LehrerInnen und SchülerInnen trösteten mich, weil ich an diesem Tag nicht aufhören konnte zu weinen. Doch es gab nichts, was trösten konnte. Trauer wandelte sich in Wut, Wut in Verzweiflung. Ich sah im Fernsehen junge Männer, Kinder der GastarbeiterInnen, wie sie in Solingen alles kurz und klein schlugen. Wir alle sahen, dass der Bundeskanzler des Landes sich weigerte, zur Beerdigung der Toten in die Türkei zu fliegen. Unverzeihlich. Wir alle hörten Ministerpräsident Rau. Wenigstens etwas Respekt und Würde. Dann drehten sich alle wieder um, wandten sich ihrem Tagesgeschäft zu und weg vom Geschehenen. Und wir? Wir, die getroffen und verwundet worden waren, für uns war kein Raum, kein Platz, keine Worte für unsere Verletzung. Und unsere Wut darüber, dass es die anderen, die Deutschen nicht traf. Tief, tief vergraben im Innersten, haben wir dieses Trauma. So tief und so weit weg aus dem Bewusstsein dieser Gesellschaft hinausgedrängt, dass ich eines Tages feststellte, dass weder die neue Generation der Nachfahren dieser GastarbeiterInnen noch die der Deutschen mit dem Stichwort "Solingen" etwas anfangen konnten. Vergessen.
Wir blieben die Fremden. Die Ausländer. Dennoch engagierten wir uns im Dialog. Interreligiös. Interkulturell. Integration. Der 11. September 2001 machte uns zu Muslimen und all das zunichte. Führte uns vor, dass es Dialog nur auf Augenhöhe geben kann. Und dass das bis dahin fehlte.
Rassismus ist nicht Geschichte
Integration haben wir begraben, schon lange und für immer an dem Tag, an dem dieses Land kübelweise Dreck über uns alle ergoss, weil Mesut Özil, ein "Türkenjunge" aus der Nationalmannschaft, nicht das tat, was von ihm erwartet wurde. Integration, dieses Wort, diese Idee, war schon lange tot. Begraben mit unseren Toten, mit den NSU-Akten, mit dem Versagen von Polizei und Staat. Währenddessen standen die Deutschen auf den Zuschauerrängen, manchmal klatschten sie und im schlimmsten Fall zogen sie es vor zu schweigen.
Am Abend des 19. Februar 2020 ermordete ein Rassist neun Menschen. An diesem Mittwochabend ging ich ganz gewöhnlich zu Bett. Am nächsten Morgen las ich die Nachricht, weinend. Das, was dort geschehen war, war unbegreiflich. Zwischen diesen zwei Taten liegen fast dreißig Jahre. Nichts hat sich verändert. Und doch hat sich alles verändert. Immer noch weigert sich dieses Land, diese Taten als die eigenen anzunehmen. Einzeltaten. Einzelfälle. Zwischen diesen zwei Taten war kein Frieden, starben Hunderte durch die Hände von Rassisten. Wählten über zwölf Prozent eine Rassisten-Partei in den Bundestag. Etwas, das ich diesem Land niemals verzeihen werde. Das ist unverhandelbar.
Ich habe viel darüber nachgedacht, warum es die Mitte der Gesellschaft nicht berührt hat, dass in Hanau neun Menschen ermordet wurden. Und dass diese Opfer noch im Tod mit dem Rassismus überzogen wurden, der Institutionen inhärent ist. Wie sonst soll man erklären, dass ein blonder, blauäugiger Junge mit "südländisch-orientalisches Aussehen" im Obduktionsprotokoll beschrieben wird, wie es der Vater von Hamza Kurtovic in Interviews berichtet. Wieso erreicht es das Gefühl der meisten Deutschen nicht, dass das auch ihre Söhne, Töchter, Mütter, Väter, Freunde sind, die dort ermordet wurden. Getötet wurden, weil in unseren Parlamenten Abgeordnete sitzen, die gegen Nicht-Deutsche, gegen den Islam hetzen. Weil Journalisten die Stimmung mitvorbereiten, wenn sie von "Döner-Morden" sprechen, wenn sie stigmatisieren und stereotypisieren.
Was ist geschehen, dass jeder Rassismus in diesem Land sofort und unmittelbar mit einem Automatismus verleugnet wird? Rassismus ist nicht Geschichte.
Trauer, Wut und Trauma
Was hat sich also verändert zwischen Solingen und Hanau? Wir, wir die "Betroffenen", wir haben uns verändert. Jeder ist betroffen von Rassismus, und wer das nicht begreift ist Teil des Problems.
Während ich noch mit Plakaten auf Demonstrationen ging, einsam durch eine Bahnhofshalle huschte, in Todesangst mich vor Pegida-Anhängern in einem ICE versteckte, während unsere Eltern sich immer mehr zurückzogen aus dieser Gesellschaft, in Ohnmacht, haben wir heute andere Wege gefunden zu kämpfen, anzuklagen, zu fordern, zu handeln.
1 Kommentar verfügbar
Christine Köhler
am 11.08.2021Ich war schon auf dem Weg zur Gedenkveranstaltung/ Demo, ein Jahr nach Hanau, als ich in den Medien erfuhr, dass sie ausfiel.
Dass ein Jahr danach die Aufarbeitung noch nicht so weit war, dass das in ARD und ZDF in den Nachrichten als Skandal dargestellt…