KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Grüne Baden-Württemberg

"Respekt, Anstand, Wahrheit"

Grüne Baden-Württemberg: "Respekt, Anstand, Wahrheit"
|

Datum:

Baden-Württembergs Spitzengrünen gelingt es nicht mehr, die Partei in der Migrationspolitik zusammenzuhalten. Auch 50 Sprachregelungen für die Abgeordneten helfen nicht. Was Grüne zu Fragen der Flucht sagen sollen, steht in Kontext.

Da hätte Winfried Kretschmann mal besser zugehört. Bei der kommunalpolitischen Debatte auf der Landesdelegiertenkonferenz (LDK) der Grünen am Wochenende in Weingarten hätte der baden-württembergische Ministerpräsident einiges lernen können über die Stimmung an der Basis und beispielsweise vor Ort in seiner Heimatstadt Sigmaringen. Ina Schultz lebt seit einem Jahr mit ihrer Familie und den drei heranwachsenden Kindern 500 Meter von der Landeserstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete entfernt. "Hier in Sigmaringen wird Humanität und Mitmenschlichkeit gelebt", sagt die 44-jährige Betriebswirtin und erzählt vom Alltag im Ehrenamt, von neuen Schuhen, Kleidung und warmem Essen, von Gesundheitsversorgung und Mitgefühl: "Welches Leid mussten die Kinder durchmachen, die jetzt hier unbeschwert spielen können." Schultz lobt die erhöhte Polizeipräsenz, weil "Ordnung Leitschnur sein muss", verlangt mehr Sprachkurse, schnellere Integration in den Arbeitsmarkt und einfachere Anerkennung von Abschlüssen. Und dass das Land mehr solcher Einrichtungen schafft: "Die Erstaufnahme hier ist infrastrukturell am Limit."

Kretschmann fand in seiner Rede zum Auftakt der LDK eine ganz andere Formulierung, mit der er sich erneut ein paar Schritte auf den Mainstream des Politikbetriebs zubewegt: "Unsere Kommunen sind im Modus der Überlastung." Er braucht diese Botschaft, um die Abkehr von bisherigen Grundsätzen zu begründen. Der Koalitionsvertrag mit der CDU vom Frühjahr 2021 hatte sogar noch ein eigenes Landesaufnahmeprogramm versprochen, zudem eine Erleichterung beim Familiennachzug. Heute warnt der Ministerpräsident davor, "im Namen der Humanität die Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft auf Dauer massiv zu überfordern", denn "dann werden wir die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger verlieren, und das Ergebnis einer solchen Politik wäre dann nicht mehr, sondern weniger Humanität". Die Krise habe die Wucht, das demokratische Gemeinwesen zu erschüttern, und "das dürfen wir auf keinen Fall zulassen".

Große Verunsicherung macht sich breit

Die Frage nach dem "Wie" ist unbeantwortet. Wichtige Kräfte im seit Langem so erfolgsverwöhnten Landesverband sind verunsichert wie noch nie, nicht einmal während der großen Fluchtbewegung im vergangenen Jahrzehnt. Hintergrund sind einerseits die anhaltend hohen Zustimmungswerte für die AfD, die sich demoskopisch seit Juli bundesweit über 20 Prozent halten kann. Bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern waren die Zuwächse für die Rechtsaußen-Opposition erheblich, allerdings nach allen Untersuchungen auf vergleichsweise geringe Kosten der Grünen.

Andererseits sind in der öffentlichen und vor allem veröffentlichten Meinung manche Maßstäbe verrutscht. "Die Grünen schmierten bei den Landtagswahlen ab", beschreibt die StZ ein Minus von 3,2 Punkten in Bayern und fünf Punkten in Hessen – dabei gab es in beiden Ländern die mit Abstand zweitbesten Ergebnisse ihrer Geschichte. Noch besser der Satz: "So hoch die Partei in der Beliebtheit steigt, so tief fällt sie wieder." Denn die Ergänzung "in der Demoskopie" fehlt. Nur zur Erinnerung: Bei der Bundestagswahl brachte es der zweigrößte Koalitionspartner auf fast 15 Prozent, dann kam ein Umfragehoch mit bis zu 26 Prozent, inzwischen der Rückgang auf 13 bis 16 Prozent. Beruhigender aus Sicht der Grünen wären andere Werte, für Panik ist aber auch kein Grund.

Dennoch ist die Aufregung erheblich und verfängt ganz offensichtlich im Stab des Ministerpräsidenten. Der Preis ist hoch: Nach den zentralen Passagen zur Migrationspolitik kaum Applaus in Weingarten, am Ende des Auftritts gab es den für Kretschmann üblichen Beifall im Stehen. Und doch ist aus der schleichenden Entfremdung zwischen dem grünen Star und der grünen Basis gegenseitiges Unverständnis geworden. Vertreter:innen der Grünen Jugend und der Regierungschef geraten seit fast zehn Jahren regelmäßig aneinander. Damals hatte Baden-Württemberg der Verschärfung des Asylrechts durch die Große Koalition in Berlin zugestimmt, einem Kompromiss, der bis heute auch dafür steht, wie wenig die Versuche von Abschottung und Abschreckung bringen. Inzwischen wollen aber selbst Mitglieder über den linken Parteiflügel hinaus den Martin-Luther-Habitus des Ministerpräsidenten – "Hier stehe ich und kann nicht anders" – nicht mehr anerkennen.

Zumal der 75-Jährige tatsächlich anders könnte, wenn er wollte und sich die Zeit nähme. Wäre er nicht derart getrieben von der Vorstellung, vor allem die eigene Partei bearbeiten zu müssen, hätte er auf der LDK zum Beispiel seine immer noch hohe Reputation in der Bevölkerung nutzen können, um auf nüchterne Zahlen zu verweisen. Baden-Württemberg hat im vergangenen Jahr nach der offiziellen Statistik des CDU-geführten Justizministeriums 146.049 Ukrainer:innen aufgenommen und 27.818 Menschen, die Asyl beantragt haben. Im September 2023 sind es 29.268 Ukrainer:innen und 21.923 Asylsuchende, also noch immer mehr Geflüchtete als vor Putins Angriffskrieg. Diskutiert wird das Thema Überlastung in interessierten Kreisen aber bisher fast ausschließlich unter dem Stichwort Asylrechtsverschärfung. Nur hinter vorgehaltener Hand gestehen sogar CDU-Oberbürgermeister ein, dass diese keineswegs geeignet sei, die drängenden Probleme in den Kommunen zu lösen.

Und der Ministerpräsident samt Entourage müsste auch nicht reflexhaft die Hörner gegen die Linken im eigenen Laden senken, sondern sich den Präsidenten des Landkreistags Joachim Walter vorknöpfen. Eine Parteitagsrede wäre eine wunderbare Gelegenheit, um die eigene Basis mit guten Argumenten gegen falsche oder verschwiemelte Geschichten zu versorgen. Walter hatte kürzlich in der SWR-Leute-Sendung vorgerechnet, wie eine vierköpfige Flüchtlingsfamilie auf rund 3200 Euro Staatsknete pro Monat kommt. Wer ganz genau zugehört hat, dürfte mitbekommen haben, dass es sich um eine Familie aus der Ukraine handelte. Gleich vor und nach dieser Passage ist aber vor allem von Asylbeweber:innen die Rede. Außerdem nimmt der CDU-Politiker noch gar nicht geltende Höchstsätze an. Erst im nachgeschobenen Faktencheck stellte der Sender Rechnung und Einschätzung richtig.

Banales "Wording" für Migrationsfragen

Schlimmer geht’s immer: Besonders merkwürdig – angesichts der Komplexität der Herausforderungen – agierte die Grünen-Landtagsfraktion in der vergangenen Woche mit dem Versuch, die Sprache der 58 Abgeordneten zu regeln. Per Newsletter ("Eilt") verbreitet wurden ganze 50 Formulierungen zur Migrationspolitik, zum Teil in Ich- oder Wir-Form. Nicht Zahlen sollen zählen oder Argumente beim "Wording Migration" (als PDF nachzulesen hier), sondern platte Bekenntnisse ("Ich erlebe viel Zuversicht und Optimismus bei Bürgern und Unternehmen. Sie sagen: Man muss im Alltag merken, dass Politik funktioniert") und banale Botschaften ("Wir müssen an wirksamen Lösungen arbeiten, die die Situation vor Ort tatsächlich verbessern"). Abgeordnete ärgern sich erheblich über die "Bevormundung". Der Aufstand ist ausgeblieben. Die offizielle Reaktion aus der Fraktionsspitze nimmt wunder: Für Aufregung gebe es keinen Grund, denn schließlich habe man das ja nicht zum ersten Mal gemacht.

Die politischen Leerstellen füllen andere, nicht ohne Bravour. Omid Nouripur, Co-Vorsitzender der Bundespartei, hält in Weingarten eine fulminante Rede, mit der er drauf und dran ist, Kretschmann die Show zu stehlen. Und um Delegierte, die vor zwei schwierigen Wahlen – Europa und Kommunal – im kommenden Jahr stehen, zu ermuntern. Er unterfüttert die Botschaft "Was wir auf den Weg bringen, ist gewaltig" mit vielen Einzelheiten, bis hin zur so heiklen Migrationspolitik: "Es gibt keine einfachen Lösungen. Jeder Vorschlag, der rechtskonform, der machbar ist und der was bringt, wird von den Grünen unterstützt." Die andere Co-Vorsitzende Ricarda Lang verspricht und empfiehlt zugleich einen Dreiklang aus "Respekt, Anstand, Wahrheit" und bei Gegenwind nicht zu kneifen. Die Seenotrettung sei "eine zivilisatorische Errungenschaft" zielte sie sogar auf Bundeskanzler Olaf Scholz: "Wenn jetzt manche in der Debatte um Migration und Flucht ein Hauptproblem in der Seenotrettung ausmachen, dann fehlt mir dafür jedes Verständnis." Menschen würden vor dem Ertrinken gerettet werden, "und dafür bin ich verdammt dankbar".

An solchen Auftritten nimmt Kretschmann sich ohnehin kein Beispiel. Allerdings hätte er gar nicht können, da er schon lange nicht mehr in Weingarten weilte – auch eine Botschaft –, als seine Bundesvorsitzende das Wort ergriff. Er verpasste nicht nur Lang, sondern auch viele engagierte Kommunalpolitiker:innen – mit mindestens 50 zusätzlichen Listen wollen die Grünen im Juni 2024 antreten – und Berichte zur Stimmung vor Ort. Er verpasste sogar die Rede von Cem Özdemir, der nicht als Landwirtschaftsminister, sondern als Generalist den Saal mitriss, von Nahost über den Umgang mit Jüd:innen, Muslim:innen, gerade mit Islamist:innen in Deutschland bis zu den Voraussetzungen für eine Einbürgerung, von den Ängsten in der Bevölkerung ("Schwätzen muss ma mit de Leut") über das eigentlich vorgesehene Thema ("Wie kriege ich jetzt die Kurve zum Glyphosat") bis zur Hetze gegen sich selbst. Uli Hoeneß, lässt er sein Publikum wissen, habe kürzlich ernsthaft auf die Frage nach den Gründen für das Erstarken des Populismus geantwortet: Weil dieser Özdemir den Leuten den Zucker im Kaffee verbieten wolle.

Nicht dem Krisengerede der CDU aufsitzen

Noch ein Vorwurf ohne jede sachliche Grundlage: Markus Söder hat behauptet, der grüne Bundeslandwirtschaftsminister fordere, nur zehn Gramm Fleisch am Tag zu essen. Die Replik des gebürtigen Bad Urachers Özdemir: "Da fällst du einfach vom Glauben ab." Die Strategie sei, soviel Dreck zu werfen, dass der andere nur noch erklären muss, was er nicht will, ohne dazu zu kommen, was eigentlich geplant ist. Diese Art Kulturkampf habe sich aber nicht ausgezahlt, "und ich hoffe, dass die Union daraus lernt". Nicht nur die Union, sagte er übrigens nicht.

Dabei verblüfft sogar der Ministerpräsident höchstpersönlich mit der Erkenntnis, dass er nachsitzen muss. Zwar bedient Kretschmann inzwischen oft die Überforderungsbilder im Kopf vieler, gerade auch gar nicht konkret mit Migrations- und Integrationsproblemen befasster Zeitgenoss:innen. Zugleich kündigt er aber zu Wochenbeginn an, sich jetzt von den Kommunalen Landesverbanden "präziser" über die Lage vor Ort berichten zu lassen. Thomas Gönner, der 24-jährige Baden-Badener Gemeinderat, warnte in Weingarten für den Fall schon mal eindringlich davor, dem "Krisengerede von CDU-Landräten aufzusitzen". Denn Praktiker:innen seien überzeugt davon, die Lage bewältigen zu können – bei ausreichend Unterstützung von Bund und Land. Das bringt Kretschmann so sehr gegen den Parteifreund auf, dass er ihm hinterherlaufen und ihn nach der Mehrheit für eine neue Landeserstaufnahmeeinrichtung in der Kurstadt an der Oos fragen möchte, die er dann ja sicher auch in petto habe.

Die beiden fanden sich diesmal nicht, aber vielleicht in Bälde, zum Beispiel auf dem Bundesparteitag Ende November in Karlsruhe. Es wäre zu schön, um wahr zu sein, hätte die Geschichte dann – nach der Unterrichtung durch die kommunalen Spitzenverbände – ein anderes Ende. Nicht die Jungen, die Aktiven und die im Ehrenamt vor Ort mit dem warmen Essen, der Kleidung und dem Mitgefühl müssten ihre Einschätzung überdenken, sondern der Regierungschef. Und vor allem sein Beraterteam. Besser spät als nie.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


2 Kommentare verfügbar

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!