Da hätte Winfried Kretschmann mal besser zugehört. Bei der kommunalpolitischen Debatte auf der Landesdelegiertenkonferenz (LDK) der Grünen am Wochenende in Weingarten hätte der baden-württembergische Ministerpräsident einiges lernen können über die Stimmung an der Basis und beispielsweise vor Ort in seiner Heimatstadt Sigmaringen. Ina Schultz lebt seit einem Jahr mit ihrer Familie und den drei heranwachsenden Kindern 500 Meter von der Landeserstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete entfernt. "Hier in Sigmaringen wird Humanität und Mitmenschlichkeit gelebt", sagt die 44-jährige Betriebswirtin und erzählt vom Alltag im Ehrenamt, von neuen Schuhen, Kleidung und warmem Essen, von Gesundheitsversorgung und Mitgefühl: "Welches Leid mussten die Kinder durchmachen, die jetzt hier unbeschwert spielen können." Schultz lobt die erhöhte Polizeipräsenz, weil "Ordnung Leitschnur sein muss", verlangt mehr Sprachkurse, schnellere Integration in den Arbeitsmarkt und einfachere Anerkennung von Abschlüssen. Und dass das Land mehr solcher Einrichtungen schafft: "Die Erstaufnahme hier ist infrastrukturell am Limit."
Kretschmann fand in seiner Rede zum Auftakt der LDK eine ganz andere Formulierung, mit der er sich erneut ein paar Schritte auf den Mainstream des Politikbetriebs zubewegt: "Unsere Kommunen sind im Modus der Überlastung." Er braucht diese Botschaft, um die Abkehr von bisherigen Grundsätzen zu begründen. Der Koalitionsvertrag mit der CDU vom Frühjahr 2021 hatte sogar noch ein eigenes Landesaufnahmeprogramm versprochen, zudem eine Erleichterung beim Familiennachzug. Heute warnt der Ministerpräsident davor, "im Namen der Humanität die Aufnahmebereitschaft der Gesellschaft auf Dauer massiv zu überfordern", denn "dann werden wir die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger verlieren, und das Ergebnis einer solchen Politik wäre dann nicht mehr, sondern weniger Humanität". Die Krise habe die Wucht, das demokratische Gemeinwesen zu erschüttern, und "das dürfen wir auf keinen Fall zulassen".
Große Verunsicherung macht sich breit
Die Frage nach dem "Wie" ist unbeantwortet. Wichtige Kräfte im seit Langem so erfolgsverwöhnten Landesverband sind verunsichert wie noch nie, nicht einmal während der großen Fluchtbewegung im vergangenen Jahrzehnt. Hintergrund sind einerseits die anhaltend hohen Zustimmungswerte für die AfD, die sich demoskopisch seit Juli bundesweit über 20 Prozent halten kann. Bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern waren die Zuwächse für die Rechtsaußen-Opposition erheblich, allerdings nach allen Untersuchungen auf vergleichsweise geringe Kosten der Grünen.
Andererseits sind in der öffentlichen und vor allem veröffentlichten Meinung manche Maßstäbe verrutscht. "Die Grünen schmierten bei den Landtagswahlen ab", beschreibt die StZ ein Minus von 3,2 Punkten in Bayern und fünf Punkten in Hessen – dabei gab es in beiden Ländern die mit Abstand zweitbesten Ergebnisse ihrer Geschichte. Noch besser der Satz: "So hoch die Partei in der Beliebtheit steigt, so tief fällt sie wieder." Denn die Ergänzung "in der Demoskopie" fehlt. Nur zur Erinnerung: Bei der Bundestagswahl brachte es der zweigrößte Koalitionspartner auf fast 15 Prozent, dann kam ein Umfragehoch mit bis zu 26 Prozent, inzwischen der Rückgang auf 13 bis 16 Prozent. Beruhigender aus Sicht der Grünen wären andere Werte, für Panik ist aber auch kein Grund.
2 Kommentare verfügbar
Peter
am 21.10.2023Wo ist denn die Liste der Formulierungen?