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Bauernproteste und Medien

Fake News zur Primetime

Bauernproteste und Medien: Fake News zur Primetime
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Wenn die Zeiten kompliziert sind, wäre seriöse Berichterstattung besonders gefragt. Bei den aktuellen Bauernprotesten zeigt sich aber einmal mehr, wie sehr in vielen Redaktionen Klicks, Quote und Zuspitzung auf Teufel komm raus regieren.

"Um 1.50 Uhr schlich sich Habeck zurück an Land", heißt es auf der Startseite von "Bild.de", "nach Bauern-Wut". Beim Klick auf den Text klingt die Schilderung der Nacht vom 4. auf den 5. Januar, als protestierende Bauern am Fährhafen Schüttsiel in Schleswig-Holstein den Anlegekai für die Fähre mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck blockierten, zwar ein klein wenig nüchterner. Aber Platz bleibt natürlich nicht für die Info, dass der Fährhafen in einem Landkreis liegt, der dank fast 18.000 Euro EU-Mittel für Landwirte pro Quadratkilometer das bundesweite deutsche Förderranking mitanführt. Und das Foto im Artikel zeigt, dass der grüne Vizekanzler im Norweger-Pullover keineswegs schleicht wie ein Dieb in der Nacht, sondern aufrechten Gangs Festland betritt. Aber das ist den Verfasser:innen egal.

Was zählt, sind die Assoziationen beim Wort "schleichen". Jedes Verb hat einen Oberton. Wer schleicht, der drückt sich, hat Angst oder etwas auf dem Kerbholz. So oder so wird der Grüne mit voller Absicht in ein schiefes Licht gerückt. Prompt dreht Alice Weidel, die Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, die Schraube fester: "Statt den Dialog zu suchen, begeht er lieber Fährenflucht." Das stimmt noch weniger, denn Habeck bot durch Polizeibeamte vor Ort und im Netz dokumentiert ein Gespräch an, das die Demonstranten verweigerten. Aber Weidel bekommt viel Zustimmung aus ihrer Echokammer. Und "bild.de" wird immer weiter verbreitet. Im November 2023, zum Beispiel, hatte das Portal laut der Online-Plattform "Statista" 203 Millionen Besuche.

Selbst in gediegenen Redaktionen wecken solche Zahlen Begehrlichkeiten. Crime ("Polizisten finden vermisste 13-Jährige – die beißt zu"), Sex ("Lernen Sie Ihre Vagina kennen") oder exzessiver Klatsch und Tratsch über Promis kitzeln das Publikum. Starke Dramatisierung auch, wie sich bei der aktuellen Berichterstattung zu den Bauernprotesten in Deutschland beobachten lässt.

Ein Check der Online-Auftritte vieler deutscher Tageszeitung zu Wochenbeginn belegt, dass Eyecatcher wie "Chaos-Tage", "Wut", "Mobilmachung" oder "Proteste live" maximales Interesse erzeugen. Behauptung bleiben unwidersprochen stehen. Etwa, wenn Agrarminister:innen von CDU und CSU in einer gemeinsamen Pressemitteilung in die Welt setzen, dass "Agrardiesel in allen EU-Nachbarstaaten weiterhin zum Teil sogar erheblich steuerlich begünstigt" werde. Stimmt nicht: Tatsächlich ist die Belastung nach den offiziellen Zahlen aus Brüssel in Italien oder Tschechien gleich hoch, in Österreich deutlich höher, während es in den Niederlanden, in Griechenland, Polen oder der Slowakei überhaupt keine Entlastung landwirtschaftlicher Betriebe an der Zapfsäule gibt.

Falschdarstellungen auch im Öffentlich-Rechtlichen

Auch über Interviews und sogar zur Primetime und im öffentlich-rechtlichen Rundfunk werden Falschdarstellungen millionenfach verbreitet. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) darf unwidersprochen erklären, in Sachen Tierwohl gebe es keine Unterstützung für deutsche Landwirt:innen. Es sind wahrlich keine kleinen Redaktionsteams in ARD und ZDF, die solche Sendungen vorbereiten und Pros und Contras heranschaffen sollten. So hätte Wüst entgegengehalten werden müssen, dass es nicht nur Geld von einzelnen Ländern gibt, sondern dass beispielsweise eine Milliarde Euro vom Bund in die neue und deutlich aufwändigere Schweinehaltung fließt. 

Bayerische Populismus-Koalition

Die Union wäre – zu Recht – außer sich gewesen, hätten Grüne, Linke oder Sozialdemokrat:innen frühere Krisen genutzt, um aus der Opposition heraus nicht nur die Regierung, sondern gleich das ganze Land schlechtzureden. So manche Schwarze kennen in dieser Hinsicht keine Hemmungen, und Bayerns Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) sowieso nicht. Auf der Winterklausur der CSU im Kloster Seeon bejammert deren Landesgruppenchef im Bundestag Alexander Dobrindt vor laufenden Kameras aus Anlass der Bauernproteste, wie die Ampel Unordnung und eine Polarisierung ins Land bringe, wie er sie seit Jahren nicht erlebt habe: "Man sieht, Deutschland droht zu kippen." Aiwanger geht noch einen Schritt weiter. "Die Schuld für die Bauernwut", sagt er auch in Bezug auf Robert Habecks Fährenerlebnisse, "liegt allein bei der existenzgefährdenden Ampelpolitik." Keine klare Distanzierung von den Rechtsaußen-Aktionen, stattdessen wieder einer seiner berühmt-berüchtigten Ausritte gegen "die da oben" in Berlin, "die eine Kuh von einer Sau nicht unterscheiden können". Und dann posiert er für die Fotografen noch auf einem dieser hochsubventionierten 180-PS-Riesentrecker.  (jhw)

Ein Argument dafür, Leser-, Hörer-, Seher- und Nutzer:innen anstrengende Details zu ersparen, ist deren – nicht nur unterstellte, sondern in Untersuchungen durchaus belegte – immer bescheidener werdende Aufmerksamkeitsspanne. In der Tat wird es komplex, wenn sich die frühere Bundeslandwirtschaftsministerin Renate Künast (Grüne) zum Thema Subventionen auslässt, zu falsch gesetzten Exportschwerpunkten, zum Stallbau oder zum nicht gerade problemorientierten Kaufverhalten im Klimawandel. Überhaupt nicht erhellend dagegen sind viele der TV-Straßenumfragen zum Beginn der Bauernproteste, weil aufgebrachte Teilnehmer:innen Zuständigkeiten in Berlin und Brüssel oder der eigenen Landesregierung durcheinander bringen, weil sie notwendige Kontrollen oder die ausführliche Antragstellung bei Förderungen mit Bevormundung und Bürokratie verwechseln. Ungewollt geliefert werden auf diese Weise vielfach Zufallsbelege dafür, wie der moderne Medien-Schnellkonsum selbst bei Direktbetroffenen erhebliche Wissenslücken hinterlässt, die nur allzu leicht polemisch gefüllt werden.

Ein Beispiel: Das Ende des "Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung", das 2019 von Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) eingesetzt wurde und vorgeschlagen hatte, dass Verbraucher:innen bei gleichbleibendem Verzehr tierischer Produkte durchschnittlich mit 35 Euro pro Kopf und Jahr zusätzlich belastet werden sollten zugunsten der Tierwohl-Förderung. Die Pläne versandeten. Klöckners Nachfolger Cem Özdemir belebte das Gremium wieder, und als es sich im vergangenen Sommer auflöste, weil die Finanzierung zentraler Vorschläge wieder nicht gesichert war, fielen Unionspolitiker:innen ungeniert über den Grünen und sein "Versagen auf ganzer Linie" her.

Würden helfen: Fakten, Fakten, Fakten

Interessant ist beispielsweise auch der Blick auf die Milliarden-Werte in Gestalt von Traktoren, die – oft ohne Erlaubnis – dieser Tage auf Autobahnen und Bundesstraßen den Verkehr lahmlegen. In den ersten drei Quartalen 2023 wurden republikweit 26.000 dieser Fahrzeuge neu zugelassen. Für das "wahre Kraftpaket", wie der aktuelle Marktführer wirbt, ist ein Basispreis von schlappen 367.000 Euro ausgewiesen. Oder: Laut dem Portal "agrarheute" war für einen durchschnittlichen Haupterwerbsbetrieb die Erstattung von 21,48 Cent pro Liter Diesel im Wirtschaftsjahr 2020/21 insgesamt fast dreitausend Euro wert, circa sechs (!) Prozent der Subventionen insgesamt. Oder dazu, wie rasant steigende Preise für Grünlandpacht im Norden, im Osten und auch in Baden-Württemberg massiv auf die finanzielle Belastung durchschlagen. Agrarökonom:innen erläutern, dass Betriebe größer werden wollen, um ein Überleben zu sichern, sich zugleich aber gegenseitig überbieten, um an neue Flächen zu kommen.

15 Töpfe

Die Fördertöpfe für Landwirtschaft in Baden-Württemberg (Summe aus EU-, Bundes- und Landesmitteln) im Jahr 2023:

  • Förderprogramm für Agrarumwelt, Klimaschutz und Tierwohl (FAKT II): 108 Mio. Euro
  • Landschaftspflegerichtlinie (LPR): 33 Mio. Euro
  • Ausgleichszulage Landwirtschaft (AZL): 36 Mio. Euro
  • Nachhaltige Waldwirtschaft (NWW): 6 Mio. Euro (nur ELER; insgesamt ca. 28,5 Mio. Euro)
  • Umweltzulage Wald (UZW): 1 Mio. Euro
  • Agrarinvestitionsförderungsprogramm (AFP) inkl. Junglandwirteförderung: 40 Mio. Euro
  • Diversifizierung: 7,5 Mio. Euro
  • Förderung von Investitionen in kleine landwirtschaftliche Betriebe: 3,6 Mio. Euro
  • Marktstrukturverbesserung: 13 Mio. Euro
  • Beratung landwirtschaftlicher Betriebe: 7 Mio. Euro
  • Zusammenarbeit / Europäische Innovationspartnerschaft (EIP): 2 Mio. Euro
  • Weiterbildungsoffensive in der Landwirtschaft und im Ländlichen Raum: 1,8 Mio. Euro
  • Innovative Maßnahmen für Frauen im ländlichen Raum (IMF): 0,7 Mio. Euro
  • Naturparke in Baden-Württemberg (NPBW): 3 Mio. Euro
  • Regionalentwicklungsprogramm "LEADER": 7,5 Mio. Euro

Quelle: Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg 
(jhw)

Wichtige Dauerthemen bleiben unter der Wahrnehmungsschwelle. So hat Baden-Württemberg mit eigenen Geldern sowie solchen der EU- und des Bundes 15 Fördertöpfe gut gefüllt (siehe Kasten). Entgegen der beliebten These, "die Politik" lasse die Agrarwirtschaft verkommen, läuft seit 2022 der Strategiedialog zur Zukunft der Landwirtschaft im Südwesten. Fünf Arbeitsgruppen tagen regelmäßig, um "die kleinstrukturierte, bäuerliche Landwirtschaft in Baden-Württemberg zu erhalten und die biologische Vielfalt in der Kulturlandschaft zu stärken", zum Naturschutz oder zur Weiterentwicklung regionaler Wertschöpfungsketten.

Zu zäh für Klicks und Quote, zu unspektakulär. Gerade viele Tageszeitungen, deren Aufgabe Information und Aufklärung wären, stehen wirtschaftlich unter erheblichen Druck. Online-Auftritte tragen finanziell noch immer nicht. Papierpreise sind hoch, die Anzeigenaufkommen gering. Dem guten alten Printformat sterben Leser:innen weg. Themen werden erst aufgegriffen, wenn online Traffic zu erhoffen ist.

Würden sich die Akteur:innen des Strategiedialogs im Streit zerlegen, könnte die Arbeit interessant werden. Oder wenn Aufreger-Infos zu Ge- und Verboten aus der Kulisse drängen. Dabei ist der "Geiz ist geil"-Gesellschaft die deutsche Schräglage eigentlich leicht zu verdeutlichen: In Frankreich fließen gut 15 Prozent eines Familienbudgets in den Lebensmittelkonsum, in Spanien sind es 20, in Deutschland gerade mal elf. 

Zur Wahrheit in der neuen Tageszeitungswelt gehört allerdings auch, dass noch immer viele Studien belegen, wie die Lektüre klassischer Medien-Angebote noch immer weitgehend immun gegen Blasenwissen macht, während der Konsum der sozialen Medien Echokammern und die damit verbundene Anfälligkeit für Radikalisierung befördern.

Beckenbauer verdrängt Protestbauern

Am frühen Abend des 8. Januar, des ersten Protesttages, illustriert plötzlich wie in einem Reallabor eine einzige Meldung die Mechanismen einer modernen Medienwelt, in seltenem Gleichklang klassischer und sozialer Angebote: Franz Beckenbauers Tod verdrängt alle einschlägigen, den Nährstand betreffenden Hashtags innerhalb weniger Minuten von Platz eins, die Prioritäten sortieren sich eilig neu. Guido Buchwald schreibt über den "väterlichen Freund", die "Süddeutsche Zeitung" räumt wesentliche Teile des Online-Auftritts frei, die FAZ betrauert den "letzten deutschen Kaiser". Selbst Landwirtschaftsminister Özdemir wird auf einer Pressekonferenz nicht mehr nur zu Agrardiesel und KfZ-Steuerbefreiung befragt, sondern zum Stellenwert des Ausnahme-Fußballers. 

Sich schlagartig ändernde Tagesaktualitäten sind das eine, Relevanz und Langfristwirkung der republikweiten Demonstrationen und Straßensperrungen das andere. Denn hinter den Umgang mit den generalstabsmäßig geplanten Treckerparaden – in Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise wurden alle 62 Autobahn-Auffahrten gesperrt –, kann der Umgang mit Klimaaktivist:innen nie mehr zurückfallen. Zumal die nicht vor allem für sich kämpfen mit ihren Forderungen, sondern für die ganze Gesellschaft und zukünftige Generationen. Im gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein indes hat sich das bislang nur begrenzt niedergeschlagen: Nach einer repräsentativen Civey-Umfrage vom November halten 61 Prozent der Deutschen Straßenblockaden von Klimaaktivist:innen für "auf keinen Fall" gerechtfertigt. Verständis für die Proteste der Bäuer:innen, ausdrücklich auch die Straßenblockaden, äußern hingegen gegenwärtig 57 Prozent – "auf jeden Fall".

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6 Kommentare verfügbar

  • Peter Nowak
    am 15.01.2024
    Antworten
    Eine Falscharstellung im Öffentlich-rechltichen sollte in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. Der NDR hat sich aber dann selber korrigiert.
    Hier die Pressemitteilung des NDR mit der Korrektur :

    Bei der Blockade der Fähre mit Bundeswirtschaftsminister Habeck gab es keinen…
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