Gibt es ein Vor und Nach dem Brexit?
Händel: Natürlich. Der Brexit hat gezeigt, wie falsch es ist, mit der Einübung der direkten Demokratie so lange zu warten, bis wir in einer so gespaltenen Gesellschaft leben, wie es England mit seinem Zweiparteiensystem ist. Damit uns das nicht passiert, müssen wir jetzt dafür sorgen, dass wir auf kommunaler und auf Landesebene endlich regelmäßige Abstimmungen haben. Und dazu müssen die Verfahren noch bürgerfreundlicher werden.
Erler: Nehmen Sie unser Vorbild, die Schweiz. Die Gefahr ist zu groß, dass Abstimmungen gekapert werden. Es besteht die Angst, dass ganz wichtige Fragen wie das Ja zur EU auf der Kippe stehen. Die Schweiz ist ein wunderbares Beispiel dafür, was man mit Volksentscheiden gut machen kann. Aber auch dafür, wo das Ende der Fahnenstange erreicht ist, wenn Populismus grassiert.
Händel: Wenn wir uns nur auf die Gefahren fokussieren, geraten die Chancen völlig außer Sicht. Es ist einfach kein gesunder Zustand, wenn die Zivilgesellschaft auf Bundesebene praktisch außen vor gehalten wird, denn die meisten wichtigen Themen sind dort angesiedelt. Gerade hat das Verfassungsgericht den Mietendeckel in Berlin gestoppt, weil sowas auf Bundesebene geregelt gehört, wie auch die Gesundheitsvorsorge, die Weichenstellungen für Klimamaßnahmen und vieles mehr. Kretschmann selbst hat gesagt, dass es gerade in Koalitionen auch den Anstoß von außen braucht, damit etwas voran geht, wie zum Beispiel das Bienenvolksbegehren. Warum vergeben die Grünen hier die Chance, über Bande zu spielen? Damit die progressive Zivilgesellschaft der Politik Beine machen kann, brauchen wir das Recht, konkrete Vorschläge auf die Agenda zu setzen. Echter Handlungsdruck entsteht eben nur durch einen potenziellen Volksentscheid!
Erler: Die Zivilgesellschaft muss sich über Parteien einbringen, wenn es um Gesetze geht. Anders funktioniert das nicht. Die Zivilgesellschaft hat enorm viel erreicht in den vergangenen fünfzig Jahren. Die 68er, die Entstehung der Grünen, die Jugendbewegung, die Frauenbewegung, es ist ja nicht so, dass nichts passiert. Das Land ist heute ein völlig anderes Land als das, in dem ich vor fünfzig Jahren angefangen habe, Politik zu machen. Das war im Wesentlichen die Zivilgesellschaft, die das erreicht hat – über Personen, Institutionen und Parteien.
Händel: Aber es geht doch um eine vielfältige Demokratie, in der die verschiedenen Verfahren gegenseitig ihre Schwächen ausgleichen können.
Erler: Um die geht es mir doch auch ...
... und wie könnte dem im derzeit entstehenden Koalitionsvertrag Rechnung getragen werden?
Erler: Am wichtigsten finde ich die Möglichkeit zur Verzahnung von dialogischer Bürgerbeteiligung mit direktdemokratischen Elementen. Da sind wir beim Kern meiner ganzen Arbeit. Ich will erreichen, dass Verwaltungen die Angst vor den Bürgern verlieren. Dass wir sprechende Menschen haben, die als solche wahrgenommen werden, dass es bei Versammlungen nicht so zornig zugehen muss, weil Leute übergangen werden, die dich dann am Kittel ziehen und sagen, wie ungerecht sie behandelt werden. Da hat sich viel geändert, aber da muss sich noch mehr ändern.
Händel: Dem schließe ich mich sofort an. Wir merken, dass die Bürgermeister sich mittlerweile viel positiver verhalten, wenn es ein Bürgerbegehren gibt. Dass sie sagen, okay, diese Herausforderung möchte ich annehmen und einen guten Prozess gestalten. Früher haben sie sich direkt persönlich angegriffen gefühlt. Das ist ein Kulturwandel. Noch weiter würde ein Transparenzgesetz helfen, das bis auf die Kommunen heruntergeht. Informationen müssen dann immer proaktiv veröffentlicht werden, so dass ein automatisches Frühwarnsystem entsteht. So merken die Bürger, hier oder da gibt es Redebedarf, und sie könnten das auch früh anzeigen. Außerdem ist eine unserer großen Forderungen an die nächste Landesregierung, dass dieser unsägliche Kostendeckungsvorschlag wegfällt. Das größte Problem in unserer alltäglichen Beratungsarbeit von Initiativen ist, dass vorgelegt werden muss, was ein Vorhaben kostet und wie es bezahlt werden soll.
Erler: Die Idee ist doch nicht falsch, dass Leute sich Gedanken machen müssen, was es grob kosten würde, wenn sie sich mit ihren Vorstellungen durchsetzen.
Händel: Ja, das muss natürlich diskutiert werden, aber man kann auch einfach eine Kostenschätzung durch die Verwaltung machen. Auf Landesebene geht es momentan nicht um die Senkung der Quoren für Entscheide. Aber die Regeln, die wir haben, müssten besser und verständlicher sein, damit die Bürger nicht im Verwaltungsdschungel stecken bleiben. Und noch eine Sache ist wichtig: Wieso nicht die Digitalisierung nutzen und bürgerfreundliche Online-Unterschriftensammlungen möglich machen?
Erler: Digitalisierung macht den Unterschied, wie wir uns von Nordwürttemberg bis zum Bodensee, von Ostwürttemberg bis über die französische Grenze begegnen können. Da gehen Welten auf, weil Leute sich qualifizierter über Distanzen verständigen. Das ist eine Zeitenwende. Diese Möglichkeiten müssen wir bespielen und nutzen. Ich höre jetzt viele, die furchtbare Sorgen haben, dass sich die Leute nicht umarmen können. Das ist wahr. Aber ich sehe auch das Positive, wie ganz neue dialogische Formate entstehen. Wer hat denn ein Interesse daran, dass nur Grüne mit Grünen reden und nur Schwarze mit Schwarzen?
Händel: Die Seele der Demokratie ist das Gespräch. Ich möchte aber unbedingt noch etwas sagen - auch weil vorher von der Zufriedenheit der Menschen mit der Landesregierung die Rede war. Liebe Frau Erler, die ganzheitlich gedachte Beteiligung, die Sie von Anfang an gemacht haben, hat wirklich viel gebracht. Die wissenschaftliche Begleitung, die Vernetzung der beiden Standbeine, der dialogischen Beteiligung und der direkten Demokratie, das alles hat seinen Platz. Ich hatte das Gefühl, dass es in diesen zehn Jahren immer wieder ein bisschen eine emotionale Distanz gab, was ich etwas schade finde. Aber Ihre Authentizität, das wissen Sie selber, war für sehr viele Bürgerinnen und Bürger extrem wichtig, um glaubhaft diesen Weg mitgehen zu können. Und dafür möchte ich Ihnen danken.
Das Streitgespräch war praktisch vorbei, alle waren im Aufstehen, da musste Gisela Erler – nach dem Lob von Sarah Händel – doch noch etwas loswerden. Denn es gebe eine wunde Stelle und das seien die Migration, die Toten im Mittelmeer, der Umgang mit Afrika. Es breche ihr das Herz, wenn sie sehe, wohin weiter abgeschoben werde. Sie spricht von ihrem Dank für das wunderbare Engagement vor Ort in mehr als tausend Initiativen im Land, bei Pro Asyl oder im Flüchtlingsrat, was aber an einem nichts ändern könne: an der "dunklen Rückseite unserer Demokratie", und daran, dass die auslösenden Ursachen für all die Probleme auf diese Weise nicht zu beheben seien.
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Gaston
am 02.05.2021