Apropos Griechen: Selbst Kollegen, die in der Schlagerforschung arbeiten, und viele Freunde musste ich darauf aufmerksam machen, dass das Lied "Griechischer Wein" (1974) von Udo Jürgens kein Schunkellied ist, sondern die bittere Realität von hunderttausenden Menschen in Deutschland erzählt. Das ist, so denke ich, ein weiteres Beispiel für diese Unkenntnis der Gastarbeiterrealität. Wann immer dieses Lied, und besonders diese Zeile "in dieser Stadt werde ich immer nur ein Fremder sein, und allein", auf Studentenpartys lief, ging ich aufs Klo, um zu weinen. Währendessen hielten sich die anderen bierselig in den Armen und grölten laut den Refrain mit.
Heute, im 60. Jahr des Anwerbeabkommens mit der Türkei, sind viele dieser Gastarbeiter bereits tot. Denn, wie mir ein junger Mann aus der vierten Generation einmal nach einer Lesung sagte: "Wenn die Arbeit endet, endet das Leben". Andere leben zufrieden als Großeltern und Rentner, reisen häufig noch zwischen der "Heimat" und Deutschland hin und her.
Wir, die Nachfahren, leben grundsätzlich andere Leben als unsere Eltern und Großeltern. In der dritten Generation hat es einen Milieuwechsel gegeben, einen "Schichtaufstieg". Nahezu alle unsere Vorstellungen vom Leben sind anders als die unserer Eltern und Großeltern. Die Gesellschaft und Politik politisiert das oft gerne in einer verkürzten Erzählung von der Integrationsverweigerung. Die Geschichte dieser Gastarbeiter muss erzählt werden, muss in der Mitte gekannt und, um einmal ein altmodisches Wort zu verwenden, geehrt werden.
Gastarbeiter gehören zur Geschichte Deutschlands
Die nunmehr dritte und vierte Generation folgt nicht dem Beispiel der Eltern, die noch sagten "Kopf runter und weitermachen". Sie sind artikuliert und verlangen gesellschaftliche und politische Anerkennung. Dazu gehört das Integrieren dieser Geschichte in die Historiographie der Bundesrepublik, in das Narrativ Deutschlands, das sich selbst erzählt, bisher unter Ausblendung des Beitrags von hunderttausenden Gastarbeitern.
Ein wenig mag es in diesem Jahr der Pandemie geschuldet sein, dass diese Erinnerung nur schleppend anläuft. Ein wenig sicher auch dem, was wir in diesem Land als erinnerungskulturell erinnernswert erachten. Gewerkschaften, Firmen, Markennamen, die in meinem Gedächtnis wie eine Landkarte der Gastarbeiterbiographien eingebrannt sind, sollten diese Aufgabe ebenfalls übernehmen: Ford, Mercedes, Thyssen, Krupp und Dutzende andere.
Umso mehr freut es mich, dass es in der baden-württembergischen Landeshauptstadt im DGB-Haus eine Fotoausstellung zum Thema gibt. Dass die Kulturanthropologin Ina Hagen-Jeske mit ihren Kollegen einen wunderbaren Band (Zurückgespult, Allitera 2021) mit Zeitzeugenberichten zur Augsburger Stadt- und Migrationsgeschichte und vor allem der Augsburger Kammergarnspinnerei (AKS) herausgegeben hat. Und dass die Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg anlässlich des Anwerbeabkommens ein digitales erinnerungskulturelles Projekt mit poetischen Stadtspaziergängen in Freiburg realisieren konnte. Auch die Social-Media-Plattform Instagram fungiert als erinnerungskulturelles Archiv. Hier veröffentlichen viele Akteure ihre Familiengeschichte mit Fotos, häufig in mehreren Sprachen, wie etwa hier und hier.
6 Kommentare verfügbar
Karl P. Schlor
am 03.11.2021einem "normalem" Verhältnis zwischen eingewanderten Türken und uns Deutschen. Natürlich gehören in ihrem Selbstverständnis auch türkischstämmige Deutsche zum Personenkreis, wie
Leser Ratgeb erinnert,…