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Grünes Verkehrschaos

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Der Umgang mit der Schadstoffbelastung in Ballungsräumen wird zum Lackmustest grüner Gestaltungskraft. In Stuttgart können ein Ministerpräsident, ein Verkehrsminister, ein Regierungspräsident und ein Oberbürgermeister beweisen, dass alte Ziele nicht unter die Räder kommen.

Endlich schien es so weit: Die mit Spannung erwartete Mobilitätsstudie für Baden-Württemberg sollte nach wochenlanger Verzögerung offiziell publik gemacht werden. Hätte, hätte, Fahrradkette. Winfried Kretschmann ist andernorts unabkömmlich. Also wird die Veröffentlichung der brisanten Botschaften für das Land und vor allem für die Partei erneut vertagt. Schade eigentlich, denn gerade mit Blick auf die Jamaika-Sondierungen im Bund ist von Bedeutung, wie facettenreich und mit welch kernigen Thesen Fachleute das Spannungsfeld zwischen dem Pariser Klimaabkommen und der Verkehrssituation im Südwesten ausgeleuchtet haben. Wer die Klimaziele ernst nimmt, lautet eine der zentralen Botschaften, muss dafür sorgen, dass der Bestand von derzeit rund sechs Millionen Fahrzeugen in Baden-Württemberg bis 2030 um 30 Prozent verringert wird. Und bis 2050 um sage und schreibe bis zu 85 Prozent!

Kretschmann und Verkehrsminister Winfried Hermann, Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn und den Regierungspräsidenten Wolfgang Reimer kann das nicht überraschen. Nicht nur, weil in der Anfang 2015 beschlossenen Ausschreibung der Studie die Herausforderung klar definiert ist, dass "Baden-Württemberg als Autoland und als eine der wirtschaftsstärksten Regionen der Welt die Verpflichtung hat, die Herausforderung einer Vorreiterrolle mit Blick auf nachhaltige Mobilität und ein nachhaltiges Verkehrssystem auf sich zu nehmen." Sondern vor allem sind alle vier Urgesteine der Grünen mit Archiven, in denen sich kluge Konzepte und Vorschläge, Forderungen und Ideen aus bald vier Jahrzehnten stapeln.

City-Maut und Tempolimit waren einst grüne Forderungen

Der Wahlspruch "Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt" war gerade geboren, als Fritz Kuhn 1984 zum ersten Mal in den Landtag von Baden-Württemberg einzog und in einer der ersten Sitzungen eine flammende Rede zur Reduzierung von Schadstoffemissionen in Kraftfahrzeugen hielt. Ungezählte folgen. Auch mit Hermann und Boris Palmer hat die Fraktion anerkannte Verkehrsexperten hervorgebracht. Letzteren hätten sich führende Grüne – ohne seine kürzlich erschienene flüchtlingspolitische Philippika mit dem Buchtitel "Wir können nicht allen helfen" – sogar gut als künftigen Bundesverkehrsminister vorstellen können.

Den direkten Kontakt suchten Kuhn und Kretschmann – der eine Vorsitzende der Bundestags-, der andere der Landtagsfraktion – im Februar 2007 zum noch ziemlich neuen Daimler-Chef Dieter Zetsche. Um ihm freundlich, aber bestimmt die Leviten zu lesen. Und um ihm klarzumachen, wie der heutige Regierungschef später berichtet, dass die Hersteller "ihre Premiumsegmente ökologisch so designen müssen, dass die Zukunftschancen auf den Weltmärkten haben" und dass "Klimaschutz- und Wachstumsziele verbunden werden müssen, um Arbeitsplätze und Wohlstand in diesem Land zu sichern". Zetsche formulierte eine vielversprechende Prognose: Es würden sicherlich "keine neuen Fahrzeuge entwickelt werden, die nicht die Hybrid-Option erlauben". Wer das heute hört, muss sich in den Arm kneifen.

Kretschmann hat ihm geglaubt – und auch daraus seine gutmütige These abgeleitet, die Autoindustrie sei in Sachen Ökologie schon viel weiter als beispielsweise die eher erkenntnisresistente CDU. Inzwischen macht die Macht den Ministerpräsidenten jedoch mutlos und lässt ihn weit zurückfallen hinter seine eigenen Forderungen nach Umsteuerung, nach einer City-Maut, nach Verkehrsbeschränkungen, Tempolimits oder ambitionierten Grenzwerten. Und wenn speziell der Verkehrsminister mal wieder widerspenstig aus der Reihe tanzt, muss er mit einem Verweis von oben rechnen. "Dieselgate, Feinstaub, Stickoxid, Fahrverbot – alles Themen, die Hermann mit Verve bearbeitet, die Kretschmann aber ein Graus sind", schrieb dieser Tage die "Stuttgarter Zeitung" und adelte den in Stuttgart mit 37 Prozent direkt in den Landtag gewählten Ex-Studienrat als "einzigen Grünen, der überhaupt noch als solcher erkennbar ist".

Heute ist ein Strategiedialog mit der Autoindustrie wichtiger

Sein Haus hätte sich vorstellen können, dass die ursprünglich vom BUND und seiner Landesvorsitzende Brigitte Dahlbender angestoßenen Mobilitätsstudie schon viel früher auf den Tisch kommt, Bundestagswahl hin, oder vielleicht gerade her. In internen Abstimmungen zogen die Spitzenbeamten – einer von ihnen sitzt sogar im wissenschaftlichen Beirat – immer wieder den Kürzeren. Denn die Strategen im Staatsministerium fahren mehrgleisig. Erstens hat der Regierungschef einen auf nicht weniger als sieben Jahre angelegten sogenannten Strategiedialog mit der Autoindustrie angeleiert. Er präsentiert sich als Versteher der Nöte der Konzerne, die die Entwicklung nicht angehen wollten angesichts des vielen schönen Geldes, das mit den Betrügereien rund um den Verbrennungsmotor zu verdienen war und noch immer ist. Zweitens hat er aber zusammen mit dem kalifornischen Gouverneur Jerry Brown ein Bündnis auf regionaler Ebene initiiert, das entscheidend zum Zustandekommen des Pariser Klimaabkommens beitrug.

Breite Beteiligung

Damit später niemand sagen kann, die Tragweite von Entscheidungen sei nicht richtig klargemacht worden, waren zahlreiche Unternehmen und Organisationen in die Mobilitässtudie eingebunden. Von der Deutschen Bahn AG über die IG Metall, die BUND-Jugend, den DGB und Daimler bis zur Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg, IBM, der Landesbank, Porsche, Bosch, Elring-Klinger oder dem VCD. Erst Mitte Oktober hat der Aufsichtsrat der Baden-Württemberg-Stiftung beschlossen, weitere 300 000 Euro bereitzustellen. Diese sollen auch dafür sorgen, dass die umfangreiche Arbeit nicht in den Schubladen von EntscheiderInnen verschwindet, sondern tatsächlich Allgemeingut wird, wie groß die Herausforderungen sind, denen sich der Wirtschaftsstandort gegenübersieht. (jhw)

Ausgerechnet der Ärger über die Ankündigung von US-Präsident Donald Trump, aus eben jenem Abkommen auszusteigen, fällt inzwischen auf Kretschmann selber zurück: "Dieser Schritt ist absolut verantwortungslos", erklärte der Ministerpräsident im vergangenen Juni. Er sei ein "herber Rückschlag für das Weltklima" und Trumps Politik "verantwortungslos seiner eigenen Volkswirtschaft gegenüber". Anfang November, auf dem Weltklimagipfel in Bonn, kann der Grüne die eigene Verantwortungsbereitschaft unter Beweis stellen. Für die Experten – Fachleute vom Fraunhofer-Institut, vom IMU-Institut, dem Öko-Institut und dem Institut für sozial-ökologische Forschung –, die für "Mobiles Baden-Württemberg – Wege der Transformation zu einer nachhaltigen Mobilität" verantwortlich zeichnen, zeigt sich Zukunftsfähigkeit genau hier: Erfolgreich wird nicht sein, wer an längst vorhandenen Produkten festhält, sondern wer nach Antworten auf die Frage sucht, mit welchen neuen Produkten Mobilität sichergestellt und zugleich die Klimaziele angesteuert werden können.

Nur der grüne Verkehrsminister zeigt noch klare Kante

Die Hasenfüßigkeit, die aus der De-Facto-Aufkündigung des Feinstaub-Vergleichs zur Lage am Neckartor spricht, lässt nicht Gutes erwarten. "Uns fehlen die politischen Mehrheiten", heißt es unter Spitzen-Grünen in der Landeshauptstadt. Tatsächlich musste der Oberbürgermeister im Gemeinderat zusehen, wie CDU und SPD, FDP und Freie Wähler in Sachen Luftreinhaltung von der Fahne gingen, ohne tragfähige Alternativen anzubieten. Haltung demonstrieren funktioniert aber auch in der Minderheit, erst recht, wenn aktuell überhaupt keine Wahlen anstehen. Wieder ist es Hermann, der mit der Idee, umgehend zur Verkehrsverknappung eine Busspur einzurichten, klare Kante zeigt. Und der Regierungspräsident versucht zumindest, die schwelende Diskussion über den schon in den Siebziger nicht durchsetzbaren Nord-Ost-Ring auszutreten: Wegen des Zusammenwachsens von Stuttgart mit seinen Nachbargemeinden fehle schlicht und einfach der Platz dafür. Und ballungsraumnahe Umfahrungen könnten die Feinstaub- und NOx-Problematik nicht lösen.

Stattdessen, sagen Autoren der Mobilitätsstudie, muss ein Maßnahmenbündel geschürt werden mit Einfahrverboten, mit innerstädtischen Tempolimits, einem restriktiven Parkraummanagement und Mautgebühren. Ganz der Aufgabenstellung entsprechend, "Weichenstellungen und Maßnahmen für den Mobilitätsbereich und die davon betroffenen Wirtschaftszweige zu identifizieren und zu beschreiben". Der öffentliche Verkehr müsse besser und billiger werden und Autofahren im Gegenzug unattraktiver und teurer. Früher wäre den Wissenschaftlern Kretschmanns Beifall für solche Sätze gewiss gewesen. Bei einer Landtagsdebatte ereiferte er sich einst über die "Grün-Reder und Schwarz-Handler" im Südwesten mit so schönen Merksätzen wie: "Der Markt entscheidet nicht über Grenzwerte, der Markt antwortet auf Grenzwerte." Oder mit Erich Kästners "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es". Oder: "Wenn nicht mehr Klimaschutz in Autos einzieht, werden wir unsere Ziele nie erreichen."

Und im Wahlkampf 2011 gehört ein Paket rhetorischer Fragen an den CDU-Spitzenkandidaten Stefan Mappus zum Rederepertoire: "Investieren wir hier in die dynamischen Sektoren der Volkswirtschaft? Oder wollen wir Altindustrien retten?" Die Mobilitätstudie hat die Antworten gegeben, für Land, Region und ganz Baden-Württemberg. Jetzt müssten sie nur noch beherzigt werden. Von jenen Grünen, die schon viel weiter waren, als sie von der heutigen Machtfülle nicht einmal träumen konnten.


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10 Kommentare verfügbar

  • Rolf Steiner
    am 29.10.2017
    Antworten
    Ein "Hermann" hilft den Grünen n i c h t mehr vor dem Irrweg der Diesel- und S-21-"Veredelung" gegen den moralischen Niederang ihrer Partei und ihres BW-Mini-Präsidenten. Dieses durch und durch schädliche Anbiedern an die Apologeten des Neo-Liberalismus - in Untertürkhgeim oder in Berlin -…
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