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So die Bahn uns lässt

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"Juhu, in sechs Minuten kommt meine S-Bahn", denkt sich ein naiver Kontext-Redakteur an einem arschkalten Januarmorgen. Plötzlich sind es 16 Minuten. Dann verschwindet der Zug ganz von der Anzeige am Cannstatter Bahnhof. Dafür taucht ein anderer auf, der in einer Minute vom gegenüberliegenden Gleis abfahren soll. Alle rennen los, lassen sich hechelnd und kurzatmig auf die freien Sitze fallen. Aber dann geht doch nichts. Weichenstörung. Eine Durchsage rät, lieber die U-Bahn zu nehmen. Die erste ist zu voll, um loszufahren. Auch bei der nächsten ist die Bedingung fürs Mitfahren der unfreiwillige Körperkontakt mit einem Haufen fremder Leute. Der Redakteur gibt sein Bestes, nicht auf einen armen Hund zu treten. Als ihm dann ein beleibter Herr in den Nacken schnauft, kommt ihm Winfried Kretschmann in den Sinn. Der grüne Ministerpräsident gab einmal zu Protokoll, er hocke in seiner Mercedes-S-Klasse "wie eine Sardine in der Büchse".

Ortswechsel, andere Baustelle. Eine weniger naive Kontext-Redakteurin vertraut dem Schienenersatzverkehr in Böblingen nicht und versucht, ihm durch einen S-Bahn-Umweg über Renningen auszuweichen. Doch es gibt kein Entkommen: in Zuffenhausen dann – Stellwerk kaputt. Nichts geht mehr. Der Redaktions-Chat bingt, neue Nachricht: "S-Bahn-Chaos, komme irgendwann", schreibt auch die Kollegin aus Esslingen. Und alle sind neidisch auf die Volontärin, die zu Fuß zur Redaktion laufen kann.

Es macht schon gar keinen Spaß mehr, Späße über die Deutsche Bahn zu machen. Wenn sie eine Art Gradmesser für die Verfallserscheinungen in der Bundesrepublik ist, dann … oh weh. Im Zuge des Symptoms Stuttgart 21 experimentieren die Projektbeteiligten in Baden-Württembergs Landeshauptstadt mit elektronischen Zugleitsystemen, die den Verkehrsfluss auf der Schiene geschmeidiger machen sollen. Dafür haben sie sich den Namen "digitaler Knoten" ausgedacht (für die Bauarbeiten wurde der Cannstatter Bahnhof kürzlich eine Woche lang komplett gesperrt). Passend zum Chaos auf den Gleisen bemühte Stuttgarts Oberbürgermeister unlängst eine, nun ja, leicht erratische Analogie: "Der digitale Knoten Stuttgart entwickelt sich zum Gordischen Knoten, der unbedingt, wie einstens von Alexander dem Großen, durchschlagen werden muss." Hoffen wir also, dass wenigstens ein paar Verbindungen intakt bleiben. Wir werden weiter berichten – so die Bahn uns lässt.

Bruno Göggel verkauft keine Reifen mehr

Es bedurfte einer "Protz-Hochzeit" und eines Großbrandes, um Bruno Göggel ein Gesicht zu geben. Bis dahin war er ein Gammertinger Gschaftlhuber, im Reifenhandel zum Millionär geworden, und nur ein Mal in die Öffentlichkeit geraten, als Angela Merkel 2011 in seiner größten Lagerhalle auftrat, um Ministerin Tanja Gönner aus dem nahen Sigmaringen im Wahlkampf zu helfen. Der Bauernsohn war damals eine Randfigur, aber typisch für den schwarzen Filz

Erst mit seiner Eheschließung und dem anschließenden Feuerwerk am 23. Juli 2022 auf dem Werksgelände schaffte er es in die "Bildzeitung". Die Pyrotechnik war explodiert und hatte viele der eineinhalb Millionen gelagerten Reifen in Brand gesetzt. Dank 70 Löschfahrzeugen und 380 tapferen Feuerwehrleuten konnte das Desaster verhindert werden. Büßen musste der Pyrotechniker, der in diesen Tagen zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt wurde, büßen musste auch Schultes Holger Jerg, der seinem Freund Bruno stets zu Diensten war. Er wurde ein Jahr später abgewählt.

Göggel hat sich dazu nie geäußert. Auch nicht gegenüber der "Schwäbischen Zeitung", die vergeblich auf ein zugesagtes Interview gewartet hat, und am 8. Januar 2024 exklusiv meldete, es sei "reiner Zufall", dass sich die Justiz jetzt mit dem Großbrand beschäftige – nach dem Tod des Firmeninhabers. Nach einem "kometenhaften Aufstieg" ist Göggel einem Krebsleiden erlegen. Er wurde 62 Jahre alt.


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1 Kommentar verfügbar

  • Frübis Johannes
    am 11.01.2024
    Antworten
    Vorschlag:
    Der Eigentümer der Bahn, in Person des Bevollmächtigten Vertreters, entlässt den Bahnvorstand und seine Aufseher wegen Erfolglosigkeit in Deutschland und sittenwidriger Verdoppelung Ihrer Bezüge.
    Als Ersatz bestellt der Eigentümer der Bahn, Herrn Claus Weselsky, zum neuen Bahnvorstand.
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