So vielen Studien liegen schon lange vor zum Erwerb der Mutter-, der Erst-, Zweit-, der Drittsprache oder der Mundart. Und zur großen Gefahr falscher Weichenstellung vor allem durch Zwangsassimilation. Türkische Eltern der Gastarbeiter-Generation sahen sich dem gesellschaftlichen Druck ausgesetzt, mit ihren Kindern ihr zwangsläufig wenig ausdifferenziertes Deutsch zu sprechen. Viele Jugendliche Ende der Siebziger- und Anfang der Achtziger-Jahre machten dieselben Erfahrungen wie der gebürtige Bad Uracher Cem Özdemir, dem die Lehrkräfte schon allein mit Blick auf seine Herkunft zu wenig zutrauten. Als Heranwachsender musste er dann bei Türkeireisen erkennen, dass er die Muttersprache seiner Eltern auch nur höchst fehlerbehaftet beherrschte. Ähnlich groß wird die Sprachverwirrung, wenn der texanische Manager und die schwedische Informatikerin in Stuttgart ihre gemeinsame Zweitsprache, ein schwäbisch eingefärbtes, grammatikalisch durchaus schräges Deutsch an die Tochter weitergeben und erst im Kindergarten auffällt, wie groß der Förderbedarf ist.
Teufel und Oettinger: kurzlebige Einsichten
Für die Union im Südwesten sollten das alles keine neuen Erkenntnisse sein. 2004, bei einer von Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) angeführten Delegationsreise nach Singapur und einem Besuch der Internationalen Schule, wurden Fragen des Spracherwerbs detailliert erörtert, insbesondere dass es ungemein wichtig ist, die mühelose Entwicklung von Babys und Kleinkindern zu nutzen. Teufel hatte da die erste Runde der Debatte längst hinter sich: Jahre zuvor hatte er mit dem Blick auf Flüchtlinge aus dem zerbrechenden Jugoslawien und auf die Wählerschaft der im Landtag sitzenden rechtsnationalen "Republikaner" die Pausengespräche von Kindern und Jugendlichen durch Lehrkräfte kontrollieren lassen wollen.
Erst gab sich Teufel geläutert, danach lieferte er ein Beispiel dafür, dass wie so oft in der Bildungspolitik bei Reisen gesammelte Einsichten eine kurze Halbwertszeit haben. Denn ernsthaft durchsetzen mochte der Ministerpräsident die veränderte Einschätzung von Mehrsprachigkeit in seiner Südwest-CDU nicht. Und seinen Nachfolger und Parteifreund Günther Oettinger kümmerte es wenig, dass es so gar nicht zu dem von ihm angestrebten gesellschaftspolitisch modernen Image passen wollte, 2006 sogar in einer Regierungserklärung das Gelingen von Integration mit dem Zwang zum Schulhof-Deutsch zu verknüpfen. Immerhin lud er zu dem Thema zu einem "Runden Tisch", der am Ende zu keinem anderen Ergebnis als einer Ablehnung kommen konnte.
Weitere Reisen folgten, unter anderem eine der Bildungspolitiker:innen aller Fraktionen des Südwest-Landtags nach England und Südfrankreich. Mit immer demselben Lerneffekt: Für durchschnittlich begabte Kinder mit Migrationshintergrund ist es unerlässlich, in derjenigen Sprache sattelfest zu sein, die daheim in der eigenen Familie gesprochen wird. Projekte in London förderten sogar ganz bewusst die Vielfalt in Pausen und auf Schulhöfen, um das Selbstbewusstsein von Kindern zu stärken und Integration zu befördern.
Selbst bestehende Förderprogramme werden ignoriert
Die Erfahrungen trugen durchaus Früchte in Baden-Württemberg. Bloß werden sie negiert von allen, die mit einer Deutschpflicht liebäugeln. Seit der Gründung der Stiftung Kinderland durch Oettinger wurden Programme zu einschlägigen Förderungen entwickelt und teilweise sogar schon vor dem Regierungswechsel zu Grün-Rot 2011 von Kurzzeit-Kultusministerin Marion Schick (CDU) in den Kita- und Schulbetrieb übernommen. Eine ihrer Nachfolger:innen – Susanne Eisenmann (CDU) – erließ 2017 eine umfangreiche Verwaltungsvorschrift "über die Grundsätze zum Unterricht für Kinder und Jugendliche mit nichtdeutscher Herkunftssprache und geringen Deutschkenntnissen an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen". Vorbereitungsklassen sind eingerichtet, Zehntausende Kinder und Jugendliche im Land werden und wurden erreicht, gegenwärtig sind es rund 45.000.
Was populistische Realitätsleugner:innen aber genauso wenig zur Kenntnis nehmen wollen wie den Umstand, dass mit Rosemarie Tracy eine der international renommiertesten Linguistinnen eine zugewanderte Baden-Württembergerin ist. Seit vielen Jahren lehrt und forscht sie an der Uni Mannheim und publiziert zu dem Thema, 2007 etwa hat sie in ihrem Buch "Wie Kinder Sprachen lernen" für eine gezielte Förderung frühkindlicher Mehrsprachigkeit plädiert. 2022 wurde Tracy von der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) mit dem Wilhelm-von-Humboldt-Preis für ihre Verdienste und überdies für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Letzteres ist an der Bundespartei im Allgemeinem und – schlimm genug – speziell der Südwest-CDU komplett vorbeigegangen. Oder es wird – noch schlimmer – wissentlich und vorsätzlich übersehen.
Mehrsprachigkeit als Glücksfall
4 Kommentare verfügbar
Peter Kurtenacker
am 19.01.2023Dort ist ja das "Ministerium für Wahrheit" für die Geschichts- und Sprachfälschung zuständig.
Und das ist heute in vielen Gestalten am Werke.
Im Artikel wird unbestreitbare "merkwürdige" Ansichten der CDU angegriffen.
Gleichzeitig wird…