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Der Raserei verfallen

Der Raserei verfallen
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Das Tempolimit in Deutschland wird kommen, so wie das Rauchverbot in den Gaststätten, meinte einst Fritz Kuhn. Das war vor elf Jahren im Bundestag, und wahr geworden ist die Prophetie bisher nicht. Wird sie aber früher oder später. Weil die Klimaziele 2030 nicht anders zu erreichen sind.

Von einer "Phantomdebatte" über Geschwindigkeitsbeschränkungen sprach die neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer beim Antrittsbesuch in Baden-Württemberg. Ende Januar kommt die Südwest-CDU traditionell im Kloster Schöntal zusammen. Wieder einmal ist die Stimmung vorsätzlich aufgeheizt, zum Beispiel von Generalsekretär Manuel Hagel, der in die Giftkiste vergangener Wahlkämpfe greift und den Grünen mal wieder einen Hang zur Verbotskultur vorwirft. Mal wieder geht es um die Verkehrspolitik, um Fahrverbote. Nur zur Erinnerung: Die sind von deutschen Gerichten verhängt, auch, weil sich speziell unionsgeführte Bundes- und Landesregierungen seit Jahren um die Verantwortung für eine neue, klimaschonende Mobilität herumdrücken. 

Und mal wieder geht es um der Deutschen liebstes Reizthema, ums Tempolimit. Ein großer Teil der Straßen in der Republik habe ja schon eins, weiß AKK und drückt sich, wie so viele andere in diesem Streit, der so regelmäßig wiederkehrt wie die Flut nach der Ebbe, absichtlich unpräzise aus. Von einer Phantomdebatte kann jedenfalls keine Rede sein. Denn: Auf 60 Prozent der Autobahnkilometer gibt es nach Angaben des ADAC (!) immer freie Fahrt für freie BürgerInnen, auf weiteren zehn Prozent "bei Bedarf". <link https: vm.baden-wuerttemberg.de de verkehrspolitik verkehrssicherheit tempolimits external-link-new-window>Schon ein kurzer Blick auf eine einschlägige Baden-Württemberg-Karte zeigt, wie viele Autobahnkilometer im Rheintal, Richtung Bodensee, Würzburg oder Nürnberg weiterhin zum Rasen einladen.

Fritz Kuhn, im November 2007 Grünen-Fraktionschef im Bundestag und heute Oberbürgermeister von Stuttgart, hatte seinerzeit absolute Zahlen dabei: "Ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen bringt sofort, ich betone: sofort, eine Reduktion der CO2-Emissionen um mindestens 2,5 Millionen Tonnen jährlich." Die Schweizer Bundesbahnen SSB legten zur selben Zeit eine Vergleichsrechnung vor, wonach ein Mensch mit dem Zug 450 000 Kilometer zurücklegen muss, um auf einen CO2-Fussabdruck von einer einzigen Tonne zu kommen. Und erst kürzlich ermittelte das Umweltbundesamt, dass jede ausgestoßene Tonne CO2 Umweltschäden in Höhe von 180 Euro verursacht, die die Allgemeinheit zahlen muss. Realistisch: zahlen müsste. Die Deutsche Umwelthilfe erwartet sogar, dass bei 120 auf Autobahnen und 80 auf Landstraßen bis zu fünf Millionen Tonnen CO2 eingespart werden könnten. Eine Größenordnung, für die sich die Bundesregierung an anderer Stelle, bei der Gebäudesanierung, wortreich rühmt.

Super Klimawirkung, dennoch: "gegen jeden Menschenverstand"

Trotzdem sieht Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) in der Zustimmung der  Arbeitsgruppe "Klimaschutz im Verkehr" in seinem eigenen Haus zu 130 Stundenkilometer auf Autobahnen einen Verstoß "gegen jeden Menschenverstand". Viele Unionsfreunde, FDPler, aber auch GenossInnen sekundieren ihm. Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) ist im TV-Interview quälende sieben Nachfragen lang nicht bereit und in der Lage, sich zu einem klaren Bekenntnis durchzuringen. Oder gar an Scheuer zu appellieren. Der mag vorerst nicht einmal mehr reden mit den ExpertInnen aus Industrie, Gewerkschaften und Umweltverbänden, von ADAC oder Bahn. Dabei sind sie alle ausdrücklich aufgerufen, bis März Vorschläge zu unterbreiten, was und wie der Verkehrsbereich beitragen kann, um die deutschen Klimaziele anno 2030 zu erreichen – nachdem die Latte 2020 ohnehin schon gerissen wird. Wie all die ChefideologInnen wider die verkehrspolitische Vernunft bemerkt Scheuer gar nicht, dass sich zwei der Hauptgegenargumente ausschließen: entweder verstößt ein allgemeines Tempolimit "gegen jeden Menschenverstand" oder Tempolimits sind so richtig und wichtig, dass eine Vielzahl von Strecken in der Republik ohnehin schon eins hat.

Für Logik ist eben kein Platz, und das schon seit Jahrzehnten. "Es ist so, als wenn Sie für Männer eine Art amtlich verfügte Potenzminderung durchsetzen würden", sagt Cem Özdemir. Oder, ähnlich deutlich, Winfried Kretschmann im April 2007, als seine Grünen im Stuttgarter Landtag ihr umfassendes Klimakonzept vorlegten: "Für viele Deutsche ist die freie Fahrt dasselbe wie für den Ami der Waffenschein." Dabei war die Republik schon deutlich weiter. Während der Ölkrise in den 1970er Jahren gab es sogar ein paar Monate lang ein allgemeines Tempolimit auch auf Autobahnen – und die Republik ging erstaunlicherweise nicht unter. Seither gilt 130 als unverbindliche Richtgeschwindigkeit. Ein nationaler Alleingang, wie er auf anderen Politikfeldern als unsinnig gerade von Union und FDP abgelehnt würde.

Zudem ging es im ersten großen Streit um Verhaltensveränderungen durch Vorgaben und Vorschriften, um das, was etwa CDU-Generalsekretär Hagel in agitatorischer Absicht als "Verbote" hinstellt. "Wir müssen reagieren", so Bundeskanzler Willy Brandt, ein vergleichsweise spätberufener 130-Befürworter, "es kann nicht weitergehen mit Deutschland, Deutschland über alles bei der Raserei." Selbst sein Nachfolger, der bekennende Opel-Fahrer Helmut Schmidt, ebenfalls lange Zeit ein Gegner von Beschränkungen, schrieb einem Ja Ende der 1970er eine "psychologische Wirkung" zu. Die Bürger müssten sich rechtzeitig "aufs Sparen einstellen". Und ein dritter maßgeblicher Sozialdemokrat, Forschungsminister Volker Hauff, konnte einer generellen Drosselung der Geschwindigkeit auf Autobahnen noch einen speziellen Aspekt abgewinnen. "Wir wollen möglichst viele der Wähler zurück, die bei der EU-Wahl grün gewählt haben", sagte er mit Blick auf die eben erst gegründete Öko-Partei, die "kleingehalten werden kann, wenn wir Sozialdemokraten zeigen, dass wir Strukturveränderung wollen und durchsetzen".

Kein Kick für die Konstrukteure

Das war 1979 und nach dem Beschluss der EG-Regierungschefs, den Mineralölverbrauch einzufrieren. Das sollte nur bis 1985 gelten, aber in der Hoffnung, eine unumkehrbare technische Entwicklung anzustoßen. Einer der Zauberer dieser Jahre war Ernst Fiala, Chefkonstrukteur bei VW, der am Sparauto arbeitete, am Dreiwegekatalysator oder an kleineren Dieselmotoren. Der gebürtige Wiener gehörte zu den glühendsten Kämpfern gegen ein Tempolimit, argumentierte – wie seine Epigonen in Wolfsburg, Ingolstadt oder Stuttgart bis heute – mit Arbeitsplätzen, Erfolgen im Konkurrenzkampf und dem Wettbewerbsvorteil durch höhere Geschwindigkeiten für alle im Alltag: "Ein Tempolimit lässt langfristig die Qualität des Autos sinken." Kein Tempolimit, das gebe den Konstrukteuren den notwendigen Kick.

Tatsächlich war an Innovationen kein Mangel, weshalb es absurd ist, wenn Hagel mit der erkennbaren Absicht, dem grünen Koalitionspartner am Zeug zu flicken, als Prinzip verkündet: "Wir wollen keine Verbote, sondern Innovationen." Die immer neuen Rekordverkaufszahlen und in den vergangenen Jahren vor allem der Hang zu dicken, fetten Stadtautos haben die Erfolge im Kampf gegen den Schadstoffausstoß mehr als zunichte gemacht: Allein von 2010 bis 2017 stieg die CO2-Belastung durch den Verkehr, anstatt zu sinken, um deutlich über sechs Prozent.  "Die Umwelt- und Klimaentlastung im Personenverkehr kann nicht nur durch technische Verbesserungen am Fahrzeug erreicht werden", erinnert gerade zum x-ten Mal das Umweltbundesamt. <link https: mil.brandenburg.de media_fast studie_tempolimit.pdf external-link-new-window>Und Brandenburg präsentiert gerade eine neue Untersuchung, die sehr wohl positive Auswirkungen auf die Sicherheit und die Zahl der Verkehrstote und die Unfallkosten in Millionenhöhe belegt.

Aber Ämter, ExpertInnen und WissenschaftlerInnen haben schlechte Karten in einer Zeit, in der gut hundert Lungenfachärzte ohne einschlägige Expertise tagelang die Republik bewegen. Wider besseres Wissen werden Grenzwert-Vereinbarungen problematisiert – selbst solche, die seit mehr als zehn Jahren geltendes Recht sind.

Ausgerechnet <link https: www.kontextwochenzeitung.de editorial liebe-bilger-innen-3685.html _blank>Steffen Bilger, der CDU-Bezirksvorsitzende von Nordwürttemberg und Staatssekretär im so viele Versäumnisse verantwortenden Bundesverkehrsministerium, hat eine Debatte um die Standorte von Messstationen angezettelt. Per "Bild" ließ er im vergangenen März wissen, dass "einige Standorte von Messstellen zurzeit kritisch hinterfragt werden, ob sie überhaupt den europäischen Vorgaben entsprechen". Und er unterstelle, dass nicht "objektive Werte, sondern die schlechtestmöglichen" ermittelt würden. Die Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg, jahrelang geleitet von seiner Parteifreundin Margareta Barth, stellte zwei Monate später nach einem Treffen mit VertreterInnen aus Verwaltung, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Umwelt fest, dass "keine begründeten Zweifel an der Qualität, dem Umfang und den Standorten der Messungen zur Luftqualität bestehen".

Stimmungsmache mit Messwerten

Als hätte es diese Überprüfung nie gegeben, wird ständig Stimmung gemacht gegen kritische Fachleute, um damit die Grünen in ein schlechtes Licht zu rücken. So verlangt CDU-Fraktionschef Wolfgang Reinhart EU-weit "einheitliche Standards beim Messen", als hätte es irgendeine Auswirkung auf die schlechte Luft in deutschen Innenstädten, ob, wie er unterstellt, in Griechenland auf Dächern gemessen wird und nicht an Straßen. Auch Bilger lässt jede Form von Besonnenheit vermissen, wenn er meint, es gebe immer mehr Zweifel in der Bevölkerung, ob überhaupt richtig gemessen wird und die EU nicht überzogene Vorgaben formuliert. Eine irrationale Pseudo-Skepsis, die er selber überhaupt erst genährt hat und inzwischen in jedem Statement befeuert. Eine gefährliche Strategie in einem Europawahljahr.

Noch ärger treibt es die Generalsekretärin der Südwest-Liberalen, Judith Skudelny. "Deshalb steht die ganze Region Stuttgart auf", sagt sie und wettert gegen Grenzwerte, Messungen, Fahrverbote. Und liefert doch nur den Beweis, dass auch die FDP Fake News kann. <link https: www.kontextwochenzeitung.de debatte diesel-demo-5692.html external-link-new-window>Nach Polizeiangaben haben sich letzten Samstag auf dem Stuttgarter Wilhelmsplatz gerade einmal 1200 Menschen versammelt, um gegen Politiker als "Lügenpack" und gegen die Verkehrsbeschränkungen für Euro-4- und ältere Diesel als "Enteignung" zu demonstrieren. Tatsächlich wird jetzt, in der Hoffnung die AufwieglerInnen könnte damit zufrieden sein, der Standort Neckartor überprüft. Die bisher nicht diskreditierten anderen beiden Stationen in der Hohenheimer Straße und auf dem Arnulf-Klett-Platz liefern allerdings auch regelmäßig überhöhte Werte.

Neue Bewegung, aber in die umgekehrte Richtung, muss schon allein deshalb in die Debatte kommen, weil auf EU-Ebene bereits deutlich ambitioniertere Grenzwerte beschlossene Sache sind – und mit Blick auf die Erderwärmung auch notwendig. Auch weil sich die Erwartungen zum Verkehrsfluss, zum Anfahren und Abbremsen, die mit dem Thema Autonomes Fahren verbunden werden, nur bei einheitlicherer Geschwindigkeit erfüllen können. "Noch vor dem Roboterauto werden wir ein Tempolimit in Deutschland haben", prognostizierte schon vor Jahren Ferdinand Dudenhöfer, der in so vielen Mobilitätsfragen vom Saulus zum Paulus gewandelte Verkehrsexperte. Unter anderem, weil der Standortvorteil erfunden ist: "In Ländern mit viel strikteren Vorgaben wie den USA werden mehr Porsches verkauft als in Deutschland."

Und noch ein Aspekt ist fast so alt wie die Debatte: 1984 präsentierte Gerhard Weiser, baden-württembergischer Landwirtschaftsminister, dem der Bereich Umwelt zugeordnet war, zähneknirschend der vom Wahlsterben aufgerüttelten Öffentlichkeit eine neue Studie. Die Schweizer Nachbarn hatten umfangreiche Messdaten ausgewertet und kamen zur Erkenntnis, dass Geschwindigkeitsbegrenzung den Stickoxidausstoß der Personenwagen auf Autobahnen um etwa zwölf Prozent reduzieren könne. Das entspreche dem Gegenwert von – damals aus der Ölkrise noch sehr präsenten – 33 autofreien Sonntagen. Wenn das stimme, so Weiser, müsse man wirklich über ein Tempolimit nachdenken, und "dann können es alle ruhiger angehen, gerade die älteren Autofahrer".  Irgendwie auf den nagenden Zahn der Zeit setzte mehr als 20 Jahre später auch Fritz Kuhn. Es gebe einen Grund, sagte er, damals mit gerade 51 im Bundestag, der noch wenig diskutiert werde in der Öffentlichkeit, "aber ich will ihn nennen: Stress und Aggressionen würden abgebaut, und vor allem für ältere Menschen wären die Autobahnen leichter benutzbar". Und die Weisheit soll mit dem Alter auch zunehmen. Um den umfassenden Schutz vor allem von PassivraucherInnen musste übrigens mehr als 50 Jahre gekämpft werden. 


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13 Kommentare verfügbar

  • Fred Nagel
    am 13.03.2019
    Antworten
    Damit es etwas schneller geht, können Sie die Petition für ein Tempolimit beim Bundestag unterzeichen:
    https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2019/_01/_09/Petition_89913.nc.html
    Zeigen wir der Politik, dass wir uns nicht wieder einlullen lassen, mehr als die Hälfte der Bundesbürger ist laut…
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