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Polizei-Software in Baden-Württemberg

Nach Gutsherrenart

Polizei-Software in Baden-Württemberg: Nach Gutsherrenart
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CDU-Spitzen in Land und Bund erlauben sich Alleingänge, die sie ihren Koalitionspartnern niemals zugestehen würden. In Baden-Württembergs Innenministerium wird ohne Wissen von Minister Thomas Strobl ein Vertrag für eine umstrittene Polizei-Software des US-Konzerns Palantir unterzeichnet. Das zeugt von jener Führungslosigkeit, die sich auch in Berlin breit macht.

Mal angenommen, in Baden-Württemberg wären Umweltstaatssekretär Andre Baumann oder Verkehrsstaatssekretärin Elke Zimmer (beide Grüne) vorbei am Koalitionspartner CDU einem zweifelhaften 30-Millionen-Euro-Vertrag beigetreten und hätten nicht einmal die eigene Ministerin Thekla Walker oder den eigenen Minister Winfried Hermann (ebenfalls beide Grüne) davon in Kenntnis gesetzt: Was würde wohl geschehen? Ganz gewiss erhöbe die CDU Rücktrittsforderungen, zuerst hinter vorgehaltener Hand, dann öffentlich und laut.

In einem solchen Alleingang ganz ohne Rückkoppelung mit den Grünen und auch ohne Wissen von Inneninister Thomas Strobl hat aber schon im März Innenstaatssekretär Thomas Blenke (beide CDU) einen Rahmenvertrag zum Einsatz von "Gotham" unterzeichnet, einer Analyse- und Recherchesoftware der US-Firma Palantir. Abgestimmt unter den Koalitionsfraktionen ist seit vergangenem Herbst das gemeinsame Sicherheitspaket und der Einsatz einer Software, die Polizeidaten aus unterschiedlichen Quellen automatisiert zusammenführt. Oliver Hildenbrand, Innenexperte und Fraktionsvize der Grünen, nennt Blenkes Vorgehen aber "voreilig und falsch", weil Details erst noch zu klären seien. Er hat einen Fragenkatalog an das von Thomas Strobl geführte Haus übermittelt, der jetzt erst einmal abgearbeitet werden muss. Im Innenministerium wiederum wähnen sich die Verantwortlichen zu Unrecht an den Pranger gestellt, weil im Grundsatz Einigkeit bestanden und Blenke mit seiner Unterschrift zur rechten Zeit dem Land auch noch Geld gespart habe.

Kaum vorstellbar ist deshalb, dass der Zeitplan von Inenminister Strobl hält, vor der Sommerpause die notwendige Polizeigesetzänderung auf den Weg zu bringen, die den Einsatz von "Gotham" ermöglicht. Dabei müsste Strobl selbst das größte Interesse daran haben, Zeit zu gewinnen, um Licht ins Dunkel der Abläufe in seinem Ressort zu bringen. Denn war er es doch, der sich auf einer Pressekonferenz in der vorvergangenen Woche als völlig ahnungslos in Sachen Vertragsunterzeichnung outen musste. "Ich habe selber keinen Vertrag geschlossen", beharrte er selbst nach mehreren Nachfragen, "ich kann Ihnen das nicht sagen." 

Zu allem Überfluss hatte der SWR da schon mehrere Tage berichtet. Über "Gotham", das Palantir-Produkt mit dem Werbespruch "Deine Software ist das Waffensystem", über das Unternehmen des Milliardärs, Trump-Fans und Demokratieverächters Peter Thiel. Ebenso über die Zweifel in anderen Bundesländern an den Beteuerungen, es komme beim Einsatz der Software ganz bestimmt nicht zu einem Daten-Abfluss. Der Innenminister wusste von alldem wenig bis nichts, aber sehr wohl, dass bei der Polizei vorhandene Erkenntnisse endlich per Knopfdruck zusammengeführt werden müssen: "Wir wüssten viel mehr, wenn wir wüssten, was wir wissen." Unvorstellbar, dass seine Partei einem Kabinettsmitglied der mitregierenden Grünen einen derartigen Auftritt ohne heftigen Rüffel durchgehen lassen würde.

Wäre Merz nicht Kanzler, wäre er in Rage

Indessen hat die CDU hierzulande neuerdings stattliche Vorbilder. Bundekanzler Friedrich Merz beispielsweise bricht gern Wahlversprechen – Stichwort: Schuldenbremse –, haut mediokre bis stammtischbrüderliche Sprüche raus wie den vom Zirkuszelt, das der Berliner Reichstag eben gerade nicht sei, weshalb die Regenbogenflagge am Fahnenmast hoch über der Kuppel auch nichts verloren habe. Und für irgendwelche interfraktionellen Vereinbarungen etwa über die bereits mit der SPD abgestimmte Berufung der Spitzenjuristin Frauke Brosius-Gersdorf ans Bundesverfassungsgericht interessiert sich der Kanzler auch nicht so recht. Wäre ein anderer Kanzler oder Kanzlerin – längst hätte er seinen Brutalo-Ausbruch an die Adresse von Vorgänger Olaf Scholz (SPD) wiederholt: "Sie können es nicht." 

Erst recht eine verschobene Verfassungsrichter:innenwahl hätte den Sauerländer in die berühmt-berüchtigte Oppositionsrage gebracht. Jetzt sitzt er selbst auf der Regierungsbank, kann aber ausweislich seiner Interviews sich und der Öffentlichkeit nicht eingestehen, wie sehr das Koalitionsklima belastet ist. Denn Union und SPD hatten mit einem abgestimmten Vorschlag für Brosius-Gersdorf bei den Grünen um Kooperation geworben, und die Grünen hatten Zustimmung signalisiert. Informell auch die Führung der Linkspartei.

Dann jedoch weichen Abgeordnete von CDU und CSU ab. Merz' Erklärung am Sonntag, seinem 69. Tag im Amt, man könne freigewählten selbstbewussten Abgeordneten "keine Befehle von oben" geben, schon gar nicht in Gewissensfragen ("Ich habe immer gesagt, dass die Gewissensfreiheit eines jeden Abgeordneten über allem steht"), zielt primär auf Ahnungslose. Denn ein geordneter parlamentarischer Betrieb wäre ohne Fraktions- und Koalitionsdisziplin gar nicht möglich. 

Ebenso würden Unionspolitiker:innen niemals akzeptieren, dass andere demokratische Parteien, ganz egal ob in Regierungsverantwortung oder in der Opposition, auf das Angebot der Kandidatin, sich vorzustellen und zu diskutieren, nicht einmal geordnet antworten. Im Gegenteil: Per Interviews richtet die christlich-demokratische respektive christlich-soziale Union dem Koalitionspartner SPD aus, er möge seine Kandidatin doch zurückzuziehen, um des lieben Friedens willen. Es liege in der Verantwortung der Spitzenjuristin, Schaden vom Bundesverfassungsgericht abzuwenden, dreht zum Beispiel Tilmann Kuban, früher mal die Nummer eins bei der Jungen Union, den Spieß um.

Alleingänge sind im Südwesten nichts Neues

Auch Philipp Amthor, Staatssekretär im neuen Bundesdigitalministerium, reißt Brücken ein, wenn er Brosius-Gersdorfs Ansichten zum Thema Menschenwürde problematisiert. Und wie so oft übt sich Bayerns Ministerpräsident im Weitwurf von Nebelkerzen: Ginge es nach Markus Söder (CSU), müsste die Kandidatur zurückgezogen werden, weil auf ihr kein Segen liegt. Dabei war sie zunächst unumstritten. Die Emissäre von Union und SPD hatten gemeinsam bei den Grünen für ein Ja geworben, im Richterwahlausschuss des Bundestags war die nötige Zweidrittelmehrheit für die drei Vorgeschlagenen erreicht worden. Zu Recht, bekräftigen inzwischen übrigens 300 Rechtswissenschaftler:innen, die "nachdrücklich" gegen diesen Umgang mit der Kollegin protestieren. Brosius-Gersdorf selbst hat nun eine Erklärung veröffentlicht, in der sie sich gegen einen Teil der Berichterstattung wehrt: "Sie war nicht sachorientiert, sondern von dem Ziel geleitet, die Wahl zu verhindern", schreibt sie und nimmt ausführlich und sachlich Stellung, nachzulesen hier.

Die goldene Regel "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu" war gerade in Baden-Württemberg auch in früheren Jahren schon außer Kraft gesetzt, weil CDU-Granden nach Gutsherrenart agierten. Etwa als Ministerpräsident Erwin Teufel seinen Staatssekretär Gustav Wabro unter Bruch des Koalitionsvertrags mit den Sozialdemokraten für ein – in diesem Fall wirklich – umstrittenes Pflegeversicherungsmodell stimmen ließ und damit dessen Einführung sicherstellte. Oder als sein Nachnachfolger Stefan Mappus in einer Nacht-und-Nebel-Aktion und unter Überdehnung aller Vorgaben den Rückkauf der EnBW-Anteile vom französischen Energieversorger EDF organisierte. Demokratische Parteien und demokratische Abläufe waren noch bis vor kurzer Zeit aber deutlich weniger unter Druck als heute. Deshalb wäre ein Reset des schwarzen Selbstverständnisses sehr geboten. 

Etwas kühler und ohne den Konflikt zur Prestigefrage hochzustilisieren, könnte sich zum Beispiel Thomas Strobl direkt mit dem Landesdatenschutzbeauftragten Tobias Keber in Verbindung setzen. Den haben in Sachen Palantir seine Fachleute im Hause ohnehin schon eingebunden, die auf Kontext-Anfrage sachlich und nüchtern darauf hinweisen, dass dieses Zusammenführen von Erkenntnissen einen "starken Eingriff in die Grundrechte bedeuten kann", aber "es unter bestimmten Voraussetzungen datenschutzrechtlich möglich ist, sich privater Dienstleister zu bedienen". Für sie sei klar, dass diese möglichen Eingriffe durch effektive Schutzmaßnahmen abgemildert werden müssten. 

CDU und Grüne schweigen

Die CDU-Fraktion im Südwest-Landtag will sich erst einmal zum weiteren Vorgehen und den Kompromissmöglichkeiten mit den Grünen gar nicht äußern. Ein Sprecher verweist auf das Gesetzgebungsverfahren, dass sich "noch in der Regierungsabstimmung befindet". Die reichlich defensive Grünen-Fraktion schweigt zum jetzigen Zeitpunkt ebenfalls. Genauso wie Ministerpräsident Winfried Kretschmann selbst, der "noch" nichts sagen könne. Auf der allwöchentlichen Pressekonferenz äußert er sich aber sehr wohl zur in Berlin schiefgegangenen Richter:innen-Wahl. Nur: Ross und Reiter nennt er nicht, eine Kritik an der CDU im Bund kommt ihm nicht über die Lippen. Nur der Appell, zum Verfahren zurückzukehren, das bisher über viele Jahrzehnte reibungslos funktioniert habe.

Erst auf Nachfrage erlaubt sich der Regierungschef einen klitzekleinen Hinweis darauf, wie er wirklich denkt, mit seiner Erinnerung an die beiden schwarzen Politiker, die reibungslos Verfassungsrichter geworden sind: Stephan Harbarth, der für den Wahlkreis Rhein-Neckar im Bundestag saß, rotierte 2018 direkt nach Karlsruhe; und Peter Müller war zuerst Ministerpräsident des Saarlands und dann von 2011 und 2023 Richter am Bundesverfassungsgericht. Beide hätten den Rollenwechsel ohne Probleme bewältigt, lobt Kretschmann. Er hätte auch sagen können, dass der eine, weil Union und SPD ebenfalls über keine Zwei-Drittel-Mehrheit verfügten, anstandslos mit den Stimmen von Grünen und FDP gewählt wurde und der andere im Bundesrat sogar einstimmig – trotz politisch umstrittener Positionen. Denn Müller befürwortete ein Mehrheitswahlrecht und Harbarth war bekennender Anhänger der Vorratsdatenspeicherung.

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5 Kommentare verfügbar

  • Fliege, noch immer an der Wand
    vor 1 Tag
    Antworten
    "Gotham" wurde unterzeichnet, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Geld sparen UND Bürger noch umfassender ausspähen! Bravo, bravissimo!
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