Der frühere Linken-Chef Bernd Riexinger hält das Ganze für einen Treppenwitz: "Wer glaubt ernsthaft, dass ausgerechnet in bester Citylage, angrenzend an den Rosensteinpark, bezahlbare Wohnungen entstehen?" Außerdem: Auf S 21 zu bauen bedeute, die Wohnungssuchenden auf mindestens 2040 zu vertrösten, "denn so lange würde es dauern, bis die ersten Wohnungen gebaut sind". Schon seit Heiner Geißlers Schlichtung im Herbst 2010 bekannt und nie widerlegt sind die fatalen Folgen fürs Stadtklima in heißen Sommern, wenn die Gleisflächen nicht mehr wie heute in der Nacht abkühlen und so helfen, im Talkessel die Tagestemperaturen erträglich zu machen.
Aber: bloß keine störenden Tatsachen. Konsequent bastelt der Liberale Jung weiter am wahrheitswidrigen Eindruck, der sich aus FDP-Sicht möglichst früh festsetzen soll, dass Özdemir als Blockierer einer raschen Neunutzung des Areals ungeeignet ist für den Chefposten im Land. Jung möchte ihn, ganz im Bild bleibend, "aufs Abstellgleis" schieben. Auf Facebook verbreitet er Falschdarstellungen als "Facts".
Überlebenskampf trifft Realitätsflucht
So sehr also färbt der ausgebrochene Überlebenskampf der FDP im Bund auf das vielbeschriebene Stammland ab, in dem die Partei noch nie aus dem Landtag geflogen ist und mit Reinhold Maier einst den ersten Ministerpräsidenten gestellt hat. In dem aber auch der alte Merksatz des früheren FDP-Landes- und Fraktionschefs Walter Döring gilt, wonach die Hände der heimischen Liberalen feucht werden, sobald in der Demoskopie die Sieben auftaucht. Im Baden-Württemberg-Trend von Infratest dimap in der zweiten Oktober-Woche liegt die Südwest-FDP bei fünf Prozent, wenig später wartet das Meinungsforschungsinstitut Insa mit sechs auf.
Zudem zeigt der Vorgang, wie sich Stuttgart-21-Fans weiterhin jeder Realität entziehen oder wider besseres Wissen das inzwischen in nahezu jeder Beziehung aus dem Ruder gelaufene Milliardenprojekt immer noch schönreden. Wie Jung will auch der verkehrspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion Jan-Peter Röderer einen vermeintlichen Elfmeter verwandeln und schießt stümperhaft daneben. Beide Parlamentarier greifen eine Passage aus dem Magazin "Spiegel" über den grünen Spitzenkandidaten auf: Das Milliardenbahnprojekt Stuttgart 21 kanzele dieser ab als "unfassbare Fehlplanung", die acht Gleise im neuen Tiefbahnhof reichten nicht aus für das erwartbare Passagieraufkommen. Und: "Alle Bahnexperten dieser Welt greifen sich an den Kopf, da haben sich CDU-Granden ein Denkmal gesetzt", zitiert der "Spiegel" Özdemir.
Röderer liest aus dieser Bewertung des Projekts "mögliche Motive für eine Blockade" des AEG heraus. "Die Vermutung, dass man sich hier vielleicht doch noch eine Hintertür offenhalten möchte", sei nicht aus der Luft gegriffen. Jung wiederum kritisiert auf X Özdemirs "unfachliche Besserwisserei zu Stuttgart 21" und dass er wie beim AEG dem ganzen Bundesland schade. Das Gegenteil trifft zu, im einen wie im anderen Falle. Denn erst einmal sind die von den Ampelparteien SPD, Grünen und FDP reformierten Regelungen ziemlich nützlich: zum Beispiel deshalb, weil die Revitalisierung stillgelegter Bahnstrecken nicht nur durch Partikularinteressen einer einzigen Anrainerkommune, etwa die Ausweisung eines neuen Gewerbegebiets, verhindert werden kann.
Wenn Fragen plötzlich zu Fakten werden
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Jue.So Jürgen Sojka
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