Das Messgerät am Neckartor liefert regelmäßig die höchsten Feinstaub- und Stickoxidwerte der Republik. Höchstens 35 Mal im Jahr darf der Tagesgrenzwert von 50 Mikrogramm feiner Partikel bis 10 Mikrometer (PM 10) überschritten werden. 2010 lag der Wert an 102 Tagen zu hoch. 2016 waren es noch 63, 2017 werden es mindestens 45, bis zum Jahresende womöglich aber auch noch mehr als 50 Tage sein. Weniger also, aber immer noch zu viel.
Nun muss das Land bis Ende April Maßnahmen zur Verkehrsreduktion umsetzen. Dann ist die Feinstaubsaison vorbei. Aber die Blamage ist jetzt schon perfekt. Dass sich ausgerechnet die Stadt mit einem grünen Oberbürgermeister, einem grünen Ministerpräsidenten und einem grünen Regierungspräsidenten nicht in der Lage sieht, mehr für eine Verkehrswende zu tun, kommt einem Offenbarungseid gleich.
"Seit November messen wir die Feinstaubbelastung in der Region Stuttgart – mit unserem Feinstaubradar", schreibt die "Stuttgarter Zeitung", und bedient sich beim OK Lab von Jan Lutz und dem Shackspace Wangen. Kontext hatte im Mai 2015 zuerst über die Initiative berichtet. Inzwischen kann sich die Gruppe vor Anfragen kaum noch retten. Waren zu Beginn des Jahres ungefähr 100 Geräte in Betrieb, so sind es heute fast 3000, auf allen fünf Kontinenten. Das Problem besteht keinesfalls nur am Neckartor, wie die Luftdaten-Karte zeigt. Bei den Stickoxiden verhält es sich ähnlich, wie eine Leseraktion des SWR verdeutlicht. Neu ist die Erkenntnis nicht. Bereits 2016 war die Ludwig-Bölkow-Stiftung in München zu ähnlichen Ergebnissen gekommen.
Grenzwerte einzuhalten ist möglich. Statt weiter herumzueiern wie seit 13 Jahren, sollten sich Stadt und Land endlich darauf einigen, die autogerechte Stadt in eine menschengerechte Stadt zurückzuverwandeln. In Nachbarstaaten ist das bereits gelungen. Vorbildlich ist auch die Schweiz: Dort kam es 2015 an der Messstation mit den höchsten Werten zu elf Überschreitungstagen. Zulässig ist, bei gleichen Grenzwerten, nur einer: Gerade genug für das Silvesterfeuerwerk.
5 Kommentare verfügbar
Martin Fuchslocher
am 29.12.2017Im Netz wird der grüne RP zu Recht deftig durch den Kakao gezogen.
http://blog.schlechtmensch.de/2017/12/20/ein-komiker-als-regierungspraesident/
Charlotte Rath
am 27.12.2017Und die enorme Bedeutung des Automobilbaus für unsere Volkswirtschaft? Tja, es soll immer noch Menschen geben, die das Ungleichgewicht im deutschen Außenhandel positiv sehen. Die Angehörigen der 25.500 Verkehrstoten und 135.000 Schwerverletzten jedes Jahr in der EU sowie unzählige Herzinfarkt-Patienten sehen das möglicherweise etwas anders. Jährlich verursachen Verkehrsunfälle Kosten in Höhe von 100 Milliarden Euro in der EU. Das sind nur die direkten Schäden des automobilen Betriebs. Plus Kriegstote (Ölbeschaffung), plus chronische Krankheiten, plus Umweltschäden (wie Säureeinträge und Klimafolgen), plus Schäden an Gebäuden. Da fallen die rund 240.000 Wildtiere, die alleine auf Deutschlands Straßen pro Jahr verenden (nur gemeldete Fälle für Großwild), nicht mehr sonderlich ins Gewicht.
Rund ein Drittel aller Haushalte kommt ohne Kfz zurecht, zumindest in der Stadt München. In Stuttgart wagt die Verwaltung nicht, eine solche Information zu erheben. Hier in der Feinstaub- und Stauhauptstadt zählt man lieber quartiersscharf die Häufigkeit der Automarken, und webt so fleißig mit am Märchen, wie wichtig doch das Auto für uns alle sei …
Stuttgart und Schilda haben nicht nur den Anfangsbuchstaben gemeinsam.
Schwa be
am 28.12.2017Ergänzen möchte ich den Kommentar um einen Artikel aus Spiegel online, "... An den Folgen des Feinstaubs (Atemwegserkrankungen, Anm. von Schwa be) sterben jährlich 2,1 Millionen Menschen (weltweit, Anm. von Schwa be), berichten Forscher. ..." (http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/luftverschmutzung-millionen-menschen-sterben-an-feinstaub-a-910671.html)!
Wohlgemerkt JÄHRLICH !!
Allein in Deutschland sind es rd. 55.000 Menschen jährlich. Direkt an Stickoxiden (NO2) nochmal rd. 10.000 Todesfälle! Ebenfalls aus Spiegel online "... Nach Berechnungen der Europäischen Umweltagentur waren im Jahr 2012 allein 10.400 Todesfälle in Deutschland auf Stickoxide zurückzuführen. In ganz Europa sogar 75.000. ..." (http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/stickoxid-wo-luft-in-deutschland-krank-macht-a-1120859.html).
Und dieses jährliche Massensterben ignorieren bürgerlichen Politiker jeglicher Couleur standhaft - da bekommt der Begriff "Musterländle" noch mal ne ganz neue Bedeutung!!
Bürgerliches sprich kapitalorientiertes politisches Denken sieht wahrscheinlich in den tausenden Schwerkranker auch noch Milliardenumsätze für das privatisierte Gesundheitssystem.
Ich bin z.B. für einen landes- und bundesweiten Ausbau des Öffentlichen Personen Nah- und Fernverkehrs (ähnlich dicht wie in Ballungszentren) und für die Rückführung des gesamten öffentlichen Verkehrs unter demokratische Kontrolle einer gemeinwohlorientierten Politik. Das schafft weit mehr als die von Charlotte Rath genannten 4 % an Arbeitsplätzen. Doch dazu braucht es einen grundsätzlichen Politikwechsel hin zu mehr Menschlichkeit und Nachhaltigkeit.
Mit bürgerlicher Politik ist dies nicht zu machen. Denn bürgerliche Politik kann m.E. nur nachhaltig ausbeuten und aus niedrigen Beweggründen Kriege führen (vom Zaun brechen) und damit zig Millionen Menschen national und international in Not bringen.
Arndt Weber
am 30.12.2017Wir auf dem Land haben aber auch kein nennenswertes Feinstaubproblem, obwohl sich der zunehmende internationale Warenverkehr - also die Millionen von LKWs, die tagtäglich Waren aus aller Herren Länder vor allem in die Metropolen transportieren, damit dem urbanen Lebensstil mit importierten Weinen, Fairtrade-Klamotten und Biofood gefrönt werden kann - immer stärker bemerkbar macht.
Schwa be
am 27.12.2017Sie bevorzugt radikale Markt Mechanismen zugunsten des Profits/des (Groß)Kapitals, also zugunsten weniger sprich des Establishments und zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit (der lohnabhängig Beschäftigten, Arbeitslosen und MigrantInnen).
"Bürgerlich" im übertragenen, politischen Sinne steht auch nicht für den Begriff des (Staats)Bürgers sondern für den geschichtsträchtigen Begriff der Bourgeoisie, also für die (ab)gehobene, reiche Klasse einer Gesellschaft - eben das Establishment. Früher wie heute!