipsel auf Youtube hergibt.

Statt einzuordnen hat in der Medienberichterstattung aber vor allem die Übertreibung Konjunktur, seit in der Nacht zum Sonntag die ersten Mitschnitte die sozialen und die ersten Meldungen die klassischen Medien eroberten. Später Dutzende Live-Schalten auf allen Kanälen wie aus einem Krisenherd, Sondersendungen im SWR, auf ntv, bei RTL und wie sie alle heißen.

Allerdings hätten sich die aus Berlin, Hamburg oder München angereisten Kamerateams und Fotografen erst einmal die Augen reiben müssen angesichts der gelassenen Beschaulichkeit am ersten Sommertag 2020. Denn schon in den frühen Morgenstunden hatten Feuerwehr, Stadtreinigung, Müllabfuhr und Technisches Hilfswerk ganze Arbeit geleistet. Zwei Dutzend Spanplatten ersetzten die zersplitterten Schaufenster. Für Horst Seehofer, eigens aus Berlin angereist, wurde extra ein heftig demoliertes Polizeifahrzeug mit zertrümmerten Scheiben in der Oberen Königstraße platziert (Bilder dazu hier). Zehn Meter weiter hatte das Eiscafé Venedig nicht so sehr viel hergegeben an optischer Untermalung. Immerhin konnte es weniger als vierzig Stunden nach dem Krawall schon wieder KundInnen mit Kugeln und Bechern bedienen, obwohl es doch laut FAZ "zerstört" worden war.

Zwei wichtige Wahlen stehen an in Stadt und Land. Die CDU will nicht nur das Rathaus, sondern auch die Villa Reitzenstein zurückerobern. OB-Kandidat Frank Nopper habe sich bereits Sonntagfrüh vor Ort ein Bild von der Lage gemacht, heißt es in einer ersten Mitteilung, just am Eiscafé übrigens – und hätte schon deshalb Teilentwarnung geben müssen. Aber weit gefehlt. Der Kreisvorsitzende Stefan Kaufmann sekundiert mit einer Binse: "Sinnlose Gewalt, Plünderungen und Zerstörungen sind in gar keinem Fall zu rechtfertigen." Am Nachmittag kann's CDU-Generalsekretär Manuel Hagel ebenfalls nicht lassen: "Die zunehmende Gewalt gegen unsere Polizeibeamten ist mit eine Folge der ständigen Anfeindungen der politischen Linken. (...) Wenn man die Arbeit unserer Polizei immer nur schlechtredet, wie es zum Beispiel eine Saskia Esken unlängst wieder tat oder wie eine rot-rot-grüne Regierung in Berlin es gar in Gesetzesform gießt, dann werden Akzeptanz und Respekt für unsere Polizei zerstört."

Und Innenminister Thomas Strobl (ebenfalls CDU) erliegt zwei Tage später der Versuchung ganz und gar. Er schiebt den schwarzen Peter – ohne Namensnennung – der grünen Rathausspitze und den Mehrheiten im Gemeinderat hinüber, weil die seine "ausgestreckte Hand" einfach nicht ergreifen wollen. "Sicherheitspartnerschaft" heißt das Zauberwort nach dem Freiburger und Heidelberger Vorbild, inklusive Videoüberwachung, Platzverweis oder Alkoholkonsumverbot. Seit 2014, sagt Strobl auf der Regierungspressekonferenz, gebe es einen Arbeitskreis mit Stuttgarter Beteiligung und jetzt sei es an der Zeit, "dass man in der Stadt mal weiterweiß". Ernsthafte gemeinsame Aufarbeitung schaut anders aus. Dabei tagten im Rathaus die Beteiligten, inklusive Polizei, schon Seit' an Seit' und würden sich statt der Seitenhiebe gewiss mehr über Fakten freuen.

Denn Zusammenarbeit wäre so wichtig. Ohne Zweifel waren die fünf Stunden, in denen die Einsatzkräfte – trotz zweier Hundertschaften – die Lage nicht unter Kontrolle bekamen, eine Zäsur für die Stadt. Allein Alkohol oder Feierfrust nach Corona, weil die Clubs und Diskotheken noch geschlossen haben, reichen als Ursachenanalyse so wenig aus wie die Hinweise auf das Alter der Festgenommenen: zwischen 14 und 33. 16 von ihnen sind Jugendliche oder Heranwachsende, 15 polizeibekannt. Selbst der Reiz, sich im Netz zu produzieren, liefert nur einen Teil der Erklärung; der seltsame Stolz zweier Mädchen, dass Stuttgart "jetzt endlich weltberühmt" ist, wohl eher gar keine. Die Ernsthaftigkeit, mit der Winfried Kretschmann an die Analyse gehen will, zeigt die Frist, die er Strobl gibt. Bis nach der Sommerpause solle der "dezidiert berichten", was zu tun ist.

Die Polizei nimmt bereits den nächsten Freitag in den Blick. Noch mehr Einsatzkräfte könnten die Stimmung rund um den Eckensee, auf dem Schlossplatz oder auf den Treppen von Oper und Kleinem Schlossplatz noch weiter aufladen. Die Strategie ist aber alternativlos. Das eigene Konzept sei nicht aufgegangen, sagt Polizeivizepräsident Thomas Berger in erfrischender Offenheit. Man habe die Lage nicht in den Griff bekommen. Aber er sagt noch einen Satz, an dem sich die Beamten messen lassen wollen: "Wir wollen die Intensität unseres Einschreitens nicht verändern."

Wenn sich die Hardliner durchsetzen, die eher Öl als Wasser ins Feuer gießen wollen – im Netz kursiert ein Polizeifunk-Mitschnitt, in dem von "Kanaken" die Rede ist; echt oder falsch, aber er kursiert –, werden die Bedächtigen einen schweren Stand haben. Was auch für BerichterstatterInnen galt und gilt. Gerade für die, die ihre Redaktionen in Berlin, Hamburg oder München mit Material versorgten. Ohne die eigene Inaugenscheinnahme mochte einfach niemand glauben, dass ein paar Spanplatten die einzigen schnell fasslichen Zeugen einer schwäbischen Horrornacht sein sollen. Wenigstens ein zertrampeltes Blumenbeet hätte er liefern sollen, berichtet ein Kameramann in der Marienstraße. In der realen statt der erdachten Stuttgarter Innenstadt ließ sich bloß keines finden.


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22 Kommentare verfügbar

  • Dr. Diethelm Gscheidle
    am 29.06.2020
    Antworten
    Sehr geehrte Damen und Herren,

    dass jugendliche sogenannte "Parti"-Gänger für derartige Gewaltausbrüche und Verwüstungen verantwortlich sind, wundert mich keineswegs! Bereits seit Jahren kritisiere ich derartige Feiern als größten Sargnagel in der Zukunft dieses unseres schönen deutschen…
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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 13 Stunden
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