Kaum vorstellbar ist deshalb, dass der Zeitplan von Inenminister Strobl hält, vor der Sommerpause die notwendige Polizeigesetzänderung auf den Weg zu bringen, die den Einsatz von "Gotham" ermöglicht. Dabei müsste Strobl selbst das größte Interesse daran haben, Zeit zu gewinnen, um Licht ins Dunkel der Abläufe in seinem Ressort zu bringen. Denn war er es doch, der sich auf einer Pressekonferenz in der vorvergangenen Woche als völlig ahnungslos in Sachen Vertragsunterzeichnung outen musste. "Ich habe selber keinen Vertrag geschlossen", beharrte er selbst nach mehreren Nachfragen, "ich kann Ihnen das nicht sagen."
Zu allem Überfluss hatte der SWR da schon mehrere Tage berichtet. Über "Gotham", das Palantir-Produkt mit dem Werbespruch "Deine Software ist das Waffensystem", über das Unternehmen des Milliardärs, Trump-Fans und Demokratieverächters Peter Thiel. Ebenso über die Zweifel in anderen Bundesländern an den Beteuerungen, es komme beim Einsatz der Software ganz bestimmt nicht zu einem Daten-Abfluss. Der Innenminister wusste von alldem wenig bis nichts, aber sehr wohl, dass bei der Polizei vorhandene Erkenntnisse endlich per Knopfdruck zusammengeführt werden müssen: "Wir wüssten viel mehr, wenn wir wüssten, was wir wissen." Unvorstellbar, dass seine Partei einem Kabinettsmitglied der mitregierenden Grünen einen derartigen Auftritt ohne heftigen Rüffel durchgehen lassen würde.
Wäre Merz nicht Kanzler, wäre er in Rage
Indessen hat die CDU hierzulande neuerdings stattliche Vorbilder. Bundekanzler Friedrich Merz beispielsweise bricht gern Wahlversprechen – Stichwort: Schuldenbremse –, haut mediokre bis stammtischbrüderliche Sprüche raus wie den vom Zirkuszelt, das der Berliner Reichstag eben gerade nicht sei, weshalb die Regenbogenflagge am Fahnenmast hoch über der Kuppel auch nichts verloren habe. Und für irgendwelche interfraktionellen Vereinbarungen etwa über die bereits mit der SPD abgestimmte Berufung der Spitzenjuristin Frauke Brosius-Gersdorf ans Bundesverfassungsgericht interessiert sich der Kanzler auch nicht so recht. Wäre ein anderer Kanzler oder Kanzlerin – längst hätte er seinen Brutalo-Ausbruch an die Adresse von Vorgänger Olaf Scholz (SPD) wiederholt: "Sie können es nicht."
Erst recht eine verschobene Verfassungsrichter:innenwahl hätte den Sauerländer in die berühmt-berüchtigte Oppositionsrage gebracht. Jetzt sitzt er selbst auf der Regierungsbank, kann aber ausweislich seiner Interviews sich und der Öffentlichkeit nicht eingestehen, wie sehr das Koalitionsklima belastet ist. Denn Union und SPD hatten mit einem abgestimmten Vorschlag für Brosius-Gersdorf bei den Grünen um Kooperation geworben, und die Grünen hatten Zustimmung signalisiert. Informell auch die Führung der Linkspartei.
Dann jedoch weichen Abgeordnete von CDU und CSU ab. Merz' Erklärung am Sonntag, seinem 69. Tag im Amt, man könne freigewählten selbstbewussten Abgeordneten "keine Befehle von oben" geben, schon gar nicht in Gewissensfragen ("Ich habe immer gesagt, dass die Gewissensfreiheit eines jeden Abgeordneten über allem steht"), zielt primär auf Ahnungslose. Denn ein geordneter parlamentarischer Betrieb wäre ohne Fraktions- und Koalitionsdisziplin gar nicht möglich.
Ebenso würden Unionspolitiker:innen niemals akzeptieren, dass andere demokratische Parteien, ganz egal ob in Regierungsverantwortung oder in der Opposition, auf das Angebot der Kandidatin, sich vorzustellen und zu diskutieren, nicht einmal geordnet antworten. Im Gegenteil: Per Interviews richtet die christlich-demokratische respektive christlich-soziale Union dem Koalitionspartner SPD aus, er möge seine Kandidatin doch zurückzuziehen, um des lieben Friedens willen. Es liege in der Verantwortung der Spitzenjuristin, Schaden vom Bundesverfassungsgericht abzuwenden, dreht zum Beispiel Tilmann Kuban, früher mal die Nummer eins bei der Jungen Union, den Spieß um.
Alleingänge sind im Südwesten nichts Neues
Auch Philipp Amthor, Staatssekretär im neuen Bundesdigitalministerium, reißt Brücken ein, wenn er Brosius-Gersdorfs Ansichten zum Thema Menschenwürde problematisiert. Und wie so oft übt sich Bayerns Ministerpräsident im Weitwurf von Nebelkerzen: Ginge es nach Markus Söder (CSU), müsste die Kandidatur zurückgezogen werden, weil auf ihr kein Segen liegt. Dabei war sie zunächst unumstritten. Die Emissäre von Union und SPD hatten gemeinsam bei den Grünen für ein Ja geworben, im Richterwahlausschuss des Bundestags war die nötige Zweidrittelmehrheit für die drei Vorgeschlagenen erreicht worden. Zu Recht, bekräftigen inzwischen übrigens 300 Rechtswissenschaftler:innen, die "nachdrücklich" gegen diesen Umgang mit der Kollegin protestieren. Brosius-Gersdorf selbst hat nun eine Erklärung veröffentlicht, in der sie sich gegen einen Teil der Berichterstattung wehrt: "Sie war nicht sachorientiert, sondern von dem Ziel geleitet, die Wahl zu verhindern", schreibt sie und nimmt ausführlich und sachlich Stellung, nachzulesen hier.
Die goldene Regel "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu" war gerade in Baden-Württemberg auch in früheren Jahren schon außer Kraft gesetzt, weil CDU-Granden nach Gutsherrenart agierten. Etwa als Ministerpräsident Erwin Teufel seinen Staatssekretär Gustav Wabro unter Bruch des Koalitionsvertrags mit den Sozialdemokraten für ein – in diesem Fall wirklich – umstrittenes Pflegeversicherungsmodell stimmen ließ und damit dessen Einführung sicherstellte. Oder als sein Nachnachfolger Stefan Mappus in einer Nacht-und-Nebel-Aktion und unter Überdehnung aller Vorgaben den Rückkauf der EnBW-Anteile vom französischen Energieversorger EDF organisierte. Demokratische Parteien und demokratische Abläufe waren noch bis vor kurzer Zeit aber deutlich weniger unter Druck als heute. Deshalb wäre ein Reset des schwarzen Selbstverständnisses sehr geboten.
Etwas kühler und ohne den Konflikt zur Prestigefrage hochzustilisieren, könnte sich zum Beispiel Thomas Strobl direkt mit dem Landesdatenschutzbeauftragten Tobias Keber in Verbindung setzen. Den haben in Sachen Palantir seine Fachleute im Hause ohnehin schon eingebunden, die auf Kontext-Anfrage sachlich und nüchtern darauf hinweisen, dass dieses Zusammenführen von Erkenntnissen einen "starken Eingriff in die Grundrechte bedeuten kann", aber "es unter bestimmten Voraussetzungen datenschutzrechtlich möglich ist, sich privater Dienstleister zu bedienen". Für sie sei klar, dass diese möglichen Eingriffe durch effektive Schutzmaßnahmen abgemildert werden müssten.
CDU und Grüne schweigen
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Fliege, noch immer an der Wand
vor 1 Tag