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Rosensteinquartier und Stuttgart 21

Die Katze im Sack

Rosensteinquartier und Stuttgart 21: Die Katze im Sack
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Die schwarz-rote Bundesregierung will wieder erlauben, Bahngleise rauszureißen und das Gelände zu bebauen. Das freut die Stuttgarter Tiefbahnhof-Fans, sahen sie doch das Rosensteinquartier in Gefahr. Sie können nun aufatmen. Aber in der Stadt wird es dann noch heißer.

Selbstverständlich hat auch die Landeshauptstadt Stuttgart einen Hitzeaktionsplan. Der sei kein einmalig abgeschlossenes Konzept, rühmt sich die zuständige Verwaltung, "sondern vielmehr ein dynamischer Prozess, der dauerhaft betreut und weiterentwickelt wird". Die größte Entlastung im sich aufheizenden Talkessel brächte eine einzige Maßnahme: das Gleisvorfeld hinter dem Hauptbahnhof mit seinen vielen nachts abkühlenden Schienen liegen zu lassen. Doch genau das will sogar die neue Bundesregierung verhindern.

Stuttgart 21 hat jedenfalls wieder einmal Berlin erreicht. In erster Lesung debattierten die Abgeordneten im Bundestag eine neue Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG). Denn die schwarz-rote Bundesregierung will, dass stillgelegte Gleisflächen doch vereinfacht bebaut werden dürfen. Eben dies hatte die Ampel-Regierung erst 2023 per erster Novelle im Prinzip verboten – Ausnahmen mussten ein "überragendes öffentliches Interesse" aufweisen, zum Beispiel Klimaschutzmaßnahmen. Wohnbebauung gehörte nicht dazu.

Das hätte das Aus für das Stuttgarter Rosensteinquartier bedeuten können. Nun wird die Uhr wieder zurückgedreht – und in Berlin bekennen sich die Fans zum Stuttgarter Tiefbahnhof. Faktenfern wie eh und je. Obwohl oder gerade weil der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Donth aus dem Wahlkreis Reutlingen kommt, schwärmt der Verkehrsobmann der Unionsfraktion förmlich von den entbehrlichen Gleisflächen und den mehr als 5.500 Wohnungen, die im Rosensteinquartier entstehen sollen. Sein Kollege Günter Baumgartner, beheimatet im fernen Niederbayern, nennt die Landeshauptstadt sogar als "prominentestes Beispiel", weil sie einen neuen Bahnhof bekomme und mit dessen Inbetriebnahme sich das Gebiet hinter dem alten Bahnhof städtebaulich entwickeln könne. "Hören Sie auf, bezahlbares Wohnen gegen die Zukunft der Bahn auszuspielen", kontert Luigi Pantisano, der neue Stuttgarter Linken-MdB, aufgebracht. 

Den Vogel schießt Anja Troff-Schaffarzyk ab. Die Sozialdemokratin aus dem maximal weit entfernten Wahlkreis Unterems in Niedersachsen distanziert sich sogar von Beschlüssen der SPD-geführten Ampelkoalition. Denn die hätten dafür gesorgt, dass "städtebauliche Sahnestückchen" der kommunalen Wohnungsentwicklung nicht zugänglich gewesen seien. "Wenn wir also diese freiwerdenden Flächen, wie beim Stuttgarter Beispiel, nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial und ökologisch weiterentwickeln, mit Grünräumen, bezahlbarem Wohnraum, kulturellen Nutzungen, mit guter Nahversorgung und guten Mobilitätsangeboten, dann schaffen wir neue Quartiere, die dem Anspruch an ein modernes, inklusives und klimagerechtes Stadtleben gerecht werden", behauptet sie. Die Vokabel "klimagerecht" in diesem Zusammenhang zu benutzen ist ausgesprochen mutig. Dabei ist seit über 14 Jahren bekannt, wie sehr das Projekt dem Stuttgarter Klima tatsächlich schadet. 

Es geht ums Geld, nicht ums Klima

Die Argumente sind leicht nachzulesen, die Protokolle der Schlichtung zu Stuttgart 21 nach dem "Schwarzen Donnerstag" am 30. September 2010 weiterhin verfügbar (Wortprotokoll der Schlichtung 19.11.2010, Stuttgart 21 Wiki). Ausführlich und mit Karten des Umweltamts wurde dargestellt, wie stark Gleisflächen nachts abkühlen. "Zusammenfassend kann man sagen, dass die Planung Stuttgart 21 das Stadtklima von Stuttgart nicht verbessert, sondern verschlechtert", fasst Meteorologe Jürgen Baumüller zusammen, "und um wie viel die Verschlechterung stattfindet, das ist eine Frage, was in welcher Dichte und in welcher Höhe man nachher das Gelände nutzen will." Baumann war seit 1973 der erster Stadtklimatologe in Deutschland. "Seit Mitte der 80er Jahre haben sich die jährlichen Tage über 25 Grad Celsius (Sommertage) von 40 Tagen auf über 90 Tage in Stuttgart mehr als verdoppelt", erinnerte er erst kürzlich in einer Stellungnahme zum Rosenstein-Quartier. Die Zahl der Tage über 30 Grad Celsius sei von zehn auf 30 angestiegen,  "und die Nächte mit einer Minimaltemperatur über 20 Grad Celsius, die früher kaum vorkamen, liegen nun bei zehn Nächten". Dies sei jedoch erst der Anfang des Klimawandels, denn "Jahreshöchsttemperaturen, die zurzeit in Stuttgart-Mitte bei 38 Grad Celsius sind, werden Mitte des Jahrhunderts die 40 Grad Celsius locker überschreiten". 

Als "weltweit gefragt" rühmte die "Stuttgarter Zeitung" Baumüller vor eineinhalb Jahren zu dessen 80. Geburtstag. Seine Erkenntnisse dagegen sind weder von der Stadt- noch der Landespolitik gefragt. Ganz im Gegenteil. Vor allem in Union und unter Liberalen ist die Zufriedenheit mit dem künftigen Paragraf 23, der im AEG die Gleisbebauung regelt, groß. Christian Jung, verkehrspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im baden-württembergischen Landtag, verbindet seinen Beifall mit dem Vorwurf, die Grünen und der frühere Bundesminister Cem Özdemir hätten die notwendigen Veränderungen zugunsten der Wohnbebauung "mit verschiedenen Tricks verhindert", was "einiges über deren Regierungsfähigkeit in der Zukunft aussagt". Wie diese Tricks ausgesehen haben könnten, verrät er nicht.

Der Käs' ist noch immer nicht gegessen

Die Landesregierung lädt zum Bahngipfel Anfang Juli, um – wieder einmal – mehr Transparenz und eine bessere Koordination anzumahnen. Konkret soll es diesmal darum gehen, wie die Auswirkungen der zusätzlichen Baustellen rund um die Inbetriebnahme von Stuttgart 21 für die Fahrgäste und die Stadt gering gehalten werden. Bei einer Ankündigung des Treffens machte der Ministerpräsident – ebenfalls wieder einmal – seinem grundsätzlichen Ärger Luft. Er habe nicht vergessen, wie "wir behandelt worden sind von diesem Konzern, ich habe nicht vergessen, mit welcher Arroganz wir abgebürstet worden sind, wir denen die Stirn geboten haben und heute tritt alles ein, was wir Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr gesagt haben". Verkehrsminister Winfried Hermann brachte sogar das Thema Entschuldigung auf. Er habe noch von niemanden, der damals gesagt habe, die Darstellungen der Gegner seien falsch, gehört, "tut mir leid, dass wir euch diese Vorwürfe gemacht haben". Unvergessen bleibt allerdings der Koalitionsvertrag mit der SPD 2011 und wie die Grünen nicht habe durchsetzen können, dass das Volksabstimmungsergebnis zum Weiterbau nach Schweizer Vorbild noch einmal im Landtag behandelt wird. Stattdessen hat sich Kretschmann gebeugt. Und das, obwohl, wie sein Ausbruch vor Journalist:innen zeigte, selbst für ihn ganz persönlich der Käs' eben doch nicht gegessen ist.  (jhw)

Auch sein CDU-Kollege Thomas Dörflinger liefert keine Belege für seine Behauptung, Grünen-Spitzenkandidat Özdemir habe mit seinem "Veto" im vergangenen Jahr die Entwidmung der Bahnflächen für Wohnbau "de facto unmöglich gemacht". Eine Art Zirkelschluss leistet sich der Diplom-Betriebswirt mit der Feststellung, die jetzige Kehrtwende in Sachen Paragraf 23 des Eisenbahngesetzes durch die neue Bundesregierung zeige, dass der bisherige Kurs falsch gewesen sei. Denn die Ampel habe den Bahnzweck als überragendes öffentliches Interesse zementiert – "selbst dann, wenn gar kein Verkehrsbedarf mehr bestand". Werner Sauerborn und das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 erinnern wiederum daran, dass Letzteres noch längst nicht belegt sei. Und vor allem die Grünen an ihre frühere Haltung.

Winfried Kretschmann und Peter Pätzold (beide Grüne) hatten an der Schlichtung, vorangetrieben von Heiner Geißler (CDU), teilgenommen. Der heutige Ministerpräsident war unter anderem dafür zuständig, die ökologische Bedeutung des Gleisvorfelds zu erläutern. Der heutige Stuttgarter Baubürgermeister Pätzold belegte damals detailliert, wie die geplante Bebauung für mehr Verkehr und für mehr Lärm im Talkessel sorgen würde.

Wie Pätzold war Werner Sauerborn vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 im vergangenen Dezember zur Eisenbahngesetz-Anhörung in den Bundestag geladen, ersterer von der CDU (!), der zweite von seiner Linken-Fraktion. Und der ruft Pätzold dessen Einschätzung von 2013 ins Gedächtnis, dass "einem Entwidmungsverfahren vermutlich nicht stattgegeben würde … sondern man weiterhin die Gleisflächen für Eisenbahnverkehr hätte". Sauerborn in seinem Bericht aus Berlin auf der 736. Montagsdemo: "Alle, die zu ihren besseren Zeiten den Widerstand gegen das Projekt noch angeführt hatten, argumentierten damals, die Stadt habe dem Bahnverkehr gewidmete Gleisflächen, also die Katze im Sack gekauft".

Eigentlich müsste das Tier längst draußen sein und laut gequält miauen. Denn der Klimawandel lässt eine Bebauung, wie sie einst geplant war, überhaupt nicht mehr zu. Erst kürzlich wurde in Stuttgart der heißeste 31. Mai aller Zeiten registriert, und auf dem Marktplatz fand ein "Hitzeaktionstag" statt, mit Infos über alle Themen rund um Hitzeschutz und die Bedeutung von Wasser und Grün. Stuttgart 21 wurde nicht thematisiert. Stattdessen hatte die lebens- und bürgernahe Stadtverwaltung heiße Tipps parat: "Nutzen Sie im Ernstfall nur die kühlsten Räume Ihrer Wohnung, auch wenn das der Keller sein sollte." Und weiter: "Sie können sich auch selbst mit Wickeln, kalten Bädern und feuchten Handtüchern kühlen."

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3 Kommentare verfügbar

  • Uli
    vor 1 Tag
    Antworten
    Warum gibt es keinen Kompromiss zwischen Totalbebauung und irgendwelche Gleise zum Abkühlen rumliegen lassen?
    Zum Beispiel ein ökologisches, kühlendes Konzept mit Wohnungen (mit grünen Dächern und Wänden), Bäumen, Parks, Stadtbach?
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