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Schweben statt stehen

Schweben statt stehen
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Großstadtpendler steigen in Seilbahnen, um sicher, schnell und umweltfreundlich ans Ziel zu kommen. Eine Vorstellung, die sich bislang nur wenige Stadt- und Verkehrsplaner machen können. In Stuttgart wird diese Vision womöglich Wirklichkeit.

Die Zahlen sprechen für sich: Im Schnitt verbrachten Autofahrer in Berlin, Hamburg und Stuttgart im vergangenen Jahr 44 Stunden im Stau. Nur bayerische Pendler mussten sich nach Erhebungen des Verkehrsdatenanbieters Inrix noch länger gedulden: Mit 51 Stunden wurde München zum zweiten Mal in Folge Stauhauptstadt Deutschlands. Auch wenn Städte, Länder und der Bund jedes Jahr Milliarden ins Straßen- und Nahverkehrsnetz pumpen: Ein stetig steigendes Verkehrsaufkommen macht diese Anstrengungen zunichte. "Um künftige negative Folgen auf die Wirtschaft zu verhindern und die Mobilitätsherausforderungen zu meistern, müssen wir in intelligente Verkehrssysteme investieren", sagt Inrix-Chefvolkswirt Graham Cooksen.

No ned hudla!

Im staugeplagten Stuttgart braucht's Geduld. Wer im abendlichen Berufsverkehr über die B 27 / Neue Weinsteige nach Hause fährt, ist auf der stauträchtigsten innerstädtischen Straße deutschlandweit unterwegs: Allein 31 Staustunden verbrachten Autofahrer in 2017 wartend zwischen City und dem Stadtbezirk Degerloch, zeigen die Staudaten von Inrix.

Der Schaden des Rumstehens ist enorm: "Staus kosten die Deutschen über 30 Milliarden Euro pro Jahr und beeinträchtigen die Lebensqualität", sagt Graham Cookson von Inrix. Für Nichtstun und unnötigen Spritverbrauch zahlten Stuttgarts Autofahrer 2386 Euro im Jahr, rund 150 Euro mehr als im Vorjahr. In Summe kosteten die Staus die sparsamen Schwaben jährlich 918 Millionen Euro.

Während der Hauptverkehrszeiten nähert sich die Durchschnittsgeschwindigkeit in den Großstädten der Schrittgeschwindigkeit. Am tiefsten fällt sie laut Inrix in Mönchengladbach: Bei Stau kommen Autofahrer dort nur noch mit 7 km/h vorwärts, gefolgt von Berlin mit 8 km/h. (jl)

Bei der Suche nach Lösungen fokussierten sich Stadt- und Verkehrsplaner bislang nur auf zwei Raumebenen einer Stadt: auf die Oberfläche, wo Straßen, Wege und Schienentrassen den Verkehr aufnehmen, sowie auf den Untergrund, wo Tunnelröhren zusätzliche Wege für Autos, Busse und Bahnen schaffen. Erst seit wenigen Jahren diskutieren Experten und Politiker auch über den Einsatz von Luftseilbahnen als Antwort auf innerstädtische Verkehrsprobleme und als Beitrag zu einer nachhaltigen Mobilität. Diese könnten die bisher meist ungenutzte dritte Ebene im städtischen Verkehrsraum nutzen.

Schwebende Gondeln für Pendler hierzulande? Fehlanzeige. "Die Idee ist immer wieder aufgekommen. Realisiert wurde aber bislang keine einzige Seilbahn", erläutert Maike Puhe vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Anders als in den Skigebieten der Mittelgebirge und Alpen, wo sich die Zahl der Bahnen in den vergangenen Jahrzehnten vervielfacht hat, schaffte es dieses Transportsystem noch in keiner Stadt zum Teil des öffentlichen Nahverkehrs zu werden. Bisherige Seilbahnprojekte seien gewöhnlich unabhängig von der sonstigen strategischen Verkehrsplanung diskutiert und realisiert worden, erläutert die wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am KIT. "Den Anstoß gab meist ein äußerer Anlass, etwa eine Ausstellung", sagt Puhe. Stadtseilbahnen laufen bis dato als touristische Attraktionen.

Das gilt etwa für die Seilbahn Koblenz, die auf 890 Meter Gesamtlänge das linkseitige Rheinufer mit der 112 Meter höher gelegenen Festung Ehrenbreitstein auf der gegenüberliegenden Flussseite verbindet. Sie wurde zur Bundesgartenschau 2011 in Betrieb genommen. Auch die Seilbahn Berlin startete im April 2017 zeitgleich mit Beginn der Internationalen Gartenausstellung. Sie überquert auf 1,5 Kilometern das über 100 Hektar große Ausstellungsgelände. Und die Kölner Seilbahn, die älteste urbane Luftseilbahn Deutschlands, wurde zur Bundesgartenschau 1957 errichtet. Sie steht wegen Defekts seit vergangenem Jahr still.

Bislang fehlen Erfahrungswerte

Die weißen Flecken auf der deutschen Seilbahnenkarte, die derzeit 80 Betreiber vor allem am Alpenrand verzeichnen, könnten jedoch bald weniger werden. In Stuttgart soll eine Luftseilbahn künftig Pendler sicher und nachhaltig transportieren. Das zumindest schwebt den Grünen im Rathaus vor, um den verkehrsgeplagten Stadtbezirk Vaihingen auf den Fildern zu entlasten. Die angedachte Bahn könnte den dortigen Regionalzug- und S-Bahn-Halt und ein mögliches Park-&-Ride-Parkhaus in Nähe der Autobahnanschlussstelle Möhringen verbinden. Autofahrer aus dem Süden könnten somit schon an der A 8 in eine Gondel zum Vaihinger Gewerbegebiet Synergiepark umsteigen und über die Nord-Süd-Straße hinweg schweben, auf der zu Stoßzeiten häufig Stau herrscht. Eine Seilbahn, die in zehn Minuten die drei Kilometer lange Strecke bewältigt, könnte den flächenfressenden und teuren Ausbau des überlasteten Straßenzubringers vermeiden, hoffen die Initiatoren.

Mit Unterstützung der SPD forderten die Grünen die Stadtverwaltung auf, neben dieser Trasse auch eine längere Linienführung zu prüfen. Die Gondeln könnten in westlicher Richtung über den Vaihinger Bahnhof hinaus bis zur einstigen IBM-Hauptverwaltung beim Stuttgarter Autobahnkreuz fahren. In 2015 hatte der Düsseldorfer Investor Mathias Düsterdick das leerstehende Areal gekauft. Unter dem Namen "Garden Campus Vaihingen" soll dort ein Arbeits- und Wohnquartier für bis zu 6000 Menschen entstehen. In entgegengesetzter Richtung wäre eine Endstation am Stuttgarter Flughafen denkbar. Allerdings würde dies die Trasse auf rund zehn Kilometer verlängern, was als technische Herausforderung gilt. Den Weltrekord für 3-Seil-Bahnen (zwei Tragseile, ein Zugseil) hält derzeit die Seilbahn Hòn Thơm in Vietnam, die auf 7899,9 Meter Länge zwei Ferieninseln verbindet.

Inzwischen sind fast zwei Jahre vergangen, seit die Seilbahnidee erste Kreise zog. Von Seilen, Stützen und Gondeln ist noch nichts zu sehen. Für Maike Puhe kein Wunder, nachdem sie mit Kollegen Potentiale und Hindernisse urbaner Seilbahnprojekte im Auftrag des Landesverkehrsministeriums untersuchte. Die Studie ist seit kurzem abgeschlossen. "Es fehlt schlicht an Erfahrungswerten für dieses Verkehrsmittel", erklärt die Wissenschaftlerin den stockenden Fortschritt. Während für Stadtbahnen und Busse erprobte Kennwerte vorliegen, die sich in Simulationen und Kosten-Nutzen-Rechnungen einspeisen lassen, steht hinter verkehrlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Fragestellungen zu Seilbahnen meist ein dickes Fragezeichen. Die Bahnen gehören bislang nicht ins etablierte Repertoire von Verkehrsplanern, Verkehrsbetrieben und politischen Entscheidungsträgern. Auch an deutschen Universitäten sind sie bislang kein Thema. "Es fehlt an Fachliteratur, Praxiserfahrungen, an Vergleichsfällen und Referenzdaten für die konkrete Planung und Bewertung möglicher Projekte", so Puhe. Damit ereilt die Seilbahnen ein ähnliches Schicksal wie andere Innovationen im öffentlichen Verkehr: sie setzen sich nur langsam durch.

Auf der anderen Seite klingen zahlreiche Studienergebnisse vielversprechend. Demnach lassen sich Luftseilbahnen gut in bestehende ÖPNV-Systeme integrieren. Die Kabinen sind barrierefrei und ermöglichen die Fahrradmitnahme. Sie gelten als sicher und komfortabel. Auch ökologisch spricht vieles dafür: die Bahnen sind sparsam im Flächenverbrauch, haben einen geringen Energiebedarf und mindern so die CO2‐ und Luftschadstoffemissionen des Verkehrssektors. Sie sind bis zu 30 km/h schnell, und dabei noch leiser als Busse und Schienenbahnen. In Spitzenstunden können Seilbahnen mit vergleichsweise geringerem Aufwand zusätzliche Kapazitäten bereitstellen.

In La Paz: 100 Millionen Nutzer in drei Jahren

Genau deshalb schweben Luftseilbahnen in anderen Weltregionen bereits durch die Lüfte. Vor allem in Lateinamerika. "Dort funktionieren sie als vollwertiges Verkehrsmittel", sagt Ekkehard Assmann vom österreichischen Seilbahnbauer Doppelmayr. Allen voran im bolivianischen La Paz. In der 2-Millionen-Metropole baut der Weltmarktführer aus Vorarlberg derzeit das größte urbane Seilbahnnetz der Welt. Für das hatte sich der sozialistische Staatspräsident Evo Morales stark gemacht, auch weil die Stadt täglich im Verkehrschaos versinkt. Bislang waren die Pazenos auf Minibusse angewiesen, die den öffentlichen Nahverkehr in den schmalen, verstopften Straßen mehr schlecht als recht bewältigen.

In 2014 gingen die ersten drei Linien in Betrieb, eine rote, eine grüne und eine gelbe - sie symbolisieren die Nationalfarben des Andenstaates. Im vergangenen Jahr folgten zwei weitere Linien. Auf einer Meereshöhe von 3.600 m bis 4.000 m erleichtern die Bahnen seither den Pendlerverkehr zwischen La Paz und der benachbarten Großstadt El Alto. Der Staatspräsident musste seine Idee gegen den Widerstand von Busbetreibern und Gewerkschaften durchsetzen. "Wir wollten zeigen, dass die Politik etwas für die Menschen tut", betont er. Während die Menschen in Minibussen zuvor fast eine Stunde benötigten, <link http: www.daserste.de information wissen-kultur w-wie-wissen videos seilbahn-video-100.html external-link-new-window>transportieren die Seilbahnen die Fahrgäste heute in zehn Minuten ans Ziel. 

Ende Januar 2018 absolvierte Morales die Jungfernfahrt zwei weiterer Seilbahnen, die zusätzliche Stadtteile von La Paz erschließen. "Wir haben ein Weltrekordseilbahnnetz - ein Bauprojekt, das nicht nur die Bolivianer beeindruckt, sondern die gesamte Welt", verkündete er stolz. Bis Projektende 2019 soll das Seilbahnnetz weiter wachsen und dann insgesamt zehn Linien mit 25 Stationen und einer Trassenlänge von 30 Kilometer umfassen. In den Hauptverkehrszeiten werden dann 1400 Seilbahngondeln über La Paz schweben, die bis zu 60 000 Fahrgäste pro Stunde transportieren.

Wie sehr die Bolivianer das neue Verkehrsmittel schätzen und wie hoch dessen Verfügbarkeit ist, zeigen die Nutzerzahlen. Bereits 28 Tage nach Inbetriebnahme der ersten Linie wurden eine Million Fahrgäste gezählt. Der 100. Millionste Passagier wurde am 17. November 2017 begrüßt, rund drei Jahre nach dem Start. Zum Erfolg dürften auch die moderaten Ticketpreise beitragen. Eine Fahrt mit dem Teleferico kostet umgerechnet 30 Cent. "Das Seilbahnsystem in La Paz wird sich ohne Subventionen tragen", erwartet Doppelmayr-Sprecher Assmann. Trotz geschätzten Investitionskosten von insgesamt 685 Millionen Dollar.

Günstiger als Gleisanlagen und Tunnelbau

Der Grund: Bau- und Betriebskosten einer Luftseilbahn sind deutlich günstiger als die von Schienen-Projekten. Zwar hängen die Investitionskosten stark von Topografie, Trassenlänge und Stationszahl ab. So rechnete die Bergische Universität Wuppertal für den Aufbau einer Dreiseil-Umlaufbahnen in der Schwebebahnstadt mit Kosten von 12,5 Millionen Euro pro Kilometer. Die gleiche Trasse für Straßenbahnen kostet dagegen bis zu 25 Millionen Euro. Der U-Bahnbau verschlingt zwischen 50 und 150 Millionen Euro pro Kilometer.

Deutsche Kommunalpolitiker brauchen nicht bis nach Bolivien reisen, um sich einen Eindruck über das neue Transportmittel zu verschaffen. Seit März 2014 verkehrt in Ankara eine kuppelbare 10er Kabinenbahn. Die vom Südtiroler Hersteller Leitner Ropeways, der Nummer 2 im Weltmarkt, realisierte Bahn schließt zwei Stadtteile an das Metronetz der türkischen Hauptstadt an. Mit vier Stationen auf einer Länge von 3228 Metern gilt sie als größte Stadtseilbahn Eurasiens. Sie befördert pro Richtung bis zu 2.400 Personen pro Stunde. Die mit Sitzheizung, Multimedia-System und Außenbeleuchtung ausgestatteten Kabinen bieten in bis zu 60 Metern Höhe über dem Boden eine eindrucksvolle Aussicht. Im Vergleich zu anderen Transportsystemen spart die Stadt bis zu 80 Prozent an Betriebskosten, betonte Bürgermeister Melih Gökçek bei der Eröffnung und sprach von einem Durchbruch im öffentlichen Personenverkehr in der Türkei. Und einem gutem Bespiel für andere Städte des Landes.

In Stuttgart formulieren die Stadtplaner derweil die Ausschreibung für eine Machbarkeitsstudie. Sie soll drei Seilbahntrassen bewerten: im Südwesten der Stadt zwischen Vaihingen und Möhringen, im Süden zwischen Degerloch und der Uni Hohenheim sowie eine quer über den Talkessel vom Pragsattel bis zum Stuttgarter Osten. Die Prüfung einer Seilbahn zwischen Stuttgarts größtem Stadtbezirk Bad Cannstatt und der Innenstadt, die das Feinstaubloch Neckartor umweltfreundlich überqueren würde, ist laut Stadtsprecher Sven Matis jedoch nicht vorgesehen.

"Seilbahnen sind kein Allheilmittel", dämpft Expertin Puhe zu große Erwartungen. Auch im Internet ist man sich einig, dass die Entscheidung für das System in Stuttgart am seidenen Kabel hängt. "Die Idee ist theoretisch gut - zumindest weitaus sinnhaftiger und preiswerter als Stuttgart 21. Doch kaum ein Anwohner in Halbhöhenlage möchte eine Seilbahn an Wohn-, Arbeits- oder gar Schlafzimmerfenster vorbeifahren lassen", schreibt ein User eines Fachforums. Was er nicht weiß: Gegen unerwünschte Einblicke in schwäbische Eigenheime haben die Hersteller bereits eine Lösung gefunden. Auf Wunsch lassen sich Gondelscheiben streckenweise automatisch verdunkeln.


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4 Kommentare verfügbar

  • Schwa be
    am 28.05.2018
    Antworten
    An Dummheit und Gefährlichkeit sind unsere neoliberalen m.E. nicht zu überbieten.
    Nur weil sie zu egoistisch, feige und charakterlos sind sich mit der Auto- und Öllobby anzulegen um Fahrverbote durchzusetzen und damit das jährliche tausendfache töten von Menschen durch Feinstaub und Stickoxyd…
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