Guten Abend, meine Damen und Herren,
wir begrüßen Sie zur Wochenschau. Mit ihrer Aktion [setzen Sie hier einen kalkulierten Tabubruch Ihrer Wahl ein] haben Tatort-Kommissar X, DSDS-Juror Y oder Fußball-Profi Z für Aufsehen gesorgt. Zusammen mit 100 anderen Gesichtern, die hier als bekannt vorausgesetzt werden, kritisierten sie unter dem Hashtag #[bitte ausfüllen], dass Kritiker mundtot gemacht werden. Rezipiert wurde der Anstoß zur Debatte in ausnahmslos allen Kolumnen und Feuilletons der Republik, in den Politmagazinen, Talkshows, Satire-Formaten, aber am intensivsten auf Twitter. Doch die Reaktionen sind geteilt. Die linksliberale Netzgemeinde reagierte erwartbar empört ("menschenverachtender Zynismus", "Querdenken/AfD-nahe Positionen" und ironische Verweise auf die Reptiloidenherrschaft). Zuspruch erhielt die Aktion hingegen von Boris Wagenknecht. So sei die Kritik vielleicht im Einzelnen überspitzt vorgetragen. Aber die Politik müsse die berechtigten Sorgen und Ängste der Bevölkerung ernst nehmen, damit sie nicht "aus Protest" eine Nazi-Partei wählen.
"Nicht alle, die den Kurs der Regierung in Frage stellen, sind Spinner, Verschwörungstheoretiker oder Rechtsradikale", stellt ein Teil der Medienlandschaft erneut fest. Aber wieder einmal ist es nicht die durchdachte Kritik, die große Aufmerksamkeit genießt; ventiliert werden wie gewohnt die am leichtesten zu widerlegenden Vorwürfe, wobei stets die übelsten Absichten unterstellt werden. Intelligente Analysen sind auch vorhanden, aber rar.
Wer sich zum tausendsten Mal zur inhaltlichen Auseinandersetzung nötigen lässt, sieht sich mit dem immer gleichen Mechanismus konfrontiert: Die Aufregung hat eine Halbwertszeit von drei bis allerhöchstens fünf Tagen. In dieser Zeitspanne spulen die altbekannten Gesichter des öffentlichen Diskurses wie [Gesicht A] oder [Gesicht B] ihre altbekannten Positionen ab. Zwei Mal im Jahr ändert ein Diskurspromi seine Meinung und verstört damit die bisherigen Fans. Alle Zeitungen reden über das gleiche Thema und über kaum noch was anderes. Und in spätestens zwei Wochen heißt es dann: rinse and repeat.
Um den nächsten Zyklus vorweg zu nehmen: 90 Prozent der Beiträge werden erneut völlig unbrauchbar sein. Ein paar der wenigen Höhepunkte sind beim "Bildblog" verlinkt. Den klügsten Text zur Debatte schreibt Samira El Ouassil auf "Übermedien". Georg Restle plädiert dafür, genauer zu differenzieren. Auf den "Nachdenkseiten" stellt Jens Berger viele Fragen. Und der ideelle Gesamtkolumnist Harald Fleischhauer moniert, dass es in einer Republik, in der die soziale Ungleichheit so groß ist wie nirgendwo sonst in Europa, eine Menge Mut braucht, sich gegen den linken Mainstream zu stellen.
Eine Wochenzeitung wie Kontext hat dabei schwer mit der Empörungskonjunktur zu kämpfen: Ereignet sich der Aufreger an einem Donnerstag oder Freitag ist das öffentliche Interesse bis zur Veröffentlichung am nächsten Mittwoch schon wieder abgeebt. Fällt die Kontroverse hingegen auf einen Montag oder Dienstag ist es meist zu kurzfristig, sie klug und hintergründig aufzuarbeiten. Und sollte die Sau der Woche an einem Samstag oder Sonntag durchs Dorf getrieben werden … ist unser Wochenende ruiniert. Da bleibt dann nur noch der "Tatort". Aber die KommissarInnen begnügen sich ja auch nicht mehr mit der Frage: Wo waren Sie zwischen 23 Uhr nachts und drei Uhr morgens?
Und manchmal hilft eine Anweisung, die gerne in Aufzügen klebt, so sie denn steckenbleiben: Ruhe bewahren.
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Tanja Tasche
am 01.05.2021