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Luftqualität in Baden-Württemberg

Noch nicht sauber genug

Luftqualität in Baden-Württemberg: Noch nicht sauber genug
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Der Gesundheit zuliebe: In Europa gelten ab 2030 neue Grenzwerte für Luftschadstoffe. In mehreren Städten im Südwesten ist ein umweltpolitisches Déjà-vu wahrscheinlich – durch gerissene Grenzwerte, insbesondere beim Dieselabgas Stickstoffdioxid.

Es gibt sie noch, die guten Nachrichten: "In Baden-Württemberg ist die Luft so 'sauber' wie noch nie", verkündet das Umweltportal der Landesregierung im Netz. Die Schadstoffbelastung im Südwesten sei in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen, heißt es auf der vom Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft betriebenen Plattform. Feinstaubalarm, Fahrverbote und Feuerstättenverordnung – das Unheil verheißende Vokabular aus schadstoffgeschwängerten Zeiten scheint der Vergangenheit anzugehören.

Die EU-Grenzwerte ab 2030

Feinstaub PM2,5: Der Jahresmittelwert wird von 25 µg/m³ (Mikrogramm pro Kubikmeter) auf 10 µg/m³ gesenkt. Neu eingeführt wird ein Tagesmittelwert von 25 µg/m³, der an 18 Tagen im Jahr überschritten werden darf.
Feinstaub PM10: Der Jahresmittelwert wird von 40 µg/m³ auf 20 µg/m³ reduziert. Der Tagesmittelwert wird von 50 µg/m³ lediglich auf 45 µg/m³ herabgesetzt, allerdings sind nur 18 statt bisher 35 Tage mit Überschreitungen im Jahr erlaubt.
Schwefeldioxid (SO₂): Jahresmittelwert 20 µg/m³.
Kohlenmonoxid (CO): Höchster Acht-Stunden-Mittelwert pro Tag von 10 mg/m³.
Ozon (O₃): Höchstwert 120 µg/m³, an höchstens 18 Tagen im Jahr überschreitbar.  (jl)

Doch Aufatmen ist fehl am Platz. Bald schon könnten heftige Debatten über zu miese Luft wieder den öffentlichen Diskurs bestimmen. Denn die Europäische Union hat im Oktober vergangenen Jahres strengere Grenzwerte für Luftschadstoffe beschlossen, die ab 2030 in allen Mitgliedsstaaten verbindlich werden. Sie orientieren sich an Richtwerten der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die 2021 aktualisiert wurden. Die aktuell geltenden Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoffdioxid, die vor mehr als 20 Jahren festgelegt wurden, entsprechen nicht mehr heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen über gesundheitliche Auswirkungen von Luftverschmutzung, betont auch das deutsche Umweltbundesamt (UBA).

Die neuen Grenzwerte sind Teil eines "Null-Schadstoff-Aktionsplans", den die EU-Kommission bis 2030 umsetzen will. Das Ziel: die gesundheitlichen Auswirkungen der Luftverschmutzung um mehr als 55 Prozent zu senken. Luftverschmutzung ist das größte von Umweltbedingungen ausgehende Gesundheitsrisiko in Europa: Schätzungen gehen davon aus, dass deswegen in der EU jährlich 300.000 Menschen "vorzeitig" sterben. Allerdings gebe es eine Diskrepanz zwischen den neuen, politisch ausgehandelten EU-Grenzwerten und den WHO-Richtwerten, kritisiert das UBA. Insbesondere für Feinstaub, bei dem zwischen Partikeln mit einem Durchmesser unter 2,5 Mikrometern (PM2,5) und unter 10 Mikrometern (PM10) unterschieden wird, sowie Stickstoffdioxid (NO₂) hätten sich die UBA-Expert:innen noch strengere Vorgaben aus Brüssel gewünscht.

Stickstoffdioxid bleibt im Südwesten ein Problem

Doch auch so dürfte das neue Regelwerk für ein umweltpolitisches Déjà-vu sorgen – weil an manchen Messstationen im Land die künftigen Grenzwerte wohl gerissen werden. Anders gesagt: Die Luft ist zwar über die Jahre sauberer geworden, aber sie ist längst noch nicht sauber genug. "Auch in Zukunft gibt es noch viel zu tun", heißt es vielsagend auf dem Umweltportal. "Bei Stickstoffdioxid liegt eine gute Handvoll von Kommunen, unter anderem Pforzheim, Ludwigburg und Stuttgart, an verkehrsnahen Standorten noch deutlich über den neuen Grenzwerten", teilt das zuständige Landesverkehrsministerium auf Anfrage mit. In betroffenen Städten müssten in den kommenden Jahren zusätzliche Luftreinhaltemaßnahmen umgesetzt werden.

"Bei Feinstaub PM10 ist eine sichere Einhaltung ohne zusätzliche Maßnahmen in fast allen Kommunen möglich, und bei Feinstaub PM2,5 lagen die Messwerte der letzten fünf Jahre bereits unter den neuen Grenzwerten", so eine Sprecherin von Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne). Allerdings, schränkt sie ein, könnten verstärkt Wettereinflüsse dazu führen, dass die Feinstaubwerte nicht nur an verkehrsreichen Straßen ansteigen und Grenzwerte womöglich nicht eingehalten werden können. Zuletzt war dies im vergangenen Frühjahr der Fall, als sich die Schadstoffe aufgrund der langanhaltenden, sogenannten austauscharmen Hochdruckwetterlage nicht verteilen und verdünnen konnten.

Problemschadstoff NO₂

Da der neue Jahresmittelgrenzwert der EU-Vorgabe für Stickstoffdioxid (NO₂) künftig auf 20 µg/m³ (Mikrogramm/Kubikmeter) halbiert wird, deutet sich schon heute ein Luftreinhalteproblem an. Allein in Stuttgart wurde an zehn der zwölf Messstellen im vergangenen Jahr dieser Wert übertroffen, und zwar meist fast um das Doppelte. Nur an zwei Messstationen blieb er darunter. Auch im Rest des Landes bleibt NO₂ absehbar ein Problem. In Ludwigsburg und Freiburg etwa liegen die Werte vergleichbar hoch wie in der Landeshauptstadt.  (jl)

Ein Blick zurück lässt erahnen, welchen Herausforderungen sich Landesregierung, Kommunen und nicht zuletzt die Verursacher wie Betriebe und Bürger:innen stellen müssen. Hauptquelle der Luftschadstoffe war bis dato das Verbrennen fossiler Energieträger. Im städtischen Bereich sorgten so vor allem Dieselmotoren für dicke Luft. So galt etwa die Landeshauptstadt Stuttgart noch vor wenigen Jahren als Feinstaubhochburg der Republik, der Verkehrsknoten am Neckartor als die "dreckigste Kreuzung Deutschlands". Oft ging in den Medienberichten unter, dass nicht nur an der berühmten Problemkreuzung die zulässigen Grenzwerte deutlich geschleift wurden, sondern auch an anderen Hauptverkehrsstraßen im luftaustauscharmen Stadtkessel.

So mussten Anwohner:innen verkehrsreicher Straßenzüge jahrelang über Gebühr winzige Staubpartikel einatmen, die in die Lunge gelangen und dort Entzündungen auslösen können. Langfristig steigert Feinstaub das Risiko, an Asthma, Bronchitis, Lungenkrebs oder Herz-Kreislauf-Problemen zu erkranken. Besonders gefährlich sind die ultrafeinen Partikel (Größe PM2,5), die tief in die Lunge eindringen und sogar ins Blut gelangen können. Allein im Januar 2016 überschritten die gemessenen Feinstaubkonzentrationen am Stuttgarter Neckartor an acht Tagen den zulässigen Tagesmittelwert von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Ein bis heute gültiger Rekord wurde am Neujahrstag registriert: Die Böllerei in der Silvesternacht ließ den Wert auf 170 Mikrogramm pro Kubikmeter hochschießen.

Es brauchte Demos und Klagen

Noch schwerer war es, die Grenzwerte für NO₂ einzuhalten, ein rotbraunes Giftgas mit stechendem, chlorähnlichem Geruch. NO₂ reizt bereits in geringer Konzentration die Lungen und kann langfristig zu Asthma, Herzinfarkt oder Schlaganfall führen. Seit dem Jahr 2010 sind für NO₂ in der EU im Jahresmittel 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft zulässig. In Stuttgart wurden lange Zeit Werte von über 100 Mikrogramm pro Kubikmeter gemessen.

Feinstaubquellen

Primärer Feinstaub wird direkt an der Quelle freigesetzt, etwa durch Verbrennung oder mechanischen Abrieb. Laut der Landesanstalt für Umwelt ist Straßenverkehr mit etwa hälftigem Anteil größte Feinstaubquelle: durch Aufwirbelungen und Reifen- und Bremsenabrieb, während Abgasfeinstaub dank optimierter Motoren und mehr Elektrofahrzeugen zuletzt stark sank. Gegner der Verkehrswende bemängeln, dass die Batterien der E-Kfz das Fahrzeuggewicht erhöhen und dadurch zu wesentlich mehr Reifenabrieb führen. Das ist strittig – der tatsächliche Effekt dürfte eher von Fahrstil und Reifenqualität abhängen. Zudem erzeugen E-Autos durch Rekuperation weniger Bremsabrieb, was einen Teil des zusätzlichen Reifenabriebs ausgleichen könnte. Neue Reifentechnologien sollen künftig den Abrieb reduzieren.
Sekundärer Feinstaub entsteht durch chemische Reaktionen in der Atmosphäre aus Gasen wie Schwefel- und Stickoxiden sowie Ammoniak.
Die genaue Zusammensetzung und die Anteile der einzelnen Quellen variieren je nach Region und Jahreszeit. In Städten ist der Straßenverkehr oft die Hauptquelle, während in ländlichen Gebieten die Landwirtschaft eine größere Rolle spielt.  (jl)

Es brauchte erst Demonstrationen und Klagen, bis die grün geführte Landesregierung Luftreinhaltepläne mit mehr als heißer Luft fortschrieb – mit Maßnahmen, die messbar etwas bewirkten. Etwa das Einführen einer Umweltzone im gesamten Stuttgarter Stadtgebiet. So dürfen seit 2019 Dieselfahrzeuge mit der Abgasnorm Euro 4 und schlechter nicht mehr nach Stuttgart einfahren. Die "kleine Umweltzone", die den Stuttgarter Talkessel sowie die industriell geprägten Stadtbezirke Bad Cannstatt, Feuerbach und Zuffenhausen umfasst, ist seit 2020 für Dieselfahrzeuge mit der strikteren Abgasnorm Euro 5 und schlechter tabu. Zu besserer Luft verhilft auch ein Lkw-Durchfahrtsverbot, das im selben Zeitraum erlassen wurde.

Schon zuvor, im Jahr 2016, wurde erstmals in der Landeshauptstadt Feinstaubalarm ausgerufen, sobald die amtlichen Wetterfrösche austauscharme Inversionswetterlagen, bei der kalte Luft über dem Boden und warme darüber liegt, vorhersagten. Bis auf ein späteres Betriebsverbot von sogenannten Komfort-Kaminen beschränkten sich die Behörden in Alarmzeiten auf Appelle, etwa das Auto stehen zu lassen und auf Busse und Bahnen umzusteigen, die die Stuttgarter Straßenbahnen zusätzlich einsetzten.

Später wurde auf Hauptstraßen das zulässige Tempo von 50 auf 40 Kilometer pro Stunde beschränkt. Im Autoland Baden-Württemberg war selbst der grüne Verkehrsminister Hermann stets bemüht, "möglichst ohne verkehrsbeschränkende Maßnahmen die Luftschadstoffgrenzwerte einzuhalten". Da trotz Feinstaubalarm viele ihr Heilig's Blechle mit grüner Plakette weiterfuhren, kam man im Land der Tüftler immerhin auf Idee, stromfressende Luftfiltersäulen an besonders belasteten Straßen aufzustellen.

Ziel: möglichst keine Verkehrsverbote

Vor allem dank schadstoffärmeren Motoren rückte im Laufe der Zeit statt Abgasen der mechanische Abrieb bei Bremsen und Reifen als Hauptquelle für Feinstaub in den Fokus. Dennoch: Seit 2011 wird in der Landeshauptstadt Stuttgart der Grenzwert für Feinstaub (PM10) im Jahresmittel eingehalten, seit 2018 wird auch der höchstzulässige Tagesmittelwert am Neckartor unterschritten. Und seit 2017 wird auch der Grenzwert für die Kurzzeitbelastung (200 Mikrogramm pro Kubikmeter im Stundenmittel) durch Stickstoffdioxid eingehalten. Ab 2021 wurde an allen Messstellen im Stadtgebiet der Grenzwert für den Jahresmittelwert der NO2-Konzentration nicht mehr gerissen – wenn auch nur knapp. "Seit 2022 werden alle geltenden Luftschadstoffgrenzwerte flächendeckend in Baden-Württemberg eingehalten", heißt es aus dem Landesverkehrsministerium. Aus gesundheitlicher Perspektive sei man jedoch noch nicht am Ziel. "Trotz aktuell guter Luftqualität können Schäden für die menschliche Gesundheit noch immer nicht völlig ausgeschlossen werden", so die Sprecherin.

Aktuell begleitet das Ministerium die Umsetzung der neuen EU-Luftqualitätsrichtlinie in nationales Recht, das notwendige rechtliche Instrumente zur Einhaltung der Grenzwerte verankert. Zudem sind die für die Luftreinhalteplanung zuständigen Regierungspräsidien bereits im Austausch mit Kommunen, die nach aktuellem Stand ab 2030 die Grenzwerte nicht einhalten würden. Kommunen, die im kommenden Jahr die künftig geltenden Grenzwerte überschreiten, müssen spezielle Projektionen für das Jahr 2030 erstellen, so das Verkehrsministerium. Zeigen diese noch Grenzwertüberschreitungen an, muss ein Luftqualitätsfahrplan mit Maßnahmen erarbeitet werden.

Ziel ist, dass möglichst keine Verkehrsverbote notwendig werden. Dennoch seien Grenzwertüberschreitungen bei NO₂ an verkehrsnahen Standorten wahrscheinlich, erwartet der Verkehrsminister. In diesem Fall sollten Maßnahmen nach dem Verursacherprinzip auch an der maßgeblichen Quelle ansetzen, nämlich am Verkehr: "Dies ist nur möglich, wenn die Kommunen mit Unterstützung des Landes die Verkehrswende jetzt mit Mut und Kraft vorantreiben, den ÖPNV verbessern, in Rad- und Fußverkehr investieren und die Elektromobilität und E-Ladeinfrastruktur ausbauen", betont die Sprecherin des grünen Verkehrsministers Hermann.

Falls dies nicht gelingt, lässt die EU eine Hintertür sperrangelweit offen: Unter bestimmten Bedingungen können Fristverschiebungen bis zum Jahr 2035, 2037 oder sogar 2040 in Brüssel beantragt werden.

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