Zunächst ist das nur ein Begriff. Was bringt die transkulturelle Expertin darüber so auf die Palme?
Das muss man sich mal vorstellen: Da werden Menschen in Kategorien gepackt, ohne sie zu fragen, ob sie diese annehmen. Seit 2005 gilt für Migrant:innen die Definition des Statistischen Bundesamts: "Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil im Ausland geboren wurde und bei der Einreise nach Deutschland nicht über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügte." Seitdem sind fast 20 Jahre vergangen und wir haben inzwischen viele Kinder der dritten Generation, deren Eltern hier geboren und aufgewachsen sind. Seien wir doch ehrlich: Wann immer in Deutschland über Migrant:innen oder Geflüchtete gesprochen wird, ist das – noch zu häufig – defizitorientiert. Das macht was mit den Menschen.
Lassen Sie uns über ein konkretes Beispiel reden, das hier im Land für heftige Diskussionen gesorgt hat. In Altbach bei Esslingen warf ein junger Mann, mutmaßlich iranischer Herkunft, eine Handgranate in eine Gruppe männlicher Jugendlicher mit Migrationshintergrund. Kontext hat sich ausführlich damit beschäftigt und gefragt: Was sind die Gründe für diese toxische Männlichkeit gerade im migrantischen Umfeld?
Ich bin keine Expertin für Geschlechtertypologien. Aber egal ob sie Vitali, Kevin oder Ali heißen, diese jungen Männer sind grundsätzlich eine Herausforderung, unabhängig von Religion oder Ethnie. Da muss man sich nur die Statistik anschauen. Während der Anteil von Jugendlichen beziehungsweise Heranwachsenden (14 bis 21 Jahre) an der Gesamtbevölkerung im Jahr 2020 bei 6,6 Prozent lag, betrug ihr Anteil bei den Tatverdächtigen 16,7 Prozent. Studien zeigen, dass Körperverletzungstaten in vier von fünf Fällen von Männern begangen werden. Soviel zum Grundsätzlichen. Wir müssen uns jedoch fragen, wie ist die Erziehungsfolie dieser Jugendlichen? Warum wirft da einer eine Granate in eine Trauergemeinde, woher kommt diese Notwendigkeit, sich so zu exponieren?
Das klingt mir zu pädagogisch-verständnisvoll für eine Tat, die leicht Tote hätte fordern können.
Das hat nichts mit Verständnis für die Tat zu tun. Was wir durch jahrelange Forschung wissen: Es gibt nicht die Migrationsfamilie. Und nicht die muslimische Familie. Ja, es hat etwas mit Religion zu tun, aber das ist nicht der Hauptfaktor.
Was dann?
Es sind Transformationsprozesse. Ich vermute, ein Teil der jungen Männer von Altbach wird in der zweiten, eher der dritten Generation hier in Deutschland sein. Sie werden ihre Erfahrungen gemacht haben mit Ankommen und Anerkennung. Vieles spielt da mit rein. Wie sah die Schulbildung aus? Ist die Familie bildungsaffin? Zu welcher Schicht gehören sie? Und natürlich hat es auch damit zu tun, wie Eltern ihre Kinder erziehen. In meiner Arbeit rede ich viel mit Müttern, die sind es übrigens, die übersteigerte Männlichkeitserwartungen an ihre Söhne herantragen. Manche kommen aus sehr traditionellen Strukturen in eine Wissens- und Bildungsgesellschaft, wo die Geschlechterrollen fluide geworden sind und übersteigerte Männlichkeit keinen Platz mehr hat.
Oft ist ja ein Argument, dass es keine Vorbilder gibt, keine Sichtbarkeit migrantischer Menschen im öffentlichen Leben. Jetzt haben wir in Baden-Württemberg mit Landtagspräsidentin Muhterem Aras und Finanzminister Danyal Bayaz zwei Beispiele großer Sichtbarkeit.
Die sind für Jugendliche doch ganz weit weg. Was wir brauchen, sind Pädagog:innen. Der Anteil der Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte liegt deutschlandweit bei zehn Prozent. Bei den Referendar:innen bei 20 Prozent. Das ist viel zu wenig. In Baden-Württemberg liegt der Anteil der Schüler:innen mit Zuwanderungsgeschichte in der Grundschule bei 50,6 Prozent. Menschen mit meiner Biografie geben eine Folie ab, damit diese Jugendlichen reflektieren können, was man erreichen kann, aber auch über ihre "Opferrolle" nachdenken. Denn die ist bequem, aber nicht zielführend. Wer einmal drin ist, kommt schwer wieder raus, denn schuld sind ja immer die anderen.
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gerhard manthey
am 27.07.2023