KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Das Dieseltheater

Das Dieseltheater
|

Datum:

Jetzt stehen die Besserwisser Schlange und überblicken ganz genau, wie Grün-Schwarz anders hätte umgehen müssen mit dem Thema Fahrverbote. Dabei hat die baden-württembergische Landesregierung einen knitzen Kompromiss ausgetüftelt, der Teile der Verantwortung an diejenigen zurückgibt, die sie nie übernehmen mochten: die AutofahrerInnen.

Die Kreativität ist grenzenlos. Allerdings nicht, um an Lösungen mitzubasteln, die die Luft im Talkessel endlich anhaltend rechtskonform werden lassen, sondern um Stimmung zu machen gegen notwendige Einschränkungen. Den Vogel abgeschossen hat der Handwerkspräsident. Rainer Reichhold verheddert sich in der Konstruktion des absurden Falles, dass Kunden mit Euro-4-Diesel ihren Kfz-Betrieb innerhalb der Verbotszone nicht mehr erreichten, um ihr Auto nachrüsten zu lassen. Nichts ist realistisch an dem Szenario, das von Diesel-BesitzerInnen aus dem Umland fantasiert, die plötzlich massenhaft in Stuttgarter Werkstätten drängen. Vor allem aber ist die Versuchsanordnung falsch. Denn nachgerüstet werden nicht Euro-4-, sondern Euro-5-Fahrzeuge. Macht aber nichts, manchen ist jedes Mittel recht.

Leider gehören zu Letzteren auch Liberale und Sozialdemokraten. Appelle an die Vernunft der NutzerInnen, vielleicht sogar ans Gewissen all jener, die, allein in ihrem Auto sitzend, Tag für Tag durch den Talkessel stauen? Fehlanzeige. Stattdessen musste sich Verkehrsminister Winfried Hermann, der seit seinem Amtsantritt 2011 mit unzutreffenden Vorwürfen überzogen wird wie kein anderes grünes Regierungsmitglied, im Landtag von der FDP wieder einmal "falsches Spiel" und "Salamitaktik" in seinem angeblichen Kampf gegen den Pkw-Individualverkehr vorwerfen lassen. Seit mehr als einem Jahr verfolgt FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke den einstigen Studienratskollegen mit Unterstellungen wie der, seit Längerem "heimlich" auf Fahrverbote hingearbeitet zu haben. Oder mit schrägen Vergleichen: Hermann sei der falsche Mann am falschen Platz, so als ob man die Fleischindustrie von einem veganen Anwalt vertreten ließe.

Genossen dreschen ebenfalls nach dem guten alten Motto "Freie Fahrt für freie Bürger" nie aufs Publikum, sondern nur auf den Koalitionspartner der Jahre 2011 bis 2016 ein: Der hätte keine Ahnung von der Lebenswirklichkeit derjenigen, "die sich nicht alle zwei bis drei Jahre einen Neuwagen leisten können", weiß Andreas Stoch. Die Grünen agierten aus "purer Arroganz", und auch beim SPD-Fraktionschef darf der Hinweis nicht fehlen, speziell Hermann arbeite "seit zwei Jahren gezielt auf Fahrverbote hin". Denn: "Warum hätte er denn sonst schon 2016 einen Vergleich geschlossen, der das Land verpflichtet, den Verkehr am Stuttgarter Neckartor um 20 Prozent zu reduzieren?" Natürlich könnte der frühere Kultusminister, seines Zeichens Jurist, die Antwort leicht selbst geben: Weil sonst der Stuttgarter Verwaltungsrichter Wolfgang Kern der grün-schwarzen Landesregierung das Heft des politischen Handelns schon vor zwei Jahren aus der Hand genommen hätte.

Schwarz-Gelb hätte längst Mobilitätswende einläuten können

Der Blick zurück lohnt sich, vor allem für unverbesserliche OptimistInnen, die die Hoffnung nicht aufgeben mögen, dass irgendwann in diesem Theater doch noch Einsicht die Oberhand gewinnt. Seit Jahrzehnten ist die Stuttgarter Luft schlecht, seit 2005 wird zusätzlich europäisches Recht gebrochen angesichts der damals neuen Vorgaben. Nur ein Jahr später verabschiedeten das Regierungspräsidium Stuttgart und die Landeshauptstadt einen ersten Luftreinhalteplan, den sich alle, die in immer neuen Aufwallungen verlangen, dass endlich gehandelt werde, aus den Untiefen ihrer Archive holen könnten. Die Umweltzone wurde beschlossen und eingerichtet, es kamen das Lkw-Durchfahrtsverbot, der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs oder die ersten Schritte in Richtung Jobticket. Und 2010 wurde ein bürgerbeteiligtes Verkehrsentwicklungskonzept (VEK) 2030 auf den Weg gebracht. CDU und FDP auf Landesebene, die Gemeinderatsmehrheiten in der Stadt hätten haben können, wären völlig frei gewesen in der Wahl ihrer Mittel, um die Mobilitätswende erfolgreich einzuleiten.

Denn die Belastung mit gesundheitsgefährdenden Schadstoffen sinkt, aber sie sinkt nicht schnell genug. 2013 trat ein inzwischen bereits fortgeschriebener Aktionsplan in Kraft. Merke: Wer lesen will, ist im Vorteil. Viel wichtiger als Fahrverbote, wiederholt Stoch regelmäßig, sei der Ausbau des ÖPNV. Stadt und Land stecken Millionen Euro in die Verlängerung von Linien, in Taktverdichtungen oder Hybrid-Busse. Insgesamt zwei Dutzend Maßnahmen befinden sich in der Umsetzung. Für die voraussichtlich im Oktober startende Elektrobuslinie X1 im Ringverkehr zwischen Bad Cannstatt und Innenstadt wird derzeit die neue Spur parallel zum Unteren Schlossgarten gebaut, 26 Ampelanlagen werden angepasst und an bis zu sechs Kreuzungen der Zufluss begrenzt. "Der Verkehr auf dem Cityring wird an die Wand gefahren, das ist Kollaps mit Absicht", prognostizierte FDP-Stadtrat Michael Conz schon vor einem Jahr. Mehr Realitätssinn legte der Verkehrsclub Deutschland (VCD) an den Tag mit seiner Forderung nach mehr Busspuren und Radwegen und dass "die begrenzten städtischen Verkehrsflächen insgesamt neu zwischen den Verkehrsträgern" verteilt werden müssten.

Die größte Veränderung in und um Stuttgart steht im kommenden Frühjahr an. Rechtzeitig vor den Kommunalwahlen im Mai und ehe Grüne und CDU im nächsten Sommer, wie jetzt fest vereinbart, über eine Ausweitung der Fahrverbote auf Euro-5-Diesel befinden, werden die Preise für die Tickets bei Bussen und Bahnen neu festgesetzt. Die ausdifferenzierte und komplizierte Einteilung der Zonen, wie sie vier Jahrzehnte galt, weicht in der künftigen Tariflandschaft einer einfacheren Staffelung. Nach langen, schwierigen Verhandlungen auch mit den Umlandgemeinden kann Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) ausnahmsweise sogar SPD-Gemeinderatsfraktionschef Martin Körner zufriedenstellen, denn der hatte eine "echte Reform" verlangt. Eben die ist jetzt vereinbart worden, immer in der Erwartung, "möglichst viele Menschen für den ÖPNV zu gewinnen" (Kuhn).

Bei Feinstaubalarm ließ kaum jemand das Auto stehen

Mit den Appellen, an Feinstaubtagen doch freiwillig auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen, war die Stadt wenig erfolgreich. Auch weil sich nur so wenige AutofahrerInnen zur Pkw-Abstinenz aufraffen konnten, wurden die vom 1. Januar 2019 an geltenden Fahrverbote für alle Diesel unterhalb der Euro-5-Norm unausweichlich. Wenn die Tarifreform ab 1. April 2019 greift, gibt es ein handfestes finanzielles Argument, das eigene Auto öfter stehen zu lassen. Nicht so sehr für die Einzelfahrt, die statt 2,90 Euro künftig 2,50 kosten wird, sondern für neue DauernutzerInnern des ÖPNV-Angebots: Monats- und Jahrestickets werden um bis zu 55 Prozent billiger. Die Dimension der Veränderung drückt sich auch in den hochgerechneten Mindereinnahmen beim VVS aus: 42 Millionen Euro jährlich. Der Betrag sinkt jedoch, wenn die Zahl der ÖPNV-KundInnen steigt.

Die Landesregierung übernimmt davon in Tranchen bis 2024 mehr als 40 Millionen Euro, als großen Beitrag zur Luftreinhaltung, wie Minister Hermann sagt. Als weiteren Erfolg kann er vermelden, dass schon ab Dezember 2018 im ganzen Land die ÖPNV-Nutzung am Zielort grundsätzlich im Bahn-Ticket enthalten ist. Zudem haben die landesweit existierenden 22 Verkehrsverbünde erst dieser Tage die Einführung eines einheitlichen Tarifs ab 2021 vereinbart. Und Kleinvieh macht auch Mist. Die Dekra hat im Gemeinderatsausschuss für Umwelt und Technik gerade die Ergebnisse der zweiten Testphase des Projekts "Straßenreinigung Feinstaub" vorgestellt. "Wir sind überzeugt", so Dekra-Vorstand Clemens Klinke, "dass die Reinigungsmaßnahmen am Neckartor entsprechend der Zielsetzung wirken."

Der nächste Akt ist terminiert und der übernächste ebenso. Der Strategiedialog mit der Automobilindustrie geht am 20. Juli in eine weitere Runde, diesmal fernab vom Talkessel in der Fildermesse. Die Bürgerinitiative Neckartor wird dennoch um zehn Uhr vor der Villa Reitzenstein demonstrieren unter dem Motto "Besteigen Sie mit uns den Autogipfel". Auf dem dazugehörigen Bild ist ein riesiger Schrotthaufen zu sehen. Nicht nur eingeschworene Kretschmann-Kritiker bezweifeln, dass die vom Ministerpräsidenten versprochene "Transformation" in dem auf noch weitere sechs Jahre angelegten Prozess wirklich gelingen kann, vor allem angesichts der Sturheit der Autoindustrie im Umgang mit Dieselgate.

Doch auch Euro-5-Verbote

In der vergangenen Woche hat die grün-schwarze Landesregierung einen Kompromiss präsentiert, in dem Verkehrsbeschränkungen nur für Euro-4- und ältere Diesel mit einem konkreten Termin versehen waren, nämlich dem Jahreswechsel 2018/19. Für jüngere Fahrzeuge enthielt er eine Wenn-Dann-Bestimmung, die die CDU-Hardliner beruhigen sollte, weil viele Abgeordnete Fahrverbote in nennenswertem Umfang möglichst vermeiden wollen. „Unser Ziel, Euro-5-Fahrzeuge auszunehmen, ist erreicht“, sagte Fraktionschef Wolfgang Reinhart bei der Vorstellung der Vereinbarungen mit den Grünen. Zu früh gefreut, denn in dem auch mit Innenminister Thomas Strobl (CDU) abgestimmten Schreiben des Landes an das Stuttgarter Verwaltungsgericht ist „ein zonales Verkehrsverbot für Dieselfahrzeuge auch der Abgasnorm Euro 5 ab dem 1.1.2020 vorgesehen“. Wenn die Messwerte bis dahin nicht ausreichend sinken, werde „so rechtzeitig mit dieser weiteren Planfortschreibung begonnen, dass dieser Termin (1.1.2020) in jedem Fall eingehalten werden wird“. (jhw)

Zwangshaft für Verkehrsminister?

Der Deutschen Umwelthilfe reicht der "Minimalkonsens" der grün-schwarzen Koalition mit den Fahrverboten für Euro-4-Diesel in Stuttgart ohnehin nicht aus. Und Roland Kugler, der Anwalt der Neckartor-AnwohnerInnen, verweist darauf, dass das Leipziger Bundesverwaltungsgericht in dem vielbeachteten Schadstoff-Urteil vom vergangenen Februar verlangt habe, "das zu tun, was möglich ist." Dem sei die Koalition bei Weitem nicht nachgekommen, so der frühere Grünen-Gemeinderat. In einem Brief an die grünen ParlamentarierInnen in Land, Bund und Europa nennt er Ruhe und Gelassenheit angesichts der Dynamik der Entwicklung irritierend. Denn das Gericht habe klargemacht, dass ein weiterer Aufschub von Verboten nicht mehr hingenommen werde.

Am 17. Juli um Mitternacht ist jedenfalls jene Frist abgelaufen, die der Landesregierung eingeräumt war, um ihre Vorstellungen zu übermitteln. Ob die Vorschläge reichen, ist – wie immer bei Gericht und auf hoher See – in Gottes Hand. Mehrfach belegt dagegen hat Wolfgang Kern, wie seriös seine 13. Kammer arbeitet und dass er gegebenenfalls weitreichende Entscheidungen nicht scheut. Im nicht-öffentlichen Erörterungstermin Ende Juni ließ er sogar das Unmögliche als möglich erscheinen und dachte laut über das Thema Zwangshaft nach – für einen grünen Regierungspräsidenten, den grünen Verkehrsminister oder gleich beide. Er hoffe nicht, dass ihn das Land zwinge, jemals ernsthaft diese Frage zu entscheiden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


3 Kommentare verfügbar

  • Andrea K.
    am 21.07.2018
    Antworten
    Wo genau steigt denn die Attraktivität des ÖPNV-Angebots? Ich erlebe knallvolle Stadtbahnen und ausfallende S-Bahnen, da erscheinen mir Linienverlängerungen bis in 8-10 Jahren eher als Augenwischerei. So lange jede Fahrt durch das Nadelöhr Innenstadt führt und die Gewerbegebiete in den Randlagen und…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!