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Migrationspolitik

Wien ist anders

Migrationspolitik: Wien ist anders
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In den deutschen Debatten zur Zuwanderung hat Hetze Hochkonjunktur: Migration wird meist als Belastung dargestellt. Da lohnt ein Blick nach Wien, wo die Wahrnehmung eine andere ist.

Wien wächst, wird größer, jünger und noch multikultureller. 2023 hat jede:r Zweite Eltern mit ausländischer Herkunft oder ist selber zugewandert. Die Bilanz weist zum November 2023 ein Plus von 49.000 im damals laufenden Jahr aus, bei inzwischen zwei Millionen Einwohner:innen. Das Durchschnittsalter ist auf 41 Jahre gesunken. "Aus einer überalterten und schrumpfenden Stadt wurde in den vergangenen drei Jahrzehnten eine verjüngte, wachsende Metropole", schreiben Sozialforscher:innen im unlängst erschienenen sechsten Integrationsmonitor der Stadt. Schon seit 2007 untersucht Wien Veränderungen innerhalb der Einwanderungsgesellschaft in umfangreichen Berichten – und kommt zu dem klaren Ergebnis, dass Zuwanderung ein Gewinn für die Metropole ist.

Alleinstellungsmerkmal ist dabei gerade mit Blick auf Assimilationsforderungen und Anpassungserwartungen in vielen Ländern der besonders Blickwinkel: "Alle Wiener:innen sollen Zugang zu hochwertiger Bildung, guter Arbeit, existenzsicherndem Einkommen oder leistbarem Wohnraum haben", lautet eines der Ziele. Alle heißt ausdrücklich: alle, unabhängig von Pass und Papieren, unabhängig von der Herkunft aus der EU, aus Europa, von anderen Kontinenten, unabhängig von den Motiven, sich in Wien anzusiedeln. Im Zentrum stehen nicht die Homogenisierung, sondern gemeinsame Chancen und Möglichkeiten und die Befähigung von Neuankömmlingen, erläutert Ursula Struppe, die Leiterin der zuständigen Magistratsabteilung. Der erfolgreiche Kurs nimmt rechten Populist:innen den Wind aus den Segeln: Bisher kann die Sozialdemokratie in Wien mit Wahlergebnissen um die 40 Prozent gegen die versuchte Verhetzung durch die Nationalist:innen der FPÖ bestehen.

Statistisch erwiesen ist sogar, dass gesellschaftlicher Aufstieg durch Bildung hier weit mehr ist als ein ebenso hehres wie fernes Ziel: Innerhalb nur einer Generation hat sich der Anteil junger Erwachsener mit einem Pflichtschulabschluss, der niedrigsten Qualifikation, mehr als halbiert von 40 auf 17 Prozent.

Es braucht Geduld und eine ordentliche Portion Gelassenheit, Tatkraft und vor allem Offenheit gegenüber dem steten Wandel der Stadtgesellschaft.

Ein Beispiel ist die Mehrsprachigkeit. Die als "Ressource" schon in Schule und Kita zu fördern, wird nach dem Integrationsmonitoring von zwei Dritteln der Bevölkerung für notwendig gehalten. Wie sehr der hierzulande beliebte Ruf nach Deutsch auf dem Schulhof von Staubschichten überlagert ist, zeigt der Umstand, dass 93 Prozent der Jugendlichen in Wien, die daheim mit ihren Eltern in deren Muttersprache reden, im Alltag und im Freundeskreis Deutsch sprechen. Deutsch sei "höchstrelevant" für Integration und Teilhabe, schreiben die Autor:innen. Zugleich arbeiten viele Behörden nicht nur im Umgang mit Geflüchteten und nicht nur bei speziell ausländerrechtlichen Fragen mit Bildersprache oder mit mehrsprachigen Formularen, um "ein Willkommen zu signalisieren" und Hürden zu senken.

Auch keine Kleinigkeit: Seit 2015 wird von der Stadt die "Kinderbücherei der Weltsprachen" organisiert, die insgesamt rund 13.900 Medien in über 50 Sprachen besitzt. In den 38 städtischen Büchereien sind Deutsch und Englisch selbstverständlich. 25 haben sogar Medien, Sprachlernmaterialien und Bücher in Ukrainisch und Russisch, in Bosnisch, Kroatisch, Serbisch, Französisch, Hebräisch, Italienisch oder Türkisch im Angebot – für Geflüchtete zur kostenlosen Nutzung.

Alle dürfen arbeiten

Erfahrungen mit Zuwanderung aus der ganzen Welt werden in Wien schon seit Jahrhunderten gesammelt. Schon im Hochmittelalter gab es, urkundlich verbrieft, die Anwerbung von Gastarbeiter:innen, beispielsweise in Gestalt von Handwerkern und Gewerbetreibenden, unter anderem aus Flandern. In der Baubranche reüssierten Bayern, die Habsburger benötigten Personal in der Residenzstadt, viele Bettler kamen aus dem süddeutschen Raum, Großhändler, Griechen, Armenier, Calvinisten und Juden, auch schwer integrierbare spätere Promis wie der äußerst umtriebige Bonner Ludwig van Beethoven mit seinen über 50 Wohnsitzen in der damals eine Viertelmillion Einwohner:innen zählenden Stadt.

Im Zuge der Industrialisierung wurde Mitte des 19. Jahrhunderts der Arbeitsmarkt komplett liberalisiert. Die Ausbeutung des neu entstehenden Prekariats aus Böhmen und Mähren in den Ziegelwerken für die bürgerlichen und adeligen Prachtbauten im Klassizismus war Motivation für Andersdenkende, sich zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zusammenzufinden. Die Massenflucht aus dem untergegangenen Reich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg führte zur bis heute vorbildlichen Wohnbau-Offensive im roten Wien.

Foto: Markus Wache/Stadt Wien

"Integration braucht Zeit"

Leila Hadj Abdou (rechts im Bild) ist eine der am Integrationsmonitor beteiligten Forscher:innen und seit Kurzem als politische Referentin für die Stadt Wien in der Abteilung Integration und Diversität tätig. Sie schreibt: "Integration braucht Zeit. Aber selbst besonders benachteiligte Gruppen bewerkstelligen in der zweiten oder dritten Generation einen sozialen Aufstieg und haben bessere Bildung. Diese Entwicklung zeigt beispielsweise der Bildungsaufstieg von Kindern, deren Eltern aus Nicht-EU-Staaten nach Wien gekommen sind. Von der Eltern- zur Jugendgeneration halbiert sich der Anteil der Personen mit geringer Bildung." Das Foto zeigt Leila Hadj Abdou bei der Präsentation des Integrationsmonitors im Wiener Rathaus.  (red)

Außer während der Ausschaltung der Demokratie zwischen 1933 und 1945 hat immer die SPÖ regiert. Aber auch die Hauptstadt ist betroffen von den Verschärfungen im Einwanderungsrecht, die die auf Bundesebene regierende Österreichische Volkspartei (ÖVP) vorangetrieben hat. Weiterhin vergleichsweise pragmatisch geregelt ist die Möglichkeit, Arbeit aufzunehmen. Derzeit beratschlagen alle Beteiligten vom Wirtschaftsministerium bis zum Arbeitsmarktservice die Liste sogenannter Mangelberufe für 2024. Die wird, so viel ist bereits bekannt, mehr als hundert Professionen erfassen; erstmals dabei: Lokführer:innen und Busfahrer:innen. Bei rechtmäßiger Einreise kann etwa auf Antrag künftiger Arbeitgeber:innen die sogenannte Rot-Weiß-Rot-Karte ausgestellt werden, so dass nicht selten und binnen weniger Tage ein vakanter Job angetreten werden kann. "Eine existenzsichernde und sinnstiftende Erwerbsarbeit", heißt es im Integrationsmonitoring, "ist ein entscheidender Baustein für die Teilhabe an der Gesellschaft."

In der aktuellen Überlastungsdebatte in der Bundesrepublik sind die Unterbringung Geflüchteter und die Konkurrenzsituation auf dem Wohnungsmarkt ein zentrales Thema. Wien ist anders. Der Kampf um preiswerten Wohnraum ist traditionell sehr viel entspannter als in deutschen Städten. Die Wartezeit auf eine der preiswerten Gemeindewohnungen beträgt gegenwärtig durchschnittlich eineinhalb Jahre. Die sind nicht nur legendär, sondern "eine wichtige Wohnungsform für Menschen mit Migrationshintergrund", wie es im Integrationsmonitor heißt. Familien mit Kindern und Jugendlichen in Wiener Schulen machen rund ein Viertel der Bewohner:innen aus. Wer Asyl ersucht, kann unter verschiedenen Wohnformen wählen. Es gibt Notquartiere, es gibt aber auch die individuelle, finanziell unterstützte Unterbringung, etwa bei Freund:innen oder Familienmitgliedern mit Bleiberecht, und organisierte Wohnformen in anerkannten Einrichtungen. Insgesamt ist die Asylaufnahmequote 2023 fast um das Doppelte übererfüllt worden.

Populist:innen bleiben faktenresistent

Kompliziert ist eine nüchterne Entschlüsselung der Kriminalitätsstatistik. Gerade die rechtsnationale FPÖ hetzt mit falschen Zahlen. Ihr Wiener Stadtchef Dominik Nepp behauptete kürzlich auf Facebook: "Die Vorfälle von Gewaltdelikten durch illegale Zuwanderer häufen sich zusehends, Mord, Überfälle und Vergewaltigungen durch Afghanen, Syrer oder Nordafrikaner geschehen in Wien mittlerweile beinahe täglich." Tatsächlich ist die Zahl von Ordnungswidrigkeiten und Straftaten kontinuierlich gesunken, erst recht gemessen an der gewachsenen Bevölkerung. Außerdem werden als Ausländer:innen auch Tagestourist:innen erfasst. Ohnehin müssten die Zahlen in Relation zum Bevölkerungsanteil gesetzt werden: Die mit Abstand größte nicht-österreichische Gruppe sind Deutsche, die in der aktuellen Kriminalstatistik auf Platz zwei liegen – hinter den Rumän:innen mit einem eindeutigen Schwerpunkt bei der Kleinst- und Kleinkriminalität.

Zum sechsten Integrationsmonitor fiel der FPÖ die Absurdität ein, Sozialleistungen an den österreichischen Pass koppeln zu wollen. Ein tatsächliches Problem ist allerdings, dass rund 45 Prozent der Wiener:innen im Alter von 25 bis 44 Jahren aufgrund ihrer ausländischen Staatsbürgerschaft nicht wählen dürfen. Das betrifft nicht nur Asylbewerber:innen, Geflüchtete oder Zugewanderte aus der Türkei, aus Serbien, Bosnien oder von anderen Kontinenten, sondern sogar EU-Bürger:innen: Weil ihr kommunales Wahlrecht durch die Tatsache ausgehebelt ist, dass die Hauptstadt zugleich eines der neun Bundesländer Österreichs ist. "Der Zugang von ausländischen Staatsangehörigen zu Staatsbürgerschaft und Wahlrecht ist ein wesentlicher Bestimmungsfaktor für die Qualität einer Demokratie", mahnen die Sozialwissenschaftler:innen im Integrationsmonitor.

Abzuhelfen wäre dem Defizit für die Zukunft zumindest damit, dass Kinder von in Wien verwurzelten Zuwanderern die österreichische Staatsbürgerschaft mit der Geburt bekommen. Eine Idee, die in einer repräsentativen Umfrage jüngst 68 Prozent der Stadtbevölkerung befürworteten. 52 Prozent fänden es richtig, schneller und auch ohne Pass "essenzielle politische Mitbestimmungsrechte" zu verleihen, 48 Prozent sind dafür, dass alle Menschen nach fünf Jahren wählen dürfen sollen. Für alle derartigen Reformen müsste es jedoch nicht nur in Wien, sondern österreichweit Mehrheiten geben.

Steter Tropfen höhlt den Stein: Die erste großangelegte, vor einem halben Jahrhundert für viel internationale Aufmerksamkeit sorgende Wiener Plakatkampagne gegen Fremdenfeindlichkeit mit einem sehr großen Gastarbeiter und einem ziemlich kleinen neugierigen Madl mündete 2013 in die Forderung nach einem Wahlrecht für nahezu alle. "Menschen, die unter denselben politischen Rahmenbedingungen leben, sollten ihre Zukunft gemeinsam gestalten können", steht wiederum zehn Jahre später im sechsten Integrationsmonitor. Vielleicht kann der siebte in drei Jahren entscheidende Fortschritte sogar in dieser zentralen Frage von Teilhabe und Verwurzelung analysieren.

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