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S-21-Gleisflächen und Eisenbahngesetz

Faktenfreie Besserwisserei

S-21-Gleisflächen und Eisenbahngesetz: Faktenfreie Besserwisserei
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Die im vergangenen Jahr beschlossene Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes betrifft auch die künftige Nutzung der Gleisflächen, die durch Stuttgart 21 frei werden sollen. Deshalb arbeiten sich nicht nur Stuttgarts OB Frank Nopper, sondern auch SPD und FDP im Land daran ab – faktenfreie Behauptungen inklusive.

In knapp 16 Monaten wird wieder gewählt in Baden-Württemberg, und über dem Horizont zieht ein altbekanntes Thema auf, das seit zwei Jahrzehnten Wahlkämpfe mitgeprägt und den Machtwechsel 2011 entscheidend mitgefördert hat: Stuttgart 21. Aber rote und liberale Projektsfans sind nicht darauf aus, Ministerpräsident Winfried Kretschmann oder Verkehrsminister Winfried Hermann (beide Grüne) zu piesacken, sondern vor allem Cem Özdemir, den grünen Aufsteiger und Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 2026. Da kommt die Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) gerade recht.

Zur Erinnerung: Mit der im Oktober 2023 beschlossene Neufassung des AEG ist die Bebauung stillgelegter Gleisflächen nur noch unter ganz bestimmten Bedingungen möglich. Eine Bebauung der Gleisflächen, die im Zuge des Projekts Stuttgart 21 zugunsten eines Tiefbahnhofs irgendwann frei werden sollen, wäre danach unmöglich gemacht (Kontext berichtete). Die Materie ist komplex – und nach den Gesetzen moderner politischer Kommunikation deshalb besonders gut geeignet für simple Botschaften.

Im Vertrauen darauf, dass nicht viele Mitmenschen den nötigen Durchblick beim Thema AEG haben, packt Christian Jung, Verkehrsexperte der FDP-Fraktion im Südwest-Landtag, schon mal die Hellebarde aus. Auf diese Weise erlaubt der frühere Geschichtslehrer auch Einblicke in die Strategie seiner Partei. Denn ohne jeden Beleg, aber erfolgreich streut Jung die Vermutung, Özdemirs Bundeslandwirtschaftsministerium habe ein "Veto" gegen eine parteiübergreifend als notwendig erachtete und von der Ampel beschlossene neuerliche Reform des AEG eingelegt. Und damit blockiere er "seit Wochen grundlos eine nötige Gesetzesänderung". Die beiden verschmolzenen Stuttgarter Zeitungen StZ und StN bringen Jungs These als Frage unter die Leute: "Bremst Cem Özdemir bei Bahnflächen?"

Die Botschaft ist in der Welt als Startrampe immer neuer Behauptungen. Der Liberale legt bald nach und verwandelt seinen Verdacht in eine Feststellung: "Cem Özdemir verhindert, dass in Baden-Württemberg auf bisherigen und ungenutzten Bahnarealen dringend benötigter Wohnraum, aber auch Fahrradwege, Straßen und weitere Infrastruktur entstehen können." Damit zeige er, dass "er nicht Ministerpräsident werden darf und als Spitzenkandidat der Grünen ungeeignet ist".

Jung belegt selbst, dass er Kokolores verbreitet

Alles Kokolores, wofür Jung höchstpersönlich den besten Beleg liefert. Denn er empfiehlt in einer schriftlichen Antwort auf eine Kontext-Anfrage, zum Stand der Dinge im Berliner Agrarministerium "die konkrete Vorgehensweise" zu erfragen. Keine komplizierte Übung übrigens, der er sich vor seinen Frontalangriffen sehr gut selbst hätte unterziehen können. Erfahren hätte er, dass Özdemirs Haus für sich in Anspruch nimmt, kein Veto gegen eine erneute Novelle des AEG eingelegt zu haben, sondern lediglich eine frühzeitige Einbindung der drei Ampelfraktionen im Bundestag verlangt habe. Auch um die inzwischen sattsam bekannte Strategie zu unterlaufen, dass die FDP-Ressortchefs Kompromissen mit ihren Koalitionspartnern SPD und Grünen am Kabinettstisch zwar zustimmen, dann aber dafür sorgen, dass sie im Parlament durch eigene Parteifreund:innen wieder aufgeschnürt werden.

"Wir wollen, dass die wichtigen Anpassungen im Gesetz schnell kommen", sagt Özdemir, "deshalb drängen wir auf eine schnelle Abstimmung und ein ordentliches Verfahren, das die Fraktionen so früh wie möglich an Bord holt." Und sein Haus erinnert daran, dass die veränderte Formulierung nicht im Bundeslandwirtschafts-, sondern im Bundesverkehrsministerium von Volker Wissing (FDP) hängen blieb. Und das habe seit dem 4. Oktober keinerlei Anstrengungen unternommen, mit allen Fraktionen eine Klärung in dieser Sache herbeizuführen.

Mit losgetreten hat die seit Wochen wabernde Debatte um das AEG und die Nutzung alter Bahnflächen ausgerechnet einer, der sich selbst gerade als irrlichternd und faktenunsicher erwies: Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper sollte für seine CDU nach der Vorstellung von Landes- und Fraktionschef Manuel Hagel den Beweis liefern, dass die Partei Großstadt kann. Doch Nopper zeigte sich nicht erst in der SWR-Produktion "Amt am Limit" überfordert (Kontext berichtete). Schon im Sommer wetterte er in Bezug auf das AEG gegen die "kollektive legislative Verirrung" in der Bundesregierung, weil diese, so Nopper, in Zeiten größter Wohnungsnot den Bau von fast 6.000 innerstädtischen Wohnungen für rund 10.000 Menschen blockiere und eine städtebauliche Jahrhundertchance für Stuttgart unmöglich gemacht werde.

Auch ohne AEG wird vorerst nicht gebaut

Die Realität ist: Ganz unabhängig davon, ob die Novelle schneller oder langsamer kommt, wird auf den betroffenen Arealen in der Landeshauptstadt in den nächsten Jahren sowieso überhaupt nicht gebaut werden. Weshalb sogar die "Süddeutsche Zeitung" danebenliegt, wenn sie die AEG-Novelle im Zusammenhang mit Stuttgart 21 einordnet als einen "Schildbürgerstreich, der den Wohnungsbau gefährdet". Den nämlich gefährdet ganz anderes. Und Hannes Rockenbauch, Vorsitzender der Fraktionsgemeinschaft "Die FrAktion" im Stuttgarter Gemeinderat, schließt deshalb überhaupt nicht mehr aus, dass statt irgendwann im kommenden Jahrzehnt gar nie gebaut werden kann. Denn: Die Liste der Risiken hat Überlänge und reicht vom aufwändigen Artenschutz auf den freiwerdenden Flächen bis hin zu den riesigen Sanierungs- und Erschließungskosten auf dem alten Bahngelände.

Der frühere Linken-Chef Bernd Riexinger hält das Ganze für einen Treppenwitz: "Wer glaubt ernsthaft, dass ausgerechnet in bester Citylage, angrenzend an den Rosensteinpark, bezahlbare Wohnungen entstehen?" Außerdem: Auf S 21 zu bauen bedeute, die Wohnungssuchenden auf mindestens 2040 zu vertrösten, "denn so lange würde es dauern, bis die ersten Wohnungen gebaut sind". Schon seit Heiner Geißlers Schlichtung im Herbst 2010 bekannt und nie widerlegt sind die fatalen Folgen fürs Stadtklima in heißen Sommern, wenn die Gleisflächen nicht mehr wie heute in der Nacht abkühlen und so helfen, im Talkessel die Tagestemperaturen erträglich zu machen.

Aber: bloß keine störenden Tatsachen. Konsequent bastelt der Liberale Jung weiter am wahrheitswidrigen Eindruck, der sich aus FDP-Sicht möglichst früh festsetzen soll, dass Özdemir als Blockierer einer raschen Neunutzung des Areals ungeeignet ist für den Chefposten im Land. Jung möchte ihn, ganz im Bild bleibend, "aufs Abstellgleis" schieben. Auf Facebook verbreitet er Falschdarstellungen als "Facts".

Überlebenskampf trifft Realitätsflucht

So sehr also färbt der ausgebrochene Überlebenskampf der FDP im Bund auf das vielbeschriebene Stammland ab, in dem die Partei noch nie aus dem Landtag geflogen ist und mit Reinhold Maier einst den ersten Ministerpräsidenten gestellt hat. In dem aber auch der alte Merksatz des früheren FDP-Landes- und Fraktionschefs Walter Döring gilt, wonach die Hände der heimischen Liberalen feucht werden, sobald in der Demoskopie die Sieben auftaucht. Im Baden-Württemberg-Trend von Infratest dimap in der zweiten Oktober-Woche liegt die Südwest-FDP bei fünf Prozent, wenig später wartet das Meinungsforschungsinstitut Insa mit sechs auf.

Zudem zeigt der Vorgang, wie sich Stuttgart-21-Fans weiterhin jeder Realität entziehen oder wider besseres Wissen das inzwischen in nahezu jeder Beziehung aus dem Ruder gelaufene Milliardenprojekt immer noch schönreden. Wie Jung will auch der verkehrspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion Jan-Peter Röderer einen vermeintlichen Elfmeter verwandeln und schießt stümperhaft daneben. Beide Parlamentarier greifen eine Passage aus dem Magazin "Spiegel" über den grünen Spitzenkandidaten auf: Das Milliardenbahnprojekt Stuttgart 21 kanzele dieser ab als "unfassbare Fehlplanung", die acht Gleise im neuen Tiefbahnhof reichten nicht aus für das erwartbare Passagieraufkommen. Und: "Alle Bahnexperten dieser Welt greifen sich an den Kopf, da haben sich CDU-Granden ein Denkmal gesetzt", zitiert der "Spiegel" Özdemir.

Röderer liest aus dieser Bewertung des Projekts "mögliche Motive für eine Blockade" des AEG heraus. "Die Vermutung, dass man sich hier vielleicht doch noch eine Hintertür offenhalten möchte", sei nicht aus der Luft gegriffen. Jung wiederum kritisiert auf X Özdemirs "unfachliche Besserwisserei zu Stuttgart 21" und dass er wie beim AEG dem ganzen Bundesland schade. Das Gegenteil trifft zu, im einen wie im anderen Falle. Denn erst einmal sind die von den Ampelparteien SPD, Grünen und FDP reformierten Regelungen ziemlich nützlich: zum Beispiel deshalb, weil die Revitalisierung stillgelegter Bahnstrecken nicht nur durch Partikularinteressen einer einzigen Anrainerkommune, etwa die Ausweisung eines neuen Gewerbegebiets, verhindert werden kann.

Wenn Fragen plötzlich zu Fakten werden

Kundgebung zum AEG am 7. November

Der Tiefbahnhof-Fans Freud' ist der Projektkenner:innen Leid: Mit einer Protestkundgebung am Donnerstag um 16 Uhr vor dem Rathauseingang will das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 für eine Beibehaltung des vor einer neuerlichen Novelle stehenden Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) demonstrieren. "Am 7. November will der Stuttgarter Gemeinderat beschließen, das Bundesverfassungsgericht anzurufen, um ein Bundesgesetz wieder zu kippen, das die Bebauung der Kopfbahnhofgleise und die Abkoppelung der Gäubahn verunmöglicht", heißt es in der Einladung unter der Überschrift "Rosensteinbebauung ade! Kein Sondergesetz S 21!" weiter. Die bisherige Novellierung des AEG verfolge ein richtiges und wichtiges Ziel, denn der seit vielen Jahren schleichende Abbau von Schieneninfrastruktur, die Ursache des Niedergangs der Bahn in Deutschland, solle gestoppt werden. Mit Anlass des Aufrufs die Novelle der Novelle und, wie Projektbefürworter "sachwidrig die Behauptung nach Berlin tragen, die Kopfbahnhofgleise seien entbehrlich, weil demnächst Stuttgart 21 in Betrieb gehe und genügend Kapazität für die nächsten Jahrzehnte habe". Vorwand für die Demontage der Kopfbahnhofgleise sei die angeblich dringend benötigte Wohnbebauung auf den Gleisflächen. "Menschen, die jetzt verzweifelt eine Wohnung suchen, dürfen aber nicht auf die 2040er-Jahre vertröstet werden, zumal die vollständige Inbetriebnahme des Tiefbahnhofs in den Sternen steht", schreibt das Aktionsbündnis weiter. Zudem sei das Rosensteinprojekt klimapolitisch unverantwortlich, weil es die für die Innenstadt wichtige Frischluftschneise zubaut. Auch deshalb müsse das AEG bleiben.  (jhw)

Nicht zu bestreiten ist, dass das AEG in seiner jetzigen Form Auswirkungen auf Stuttgart 21 hat. Sogar Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann wandte sich deshalb brieflich an seinen Bundeskollegen Wissing mit der Bitte um eine Neuregelung. Ziel müsse sein, schreibt Hermann, "dass die zuständigen Behörden unterschiedliche Nutzungsinteressen zu einem sachgerechten Ausgleich bringen können". Um genau das zu befördern, wehrt Özdemir sich gegen Angriffe und Falschdarstellungen, die von einem "Veto" wissen wollen. Und die nicht nur von FDP- oder SPD-Landespolitikern kommen. Die StZN wollen vom Fragezeichen – siehe oben – nichts mehr wissen, sondern berichten über "die Vorbehalte" Özdemirs mit einem Mal als Faktum und darüber, wie er diese Vorbehalte aufhebe und sich "im Streit um die Gleisflächen bewegt". Andere Blätter sind ebenfalls nicht zimperlich beim Schüren von grundloser Aufregung. "Özdemir schießt zurück", heißt es zum Beispiel in der "Südwestpresse".

Aber nicht nur er: Özdemir hat einen Sekundanten in der Person des Landesverkehrsministers, der selbst im Wochentakt Ziel oppositioneller Angriffe ist, speziell durch Jung. Die FDP im Land, sagt Winfried Hermann, greife "uns Grüne an, um von Versäumnissen des eigenen Bundesministers abzulenken". Gerade deshalb sei zu begrüßen, wie jetzt eine vernünftige Lösung auf den Weg gebracht worden sei. Die Novelle der AEG-Novelle wird wiederum höchst komplex sein und deshalb vor allem Fachleuten zugänglich. Die Bekenntnisse zu und die Schönfärbereien bei Stuttgart 21 samt dem realen Geschehen auf den Gleisflächen kommen dagegen in jedem Fall auf den öffentlichen Prüfstand: Dann nämlich, wenn der Tiefbahnhof nach und nach ans Netz geht und sich herausstellt, dass er nicht leisten kann, was er muss.

Jung dreht dennoch immer weiter am ganz großen Rad, sieht die Gesetzeskorrektur auf dem Tisch, selbstverständlich nicht dank Özdemir, sondern dank "ausführlicher Diskussion mit Berichterstattung". Damit sei "die erhebliche Gefahr für die Wohnbebauung auf den durch Stuttgart 21 freiwerdenden Flächen abgewendet". Und noch einen Satz posaunt er raus, ohne Hemmungen, er könnte auf ihn selber zurückfallen: "Politische Arbeit sollte man nicht mit unstrukturierter und opportunistischer Öffentlichkeitsarbeit verwechseln." Stimmt, wohl aber nicht für Jung.

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2 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 08.11.2024
    Antworten
    „So sehr also färbt der ausgebrochene Überlebenskampf der FDP im Bund auf das vielbeschriebene Stammland ab, …“
    SWR Interview der Woche
    08.11.2024 FDP-Fraktionschef Dürr fordert mehr Menschlichkeit in der Politik
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