Auf den ersten Blick war es eine Situation, die einem sehr vertraut vorkam an diesem Abend der Landtagswahl in Brandenburg am 22. September. In der ARD stand Wahlmoderator Jörg Schönenborn körpersprachlich sehr aktiv vor einer Infowand und erläuterte eine Statistik, die, so schien es, viel erklärte. Man war aufgrund der vermeintlich geringen Spektakularität kurz davor, die Aufmerksamkeit auf den Second Screen zu verlagern, als es einem dämmerte, dass die Grafik, die Schönenborn da erläuterte, Ausdruck eines journalistischen Unfalls war. Sie zeigte eine Umfrage, die die ARD bei Infratest Dimap in Auftrag gegeben hatte. Die Frage lautete: "Wer ist vor allem verantwortlich dafür, dass in den letzten Jahren so viele Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind?" Als Antwortmöglichkeiten waren Parteien vorgegeben. Ergebnis: 55 Prozent der Teilnehmenden hielten die CDU/CSU für hauptverantwortlich, zwölf die SPD, zehn die Grünen.
Die Gestaltung der Umfrage mag dem Gefühlshaushalt mancher Bürger gerecht werden. Aber ist es vertretbar, aus Opportunismus einfach mal eben die so basale wie banale Erkenntnis zu ignorieren, dass für die Flucht von Menschen aus ihrem Land nicht einzelne Parteien verantwortlich sind, sondern Kriege, Bürgerkriege, Diktatoren, Hunger und die Klimakrise? Warum geben Redaktionen unjournalistische Umfragen in Auftrag?
Ende September ein vergleichbar irritierendes Erlebnis im ZDF. Anne Gellinek fragte im "Heute-Journal" den Grünen-Politiker Anton Hofreiter: "Würden Sie bestreiten, dass das Heizungsgesetz der Grund dafür ist, dass die Grünen das Image haben, eine Verbotspartei, eine Bevormundungspartei zu sein und eine Ökodiktatur in Deutschland errichten zu wollen? Das war, natürlich, das Heizungsgesetz." Hofreiter konterte zwar angemessen: "Man sollte diese Kulturkampfbegriffe von ganz rechts außen nicht einfach immer so übernehmen. Das schadet am Ende allen." Seinem finsteren Blick in dieser Situation merkte man aber an, dass er wusste: Wenn bereits die stellvertretende Chefredakteurin des ZDF "Kulturkampfbegriffe von ganz rechts außen" übernimmt, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass es jemandem schadet, eher gering.
Was Gellinek hier offenbarte: Dass sie nicht willens oder in der Lage ist, Kritik an den Grünen zu formulieren, ohne auf realitätsfremde Schlagworte von Propaganda-Strategen zurückzugreifen. Indem Gellinek diese Begriffe in einem Interview in einer renommierten Nachrichtenmagazin verwendet, adelt sie sie zu ernstzunehmenden Debattenäußerungen.
Warum wird so jemand Journalist?
Anbiedern beim Publikum und realitätsfernes rechtes Framing – das sind nur zwei ungute Entwicklungen, die einem derzeit in den etablierten Medien auffallen. Eine weitere: Die, sagen wir mal, unternehmerfreundlichen Stimmen, die schon immer stark waren, werden schärfer. Der Leiter des FAZ-Wirtschaftsressorts forderte kürzlich die Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf 80 Prozent. Seine Argumentation: "Eine geringere Lohnfortzahlung wird jeden potentiellen 'Blaumacher' zum Nachdenken bringen, ob er oder sie es sich wirklich leisten kann, krankzufeiern."
Fast zeitgleich knöpfte sich ein Kommentatorenkollege vom "Stern" Mitarbeitende von VW sowie die für sie zuständigen Gewerkschafter vor, die Ihren Unmut über vom Konzern geplante Sparmaßnahmen geäußert hatten. Das "Problem", so der Autor, sei: "Wer bei Volkswagen arbeitet, hat über Jahrzehnte wie die Made im Speck gelebt (…) Ein VW-Vertrag ist wie ein Lottoschein mit sechs Richtigen."
Solche Kommentare werfen auch die Frage auf: Warum sind diese Menschen eigentlich Journalisten geworden?
Matthew Powers, außerordentlicher Professor für Kommunikation an der University of Washington, schreibt, als Beruf sei "der Journalismus für viele Menschen attraktiv", unter anderem, weil er "sozial nützlich" sei. In dieser Hinsicht ähnele er "den ansonsten sehr unterschiedlichen Berufen" wie Krankenpflege, Lehrtätigkeit, Sozialarbeit und Pflege. Powers schreibt weiter: "Dies sind ‚Berufungen‘, wie sie der Soziologe Max Weber vor mehr als einem Jahrhundert beschrieben hat. Auf der Grundlage eines starken persönlichen Engagements versprechen Berufungen Anerkennung und ein Gefühl des Selbstwerts für eine Arbeit, die mit umfassenderen Werten verbunden ist: Menschen zu heilen, Ungerechtigkeit zu bekämpfen, Wissen zu vermitteln, der Sache der Demokratie zu dienen."
Diese Zeiten hat es gegeben. Aber wird die Mehrheit der heutigen Journalist:innen noch davon angetrieben, etwas "sozial Nützliches" zu tun, gar "Ungerechtigkeit bekämpfen" zu wollen? Wenn man sich die Berichterstattung zum Beispiel zu den dominierenden Themen Bürgergeld und Migration anschaut, kann man nur antworten: Ein Großteil der Branche vermittelt eher einen gegenteiligen Eindruck.
Besessen vom Bürgergeld
Vom Bürgergeld sind viele Journalist:innen so besessen wie die Politiker von CDU/CSU, FDP und BSW. Im "Presseclub" der ARD, der sonntags eine Journalist:innenrunde diskutieren lässt, stand Mitte September das Thema "Bröckelnder Beton: Wie marode ist unsere Infrastruktur?" auf dem Programm. Eigentlich ging es also gar nicht ums Bürgergeld, trotzdem musste Antje Höning von der "Rheinischen Post" unbedingt folgende Botschaft unterbringen: "Anstatt das Bürgergeld um zwölf Prozent zu erhöhen, wäre der Staat gut beraten, mehr in den Erhalt der Infrastruktur zu stecken." Zum Zeitpunkt der Sendung hatte das Bundesarbeitsministerium bereits angekündigt, dass das Bürgergeld 2025, anders als zu Beginn dieses Jahres angekündigt, nicht um zwölf Prozent erhöht wird, sondern gar nicht.
Wie kommt man dazu, alleinstehenden Erwachsenen zu missgönnen, dass sie mehr als 563 Euro im Monat bekommen? Höning ist Jahrgang 1967, aber dass neue Hönings heranwachsen, scheint programmiert zu sein. Die Wirtschaftsressortchefin der "Rheinischen Post" leitet auch die Journalistenschule der Regionalzeitung.
7 Kommentare verfügbar
Alexnader
vor 3 WochenDer Autor wird garantiert damit konfrontiert sein die Kinder in einer Schule mit hohem Migrantenanteil zu schicken. Oder eine günstige Wohnung in einer Großstadt zu suchen. Unsere Wirtschaft…