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Der Kretschmann-Flüsterer

Der Kretschmann-Flüsterer
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Sein Tag könnte 48 Stunden haben und Baden-Württemberg noch ein paar Probleme mehr: Staatsminister Klaus-Peter Murawski würde immer noch nicht die Luft ausgehen, er würde immer noch unermüdlich seine Lösungen an Mann und Frau bringen wollen. Vor allem an Mann. Und nicht an irgendeinen.

Da stand er nun im großen Saal des Stuttgarter Hospitalhofs am 1. Mai des vergangenen Jahres. Die grün-schwarzen Koalitionsverhandlungen waren in der allerletzten Phase, und Murawski – oder KPM, wie er in seiner Umgebung gern genannt wird, mit oder ohne ehrfurchtsvollen Unterton – strahlte für drei. Immerhin war er gerade als haushoher Sieger aus dem Personalpoker gegangen. Im Kabinett Kretschmann II würde es keine Minister im Staatsministerium mehr geben: Sozialdemokrat Peter Friedrich verschwand nach dem SPD-Wahldesaster ohnehin, und seine grüne Intimfeindin Silke Krebs hatte den fünfjährigen, oft auf den Fluren und lautstark ausgetragenen Kleinkrieg klar verloren. Sie musste den Hut nehmen, eine Nachfolgerin war nicht vorgesehen. "Jetzt passt zwischen mich und meinen Chef kein Blatt Papier mehr", prophezeite der neue Alleinherrscher im Apparat auf dem Reitzenstein in der ihm eigenen entwaffnenden Offenheit.

"Der Gestaltungsspielraum liegt darin", hatte er zum Amtsantritt 2011 reichlich geschraubt formuliert, "sich am Meinungsbildungsprozess des Ministerpräsidenten zu beteiligen." Beteiligen ist gut. Wer Kretschmann liest, hört oft Murawski reden. Zum Beispiel am vergangenen Wochenende, als der Regierungschef beim Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" offenkundig seinen leicht ramponierten Ruf als Umwelt- und Klimaschützer wieder aufpolieren wollte. Er halte es für verhängnisvoll, sagte Kretschmann, Tote als Waffe im politischen Streit um Grenzwerte zu verwenden. Wortwörtlich genauso argumentiert sein Staatsminister, wenn er überdüngte Äcker beklagt und eine Landwirtschaft, die mehr Stickoxid produziert als der Verkehr. Oder dass das größte deutsche Kohlekraftwerk so viel CO2 in die Luft bläst wie ein Viertel aller Autos.

Von der FPD zu den Grünen übergelaufen

Immer mehr Grünen in Fraktion und Partei geht der Einfluss des gebürtigen Erfurters, der 1960 mit seinen Eltern aus der DDR flüchtete, zu weit. Zugleich bringt bisher jedenfalls niemand den Mut zu öffentlichem Widerspruch auf. Was längst nicht nur für die Dieseldebatte gilt. So wie jetzt Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) die Worte findet, die sich viele Parteifreunde von dem Duo in der Villa Reitzenstein wünschen, mussten sich schon die Autobahnprivatisierungsgegner schlussendlich bei den Sozialdemokraten im Bund bedanken, die Ärgstes verhinderten. Wäre es nach Murawski gegangen, hätte der Bund einen 49-Prozent-Anteil verscherbelt. Die Begründung des gelernten Kaufmanns: Investoren bräuchten sichere Anlagemöglichkeiten, und für den Einfluss des Staats sei es ohnehin egal, "ob man hundert oder 51 Prozent besitzt".

Ein starker Staat war KPM, der einen bunten Strauß an Fächern studierte – Politologie, Soziologie, Germanistik, Geschichte und Rechtswissenschaften –, schon mal wichtiger. Damals, in den Siebziger Jahren, war er stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungdemokraten, die sich selbst aber als Teil der außerparlamentarischen Opposition begriffen und nach dem Muster der '68er auf dem Marsch durch die Institutionen sahen. Die Entfremdung zwischen Mutterpartei und Nachwuchs war vorgezeichnet. Es kam zum endgültigen Bruch und zur Gründung der parteifrommen Jungen Liberalen, aus denen Leute wie Guido Westerwelle und Jürgen Möllemann erwachsen sollten.

Da war Murawski schon in der Nürnberger Kommunalpolitik und über den Umweg FDP bei den Grünen gelandet. Nicht nur er war übergelaufen, hatte nicht nur sein Gemeinderatsmandat mitgenommen – Elke Twesten lässt aus Niedersachsen grüßen –, sondern auch noch einen SPD-Genossen. Die neue Gruppierung "Grüne/Unabhängige" wurde zum Zünglein an der Waage. 1984 zog sie mit 5,8 Prozent in den Stadtrat ein, unter anderem, weil sie eine völlig überdimensionierte Stadtautobahn verhindert hatte. 1990 sind es fast neun Prozent. Die Mähne und den Bart gestutzt schaut er voller Stolz bei der Einführung zum dritten Bürgermeister zwei Jahre später in die Kameras, das Kinn leicht gereckt. <link http: www.nordbayern.de region nuernberg _blank external-link>Da steht ein Tausendsassa.

Bonmot aus früheren Zeiten: Keiner fragt, Muri antwortet

Schon aus dieser Zeit berichten Weggefährten von seiner immensen Aufnahmefähigkeit. Wie ein Schwamm habe er alles aufgesaugt, erzählt einmal ein fränkischer Alt-Stadtrat, und ähnlich ausgeprägt war schon damals der Drang, die Umwelt teilhaben zu lassen an seinen Erkenntnisfrüchten. "Sie hören am liebsten sich zu", habe ihm ein Christsozialer irgendwann entnervt entgegen geschleudert. Nicht alle Menschen, mit denen Murawski in Nürnberg politisch zu tun hatte, sollen betrübt gewesen sein, als er dem Ruf nach Stuttgart folgte. Das Bonmot aus seinen Bürgermeisterjahren im Stuttgarter Rathaus – "Keiner fragt, Muri antwortet" – fehlt inzwischen in kaum einem Portrait über die "graue Eminenz". Und in der Landtagsfraktion wurde schon während der vergangenen Legislaturperiode erzählt, dass, wenn Kretschmann am Handy hängt und ganz lange schweigt, am andern Ende bestimmt sein Amtschef dran ist, der ihm die Welt erklärt.

Es soll Parteifreunde geben, die sich Sorgen machen, ob der große Grüne gerade in der aktuellen Dieseldebatte überhaupt in der Lage ist, die vielen Infos und Assoziationen, mit denen ihn sein oberster Spin-Doctor überschwemmt, zu verdauen. Jedenfalls hält der Regierungschef große Stücke auf den zwei Jahre Jüngeren, an dem Affärchen abperlen. Etwa der gesprengte Kostenrahmen der Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einhalt ("Zusammen einzigartig"), die Baden-Württemberg 2013 ausrichtet. Oder die Aufregung um einen Anruf im Justizministerium im Frühjahr 2014, als die Opposition von CDU und FDP der Regierungszentrale unterstellte, sie habe Einfluss nehmen wollen auf die Berufung des neuen Generalstaatsanwalts.

Kretschmann kofferte, um eine seiner Lieblingsvokabeln zu verwenden, gegen jene, die gegen seinen Amtschef kofferten – wie ohnehin viel zu oft werde da mal wieder ein Vorgang "skandalisiert", übersetzt: aufgebauscht. Einen interessanten Einblick ins Biotop gewährte bald nach dem Machtwechsel Werner Wölfle, noch ein begabter Strippenzieher, dem der rascher Aufstieg mancher ins Stami sauer aufstieß: "Ist mir das peinlich. Kein Unterschied zu den Schwarzen", simste Wölfle. Der Ministerpräsident ging durch die Decke, Wölfle musste sich öffentlich entschuldigen.

Über "die Hand des Königs" aus "Game of Thrones" philosophierte die "Stuttgarter Zeitung", als zu Beginn der Legislaturperiode deutlich wurde, wie raumgreifend der Einfluss ist. Sogar über den Arbeitsalltag hinaus: An ihrem Stammtisch bei einem Stuttgarter Italiener verbringen die beiden regierenden Strohwitwer – Murawskis Ehefrau ist in Nürnberg geblieben, Gerlinde Kretschmann lebt bekanntlich in Laiz bei Sigmaringen – einen Teil ihrer knapp bemessenen Freizeit. Regelmäßig mit von der Partie ist Staatsrätin Gisela Erler. In der Fraktion hat sich längst herumgesprochen, dass, wer Kontakt nach ganz oben braucht, den Umweg über KPM suchen sollte.

Viel zu autofixiert, kritisieren grüne Parteifreunde

Womit eines der größten Probleme im Landesverband der Grünen beschrieben ist. Denn der hat nahezu keinen Zugang. Es klingt huldvoll und soll es auch, wenn der Staatsminister die Rolle seines Chefs im Bundestagswahlkampf beschreibt und wie nachgiebig der doch seinen Frieden gemacht habe mit Politik und Personal einer Partei, mit der er sich arg schwertut. Wie schwer, zeigte sein vor Monaten belauschter Wutausbruch beim Parteitag in Berlin. "Eine andere Perspektive als von oben herab aus der Villa Reitzenstein hat er nicht", beklagt sich ein Parteifreund über den Einflüsterer des Regierungschefs. "Viel zu autofixiert" nennt ihn ein anderer, was der nie für sich gelten lassen würde. KPM über KPM: "Ich habe eine komplexe Gemengelage differenziert im Kopf." Und dann reckt er wieder sein Kinn.

Manche in der Partei befürchten, dass Dieselgate, der vielbeschworene Strategiedialog samt Transformationsprozess, zu einer noch größeren Belastung werden könnte für Baden-Württembergs Grüne als Stuttgart 21. Weil Kretschmann sich partout nicht aufhalten will mit den Versäumnissen der vergangenen mehr als 20 Jahre in den Chefetagen der Konzerne, mit dem Betrug an Konsumenten und Bürgerschaft durch die Konzerne. Weil er nach vorne schauen möchte, um Wertschöpfung und Arbeitsplätze im Land zu halten. Mit Botschaften, die gerade in den eigenen Reihen ihre Adressaten finden sollen: "Ich rate dringend, ein bisschen von der Zinne herunter zu kommen, sonst verharken wir uns zu sehr in der Vergangenheit."

Natürlich könnte auch dieser Satz vom Chef der Staatskanzlei sein, der – ganz Stratege – ohnehin weiß, dass der Ball in der Hälfte seiner Kritiker liegt. Die müssten in die Offensive und aus der Deckung, würden mit ihm aber zugleich die Lichtgestalt Kretschmann treffen. Die Beißhemmung ist weiterhin gewaltig. Die Spielräume des "Spitzen-Spitzen-Beamten", wie ihn manche in der Partei spöttisch nennen, dementsprechend groß – und lang übrigens ebenfalls. KPM ist 67, könnte in Pension, will aber nicht. Ganz im Gegenteil: Er hat seinen Dienst um drei Jahre verlängert. Der Zeitpunkt ist mit Bedacht gewählt, denn in etwa im Frühjahr 2020 wird der Ministerpräsident entscheiden müssen, ob er ein drittes Mal antritt. Und wenn ja? Die Frage nach seiner Zukunft für diesen Fall lässt er unbeantwortet. Aber in seinen Äuglein blitzt es ganz gewaltig.


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