Bevor die Grünen mal wieder bei einem ihrer Kernthemen umfielen, ging Baden-Württembergs Ministerpräsident voran. Im Oktober 2023 plädierte Winfried Kretschmann in der Migrationsdebatte für eine härtere Gangart gegenüber Asylsuchenden. Man müsse "alle Maßnahmen" implementieren, die "dazu dienen, irreguläre Migration einzudämmen", da die "Überlastungssituation" der Kommunen nicht hinnehmbar sei. Kretschmann zeigte sich nicht nur für Verschärfungen wie das Geldkarten-System und Leistungskürzungen offen, die im November unter Mitwirkung seiner Partei beschlossen worden sind, sondern sogar für die Einführung von Zwangsarbeit für Geflüchtete ("Arbeitspflicht für Flüchtlinge mit Bleibeperspektive").
Die Diskursverschiebung in der Asyldebatte – in der flüchtende Menschen meist nur noch als "Migranten" bezeichnet werden – legt offen, wie weit die Hegemonie der Neuen Rechten gediehen ist. So nutzte etwa der "Spiegel" ein stark verfremdetes Foto, um auf dem Cover eines September-Hefts eine schier endlos wirkende Schlange von Flüchtenden zu zeigen, verbunden mit der Frage: "Schaffen wir das noch mal?" Zu dieser Zeit schien es über Wochen so, als ob sich nahezu alle relevanten politischen Gruppierungen und Akteure gegenseitig bei der Stimmungsmache gegen Geflüchtete überbieten wollten – und dabei kopieren sie letztlich die AfD. Eine in weiten Teilen extremistische Kraft, die zur bundesweit zweitstärksten Partei aufgestiegen ist, treibt den verrohenden Diskurs und das gesamte Parteienspektrum weit nach rechts ins Präfaschistische.
2015 waren es Smartphones in Flüchtlingshänden, die den Stammtisch-Nazi empörten, nun sind es intakte Flüchtlingszähne, die nicht nur am rechten Rand, sondern in der gutbürgerlichen Mitte für Unmut sorgen. Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) beschwerte sich etwa darüber, dass Flüchtlinge den Deutschen die Arzttermine wegnehmen würden, um sich "die Zähne machen" zu lassen. Das Feindbild, das hier aufgebaut wird, weist faschistische Tendenzen auf: Der Flüchtling wird als glücklich und überprivilegiert imaginiert, während es sich in Wahrheit um eine sozial schwache, marginalisierte Gruppe handelt. Folglich zielt diese Hetze nicht darauf ab, allen Bürgern eine ordentliche Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, wie sie der Millionär Friedrich Merz genießt. Es um Kürzungen und Kahlschlag.
Neidkampagne gegen Verelendete
Wie lässt sich diese sich gegen Schwächste gerichtete Neidkampagne – die Flüchtlingen ihr Elend buchstäblich am Gebiss ansehen können will – noch toppen? Durch die Umwertung aller Werte. Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck hat bereits das Hohelied der Grausamkeit angestimmt. Die weitere Abschottung gegen Flüchtlinge sei "moralisch nicht verwerflich", man müsse "Spielräume entdecken, die uns zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen". Es brauche weniger "Furcht vor einer brutal klingenden Politik", so Gauck, die Politik müsse Abschied von "Wunschvorstellungen" nehmen, damit das Thema Migration offen – inklusive der Einschränkung von Zuwandererrechten – nicht nur am "am rechten Rand" thematisiert werde. Also übernimmt Gauck eine Argumentation, die noch vor wenigen Jahren in großen Teilen der deutschsprachigen Publizistik als unmenschlich kritisiert wurde: 2016 forderte der damalige AfD-Vize Alexander Gauland: "Wir müssen die Grenzen dicht machen und dann die grausamen Bilder aushalten." Dabei könnten "wir" uns "nicht von Kinderaugen erpressen lassen".
Letztendlich läuft die gegenwärtige Debatte auf die formelle Abschaffung des ohnehin weitgehend ausgeweideten Asylrechts hinaus. Dies regte zuletzt nicht etwa ein AfD-Rechtsaußen an, sondern der ehemalige Bundesvorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel. Der Sozialdemokrat erklärte gegenüber Medien, dass der "Versuch, mit einem Individualrecht auf Asyl und der Genfer Flüchtlingskonvention auf das moderne Phänomen von Massenflucht zu reagieren", zum Scheitern verurteilt sei. Ähnlich argumentierte der CDU-Politiker Jens Spahn, der für Deutschland eine "Pause" bei der "völlig ungesteuerten Asyl-Migration" forderte – während die EU in Wahrheit auf eine rigide Abschottungspolitik setzt, die zur Flüchtlingsabwehr Deals mit Diktatoren eingeht und schutzsuchende Menschen mit Waffengewalt am Grenzübertritt hindert. Doch viele Medien pflegen inzwischen lieber die Erzählung der unkontrollierten Massenmigration statt sie als realitätsfremdes Zerrbild zu kritisieren.
Von der CDU über die SPD bis zu den Grünen – überall übernahmen Akteure in der Flüchtlingsdebatte die Sprache der AfD. Und es sind wohl nur noch die national-sozialen Anhänger Sahra Wagenknechts, die daran glauben, dass dieses Nachplappern der AfD-Ideologie der von Rechtsextremisten durchsetzten Partei das Wasser abgraben wird. "Noch nicht einmal ein Prozent derer, die einen Asylantrag stellen, haben auch ein Asylrecht", behauptete Wagenknecht vergangenen Montag. Die tatsächliche Anerkennungsquote lag im vergangenen Jahr jedoch bei 51,8 Prozent, infomiert das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
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Dr. Jürgen Enseleit
am 12.01.2024Seit 2013 beängstigt mich…