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Scheuer und wie er die Welt sieht

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Eine wissenschaftliche Stellungnahme fordert eine radikale Verkehrswende. Doch der zuständige Minister Andreas Scheuer und große Teile der Presse stürzen sich nur auf die isolierte Aussage, dass lokal begrenzte Fahrverbote "wenig sinnvoll" seien.

Andreas Scheuer (CSU) soll ja auch Bundesverkehrsminister sein. Vor allem aber ist der Niederbayer bekannt als Gaudibursch. Sein Credo, dass Klimaschutz Spaß machen soll, und dass das nicht der Fall sei, wenn man sich in masochistischen Fahrverbots- und Grenzwerte-Debatten bewege, haben wir bereits dokumentiert. Spaß macht zum Beispiel, ohne Tempolimit autozufahren. Sich den Pelz zu waschen und dabei nass zu werden, macht keinen Spaß. Gar keinen Spaß.

Sehr viel Spaß dürfte Scheuer gemacht haben, dass im Januar ein Lungenfacharzt namens Dieter Köhler eine von rund hundert Kollegen unterschriebene Stellungnahme lancierte, in der stand, dass die Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide viel zu streng und wissenschaftlich nicht begründbar seien. Diese Initiative sei, so Scheuer, ein überfälliger Schritt, "Sachlichkeit und Fakten" in die Diesel-Debatte zu bringen. Als die taz kurz darauf enthüllte, dass sich Köhler bei seinen Berechnungen um den Faktor 1000 verrechnet hatte, wird Scheuer dies so unspaßig gefunden haben, dass er darüber kein Wort mehr verlor.

Um die Gefährlichkeit von Stickoxiden und Feinstaub und die Sinnhaftigkeit bestehender Grenzwerte wissenschaftlich zu klären, hatte die Bundesregierung schon kurz vor der dieser Enthüllung die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina beauftragt. Diese stellte nun am 8. April ihre "Ad-hoc-Stellungnahme" vor, für die sie den aktuellen Forschungsstand ausgewertet hat (<link https: www.leopoldina.org uploads tx_leopublication external-link-new-window>hier zum Download). Die Ergebnisse: Die Grenzwerte sind alle wissenschaftlich wohlbegründet und nicht zu streng. Im Gegenteil, bei Feinstaub müssten sie sogar noch viel strenger sein, denn der ist weit gefährlicher als Stickoxide, die Empfehlungen der Weltgesundheitsbehörde WHO gingen hierzu auch viel weiter als die Grenzwerte der EU. Und überhaupt müssten die Probleme Luftreinhaltung und Klimaschutz viel großflächiger, mit einer bundesweiten Strategie angegangen werden, eine nachhaltige Verkehrswende müsse her, "isolierte Fahrverbote" gehörten dabei zu den "wenig sinnvollen Maßnahmen".

Autoschmusender Lobbyist mit selektiver Wahrnehmung

Die Bestätigung der angezweifelten Grenzwerte und die Forderung einer umfassenden Verkehrswende könnte man nun als schallende Ohrfeige für Scheuer interpretieren. Der Minister selbst sieht dies freilich ganz anders: "Die Stellungnahme der Leopoldina zeigt ganz klar, dass streckenbezogene Fahrverbote der falsche Weg sind", so Scheuers erster Kommentar zur Veröffentlichung gegenüber der dpa. Und bei dieser Gelegenheit stellte er erneut die von den Wissenschaftlern eben erst als angemessen beurteilten Grenzwerte infrage: "Wir müssen über die Sinnhaftigkeit von Grenzwerten sprechen", das Gutachten der Leopoldina sei "eine Steilvorlage für eine erneute Diskussion" und, in fast schon kalterkriegerischer Franz-Josef-Strauß-Diktion: "Grenzwerte dürfen nicht politisch-ideologisch festgesetzt sein. Sie müssen erreichbar sein. Wir müssen Fahrverbote vermeiden."

Eine Reaktion von beachtlicher Chuzpe, ihrerseits eine Steilvorlage für Medien, Scheuer als autoschmusenden Lobbyisten mit strategisch selektiver Wahrnehmung in fast schon intelligenzbeleidigendem Ausmaß bloßzustellen. Oder einfach, schön zugespitzt, als Fehlbesetzung auf seinem Posten. Und natürlich sprangen viele Medien auch an – auf die Fahrverbote.

"Leopoldina sieht Fahrverbote kritisch" (<link https: www.faz.net aktuell politik inland nationalakademie-leopoldina-sieht-fahrverbote-kritisch-16132011.html external-link-new-window>FAZ), "Fahrverbote bringen keine Entlastung" (<link https: www.spiegel.de gesundheit diagnose diesel-fahrverbote-bringen-laut-leopoldina-keine-entlastung-a-1261930.html external-link-new-window>Spiegel Online ), "Wissenschaftler gegen Diesel-Fahrverbote" (<link https: www.deutschlandfunk.de external-link-new-window>Deutschlandfunk) oder "Fahrverbote wenig erfolgversprechend" (<link https: www.tagesschau.de wirtschaft fahrverbote-leopoldina-101.html external-link-new-window>Tagesschau.de), "Sinnlose Fahrverbote?" titelte mit Schlagzeile auf Seite eins die StZ. Der Gerechtigkeit halber sei gesagt, dass viele dieser Artikel das Leopoldina-Papier dann doch noch etwas differenzierter betrachteten. Ohne allerdings herauszustellen, dass aus der Reaktion Scheuers nicht gerade zu erwarten ist, dass dieser die weitreichenden Forderungen auch nur ansatzweise als Auftrag betrachtet. Die Frage ist da, was schlimmer wiegt: Ein Minister, der ein Statement von Wissenschaftlern derart anmaßend umdeutet – oder die Tatsache, dass diese Anmaßung nicht sonderlich thematisiert wird.

Wissenschaftlich widerlegt? Schwamm drüber!

Ganz abgesehen davon lohnt es sich, die Stellungnahme der Leopoldina etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Gerade bei den Fahrverboten: Als "wenig sinnvoll" werden darin "kleinräumige und kurzfristige Beschränkungen" bezeichnet, "dies gilt unter anderem für Straßensperrungen und isolierte Fahrverbote, die zu einer Verkehrsverlagerung in andere Stadtgebiete führen". Das passt vor allem auf die Fahrverbote in Hamburg oder Berlin, die sich nur auf einzelne Straßen innerhalb der Innenstadt beziehen. Ob sich die Aussage auch auf Stuttgart, wo der gesamte Innenstadtbereich im Talkessel Fahrverbotszone ist, anwenden lässt, ist nicht so klar und wird in dem Papier auch nicht ausgeführt.

Ganz widerspruchsfrei ist die Leopoldina-Stellungnahme ohnehin nicht. Denn an anderer Stelle, bei den empfohlenen Maßnahmen zur Schadstoffreduktion, werden unter "Verkehrssteuerung" durchweg lokal begrenzte Maßnahmen aufgeführt. So heißt es auf Seite 43 unter "zonale Einfahrtbeschränkungen": "Empirische Analysen" hätten für Deutschland "übereinstimmend" gezeigt, "dass die Einführung von Umweltzonen zu einer Feinstaubreduktion zwischen 4 und 9% geführt hat."

Nun stellen Umweltzonen und "zonale Einfahrtbeschränkungen" nichts anderes dar als Fahrverbote für Autos, die bestimmte Kennzeichnungen, Plaketten nicht haben - in Stuttgart wohlbekannt. Wurde nur nie Fahrverbot genannt. Zwei Absätze weiter befasst sich die Leopoldina auch mit "Geschwindigkeitsreduktion" – also Tempolimits – und führt für solche auch "nachweislich" günstige Effekte für die Luftqualität an, für die Reduktion von Stickoxiden und CO2. Allerdings nur für zonale Tempolimits auf "städtischen Autobahnen". Warum nicht auf allen, wenn doch der nur zonale Ansatz bei Diesel-Fahrverboten als "wenig sinnvoll" kritisiert wird? Aus Sorge um den ministeriellen Blutdruck? Man weiß es nicht.

Ökostalinistischer Gottseibeiuns: Höhere Treibstoffsteuern

Abgesehen davon dürfte unstrittig sein, dass großflächige, bundesweite Lösungen gegen Schadstoffprobleme stets der bessere Weg sind. Was aber tun, wenn, wie die Wissenschaftler ja schreiben, die Grenzwerte korrekt und angemessen sind, sie aber lokal, etwa in Stuttgart, besonders oft und drastisch überschritten werden?

Hier sei noch einmal der Spruch des Richters Wolfgang Kern vom Stuttgarter Verwaltungsgericht aus dem Juli 2017 erinnert: Fahrverbote seien die "derzeit einzige geeignete Maßnahme", Stickoxid-Emissionen in Stuttgart "schnellstmöglich zu reduzieren". (<link https: www.kontextwochenzeitung.de editorial autogerecht-menschengerecht-4509.html external-link-new-window>Kontext berichtete) Die "schnellstmögliche" Reduktion verlangt das EU-Recht nicht erst seit gestern, und selbst für den höchst unwahrscheinlichen Fall, die Bundesregierung würde sofort beginnen, den von der Leopoldina vorgeschlagenen Maßnahmenkatalog zur Verkehrswende umzusetzen, würde dies bis zu spürbaren Effekten vermutlich etwas dauern.

Überhaupt, der Maßnahmenkatalog. Unter "preisliche und steuerliche Instrumente" finden sich in dem Leopoldina-Papier neben der langweiligen Konsensforderung "Ausbau des öffentlichen Verkehrs" auch Sachen wie "differenzierte Maut" und "Steuern und Steuerbefreiung". Denn: "Höhere Treibstoffsteuern führen zu deutlichen Verhaltensänderungen, wie viele Studien zeigen". Beides natürlich der ökostalinistische Gottseibeiuns für wirtschaftsfreundliche Autoknutscher wie Scheuer und führende Vertreter (wenn nicht alle Mitglieder) der baden-württembergischen Union. Notleidende Autofahrer belasten, das macht doch keinen Spaß.

Trotzdem scheint sich Scheuer nun leicht im Zugzwang zu sehen - und wendet sich lieber den Zugfahrern zu: Um die Bahn attraktiver zu machen, will er nun für Fernverkehrstickets "die Absenkung der Mehrwertsteuer von 19 auf sieben Prozent".

Im Aufgreifen der alten Grünen- und Linken-Forderung sah die Linken-Bundestagsabgeordnete Sabine Leidig den "ersten vernünftigen Vorschlag" des Bundesverkehrsministers.

Müssen wir uns Sorgen um Andreas Scheuer machen?


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4 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 15.07.2019
    Antworten
    WEB.de 15. Juli 2019, 10:40 Uhr Pkw-Maut: Andreas Scheuer flattert Klage auf Offenlegung der Verträge ins Haus – Kommentar #99 https://up.picr.de/36258297hx.pdf
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