Nach dem brutalen Mord an George Floyd in den USA gab es auch in der Bundesrepublik ein kurzes Zeitfenster, in dem es den Anschein hatte, als könne der strukturelle Rassismus innerhalb deutscher Sicherheitsbehörden ernsthaft aufgearbeitet werden. Das Fenster war aber schnell wieder zu und ein Bundesinnenminister, der Migration als die Mutter aller Probleme betrachtet, will nun keine Studie mehr über diskriminierende Polizeipraktiken, wie sie sein Haus noch im Juni angekündigt hatte, sondern eine über Gewalt gegen Polizisten. "Die Beamten haben mein uneingeschränktes Vertrauen, und ich glaube, ich kann mir nach 50 Jahren in der Politik dieses Urteil erlauben: Unsere Sicherheitsbehörden sind ein Juwel."
Diese Kehrtwende kommt für Mehmet und Asim nicht überraschend. Sie haben es schon zu oft erlebt, wie schockierende Ereignisse die Öffentlichkeit hätten wachrütteln müssen. Wie danach jedes Mal beteuert wurde, dass Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Und wie sich dann, wenn die Aufregung erst verflogen ist, erschreckend wenig getan hat. Da kursieren Medienberichte über Reichsbürgerpolizisten und Staatsbedienstete, die rechte Terrornetzwerke mit Sprengstoff versorgen; Meldungen, dass Munition bei der Bundeswehr verschwindet oder dass Sicherheitsbedienstete ihren Tannenbaum mit Hakenkreuzkugeln schmücken; Berliner Polizeischüler, die trotz "Sieg-Heil"-Rufen in der Öffentlichkeit befördert werden; Migranten, die unter dubiosen Umständen im Polizeigewahrsam ums Leben kommen. Nachrichten, dass ein Netzwerk namens "NSU 2.0" aller Wahrscheinlichkeit nach Zugriff auf hessische Polizeicomputer hat und es bundesweit mindestens 400 Verdachtsfälle rechtsradikaler Polizisten gibt. "Aber eine Studie zu Rassismus innerhalb der Behörden ist nicht drin", sagt Asim und seufzt: "Das ist schon frustrierend."
Der erste Platz beim Heulbojenwettbewerb
Wer nichts zu verbergen habe, müsse nichts befürchten, lautet ein beliebtes Argument insbesondere konservativer Sicherheitspolitiker, wenn dafür geworben wird, Geheimdiensten und Polizei immer mehr Überwachungsbefugnisse einzuräumen. Doch im Umkehrschluss scheint sich das, was für Bürger gilt, nicht auf den Sicherheitsapparat übertragen zu lassen: Nicht nur will der Bundesinnenminister lieber nicht nachschauen, ob es hier Probleme gibt. Auch eine unabhängige Instanz, welche die Arbeit der Behörden überprüft, gibt es in Deutschland nicht – obwohl der Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen der Bundesrepublik eine entsprechende Einrichtung bereits seit 1996 empfiehlt und sich auch die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz diesem Ratschlag angeschlossen hat. Wer aber fordert, den Ordnungshütern auf die Finger zu gucken, sieht sich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, die Polizei unter Generalverdacht zu stellen.
Das dürfte auch mit einer gelungenen Öffentlichkeitsarbeit zusammenhängen. "Die Polizeilobby plärrt wie keine andere", das stand nicht im Zentralorgan der Anarchorevoluzzer, sondern 2013, tatsächlich, in der FAZ. Der Polizeiwissenschaftler Rafael Behr, der 15 Jahre lang selbst als Polizist aktiv war, bestritt damals öffentlich, dass die Gewalt gegen Polizisten tatsächlich signifikant zugenommen habe, und warf den Polizei-Gewerkschaften vor, zu viel zu "jammern". Deren Reaktion folgte prompt: Noch am selben Tag gab die Deutsche Polizei-Gewerkschaft (DPolG) eine Pressemitteilung heraus, in der sie ihr "fassungsloses Entsetzen" über diese Äußerung schildert und betont, dass Professor Behr als Lehrender an der Hamburger Polizeihochschule "offensichtlich fehl am Platze" sei.
Auch der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) konnte sich angesichts dieser Aussagen nur noch schwer vorstellen, dass Behr weiterhin Polizeinachwuchs unterrichtet. "Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs", spöttelte FAZ-Autorin Friederike Haupt, für die sich die hysterischen Statements teilweise anhörten, "als gelte es, den ersten Platz bei einem Heulbojenwettbewerb zu erringen". Was nicht besonders gut zum Bild der permanent bedroht und entwürdigten Polizeibeamten passt, ist der Lagebericht des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts über das Jahr 2010: Nur in "0,1 Prozent aller Einsätze kam es zu Gewaltandrohung, versuchter Gewalt oder Gewalt gegen Polizisten. Schwer verletzt wurden bei insgesamt 4.040.768 Einsätzen – 13 Polizisten."
Verstörende Alarmsignale
Nach der erfolgreichen Intervention 2013 war erst mal "Ruhe an der Front", freute sich später DPolG-Chef Rainer Wendt. "Das macht der nicht nochmal", sagte er über den frechen Kollegen. Auch noch sieben Jahre später müssen öffentlichen Personen mit einem Shitstorm rechnen, sobald sie Rassismus, und sei es nur latenter, bei der Polizei vermuten, wie es etwa SPD-Chefin Saskia Esken getan hat. "Es gibt ein Problem mit Cancel Culture in Deutschland", schrieb die Journalistin Nelli Tügel aktuell in "analyse & kritik" – denn "wer Polizeikritik übt, soll mit Geschrei, Drohungen und allen möglichen Spielarten der Delegitimierung mundtot gemacht werden". Dass es nun mit der künstlich aufgeblasenen Debatte um eine schlechte Kabarettistin gelungen sei, "die kurz aufgekeimte Polizeidebatte endgültig zu ersticken, ist die bizarre wie bittere Pointe".
Deutsche Medien mögen die Polizei, oder vertrauen ihr zumindest so sehr, dass sie ihre Pressemitteilungen gerne mal fast wortgleich abschreiben und das als journalistische Artikel verkaufen. Die migrantische Community hat hingegen kein Sprachrohr, das ihr vergleichbares Gehör verschaffen würde. "Ich will nicht mehr ohnmächtig sein", sagte Asim am vergangenen Samstag vor den etwa 80 Anwesenden am Stuttgarter Rotebühlplatz, von denen viele zustimmend nickten. Sie schildern ihre Erlebnisse mit der Polizei, aber niemand will ihnen glauben. Sie berichten von Diskriminierung und Alltagsrassismus, aber ihre Erfahrungen werden kleingeredet oder man fordert sie auf, nicht so zu übertreiben. Und eine Gesellschaft und ihre Minister stellen sich, trotz verstörender Alarmsignale, blind, was strukturelle Probleme in ihren Behörden angeht.
All das kann zermürbend sein. Aber Asim und Mehmet wollen das nicht so stehen lassen. Der rechtsextreme Terror von Hanau am 19. Februar 2020 war für beide ein Schlüsselmoment. Deutschlandweit gründeten sich in der Folge Migrantifa-Gruppen, auch in Stuttgart. Asim und Mehmet ziehen aus der Polizei-Debatte die Konsequenz, dass es mehr Druck braucht. Denn nach dem Mord an George Floyd "hat sich die Lage für uns eher verschlechtert als verbessert", sagt Asim. In Stuttgart gibt es seit der Krawallnacht Mitte Juni deutlich mehr Polizeipräsenz auf den Straßen und ein neues Sicherheitskonzept für Videoüberwachung in der Innenstadt. Asim bedauert die Diskursverschiebung. Aber er kann der Angelegenheit auch etwas Gutes abgewinnen: "Wir sehen gerade, dass Potenzial ist da, dass sich die Community besser vernetzt." Das gelte nicht nur für Migrantifa-Gruppen, sondern auch für Bewegung wie Black-Lives-Matter oder die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD).
Gedenken im Kunstverein
Vergangenes Wochenende, ein halbes Jahr nach dem Terror, wollten Asim und Mehmet nach Hanau fahren, wo eine große Gedenkveranstaltung für Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtovič, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kalojan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu stattfinden sollte. Aus Stuttgart war eine Busfahrt mit 50 Teilnehmenden geplant. Doch die Demonstration wurde wegen rasant steigender Corona-Infektionszahlen im Main-Kinzig-Kreis stark limitiert. Statt der erwarteten 3.000 bis 5.000 Personen durften höchstens 249 an der Kundgebung teilnehmen. Die bundesweite Mobilisierung musste kurzfristig gecancelt werden, in Stuttgart gab es eine Ersatz-Veranstaltung am Rotebühlplatz und einen Live-Stream aus Hanau im Württembergischen Kunstverein. Dort folgten gut 50 Zuschauer der Übertragung, kaum ein Wort wurde währenddessen gewechselt.
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