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Teurer Tunnel

Teurer Tunnel
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Nicht nur Stuttgart 21 wird immer teurer und immer später fertig. Was die Bahn bei ihrem Tiefbahnhof kann, schafft die schwäbische Landeshauptstadt beim Straßenprojekt Rosensteintunnel.

Das Atmen fällt schwer, der Hals kratzt, die Ohren klingeln, weil es so irre laut ist. Wer sich von der Cannstatter Altstadt zu Fuß zum botanisch-zoologischen Garten Wilhelma am anderen Neckarufer aufmacht, muss hart im Nehmen sein. Denn den Weg versperrt die B 10, eine der meistbefahrenen Straßen in der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Nach Blumen, wie es der angrenzende Rosensteinpark nahelegt, duftet es hier schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Zu viele Abgase wabern in der Luft, rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr. Über 50 000 Fahrzeuge rollen täglich auf der innerstädtischen Hauptverkehrsachse, die den Stuttgarter Norden mit dem Neckartal im Osten der Stadt verbindet.

Zur Hauptverkehrszeit schleichen Autos, eingezwängt zwischen Lastwagen, meist nur im Schritttempo durchs ampel- und kurvenreiche Nadelöhr. Von wegen freie Fahrt für freie Bürger auf der vierspurigen Straße. Die B 10 zwischen Neckartal- und Pragstraße, an der mit dem Kolbenhersteller Mahle einer der Profiteure des Autobooms seinen Stammsitz hat, ist Dauerbrenner in den Verkehrsmeldungen. Anders als am berüchtigten und mittlerweile bundesweit bekannten Neckartor protokollieren hier keine Messfühler die überhöhten Luftschadstoffe. Dabei wohnen entlang der abgas- und lärmgeschwängerten Staustrecke mehr Menschen als an Deutschlands dreckigster Kreuzung – in Häusern, deren rußgeschwärzte Fassaden und schallgedämmte Fenster den Fluch fossiler Antriebstechniken widerspiegeln.

Doch bald soll alles besser werden, das extrem verkehrsbelastete Neckarufer sich zur blühenden Landschaft wandeln, in der Stadtbewohner flanieren und sich die Flusspferde der Wilhelma in einem neckarnahen Tiergehege pudelwohl fühlen. So zumindest ist der visionäre Vorschlag. Aber nicht etwa durch Fahrverbote für besonders schmutzige Diesel und Benziner soll sich der Straßenmoloch zum Paradies wandeln. Auch ist nicht geplant, mit Bussen und Bahnen die Autos zu verdrängen. Vielmehr soll ein neuer Straßentunnel das Unvorstellbare schaffen: seit 2014 wird am knapp 1,1 Kilometer langen Rosensteintunnel gebaut, der unter dem Stuttgarter Rosensteinpark und Deutschlands schönstem Zoo, der Wilhelma, ampel- und kreuzungsfrei die stauträchtige Neckarvorstadt umgeht.

Inzwischen stehen zwei Tunnelröhren im Rohbau, derzeit werden die Zwischendecken eingezogen. Bis Ende des Jahres sollen die südlichen Tunnelportale in Beton gegossen sein. Anfang 2019 folgt die Installation der Betriebstechnik. Im Jahr 2020 sollen schließlich die ersten Autos durch die zweispurigen Röhren rollen. Rückbau und Begrünung der bisherigen Trasse schließen sich an. Die Bewohner von rund 170 Wohnungen in der Pragstraße können aber nicht ganz frei durchatmen: rund 11 000 Autos täglich werden laut Prognosen weiter vor ihren Fenstern vorbeifahren.

Grüne und das Parteibündnis SÖS-Linke-Plus im Stuttgarter Gemeinderat lehnen den Tunnel bis heute vehement ab. Im Oktober 2009 hatte es eine Mehrheit aus CDU, FDP und Freien Wählern trotzdem beschlossen. Gegen den Willen der Parteibasis votierte damals auch die SPD-Fraktion für den Tunnel. Drei Jahre später fasste diese Autofahrerkoalition den endgültigen Baubeschluss.

Im öffentlichen Anhörungsverfahren gingen 1645 Einwendungen von Bürgerinnen und Bürgern ein. Fast alle sprachen sich gegen den Tunnelbau aus. Im Verwaltungsjargon wurden daraus "Anregungen", die zu keiner Änderung des Bebauungsplans führten. "Bei vielen Anregungen können die beschriebenen Befürchtungen/Bedenken widerlegt oder ausgeräumt werden", hieß es in der Beschlussvorlage, der die Gemeinderäte im September 2012 mehrheitlich zustimmten.

Zwei Verkehrsphilosophien spiegeln sich in den Voten wider, wie Verkehr und Staus Herr zu werden ist. Die Konservative sieht Straßenneubauten als Lösung. Der Rosensteintunnel beseitige einen Engpass im Stuttgarter Hauptverkehrsstraßennetz, sagen dessen Befürworter. Die leistungsfähigere Trasse wirke bündelnd und vermeide Schleichverkehr durch benachbarte Stadtbezirke.

Straßenbau schaffe mehr Verkehr, sagt die andere Philosophie, die der Tunnelgegner. Mit dem Tunnel wird eine Stadtautobahn geschaffen, die zu noch mehr Lärm, Abgasen und klimaschädlichen Emissionen führt. Der Tunnel werde den überregionalen Durchgangsverkehr anziehen, der bislang über die Autobahnen A 8 und A 81 fährt. Und tatsächlich – wer von Zuffenhausen im Norden von Stuttgart nach Wendlingen im Südosten will, spart fünf Kilometer wenn er die B 10 durch die Stadt nimmt und nicht die Autobahn um Stuttgart herum.

"Die Stadt baut doch keine Autobahn auf eigene Rechnung für den Bund", betont Projektleiter Christian Buch vom städtischen Tiefbauamt während einer Baustellenbesichtigung. Es gibt Prognosen, die der Stadt täglich 23 000 Autos mehr voraussagen, die über die B 10 rollen, sobald der Tunnel eröffnet ist. Dieser zusätzliche Verkehr soll bisher Schleichwege durch angrenzende Stadtteile genommen haben, behaupten Verkehrsgutachten.

Nach Modellrechnungen soll höchstens jedes zehnte Fahrzeug die B10 als Alternative nutzen, weil diese Route wegen Tempolimits und Ampelstopps unattraktiv sei. Wer über die Autobahn fährt, sei 16 Minuten schneller unterwegs (36 statt 52 Minuten) und außer bei Störfällen auf der A8/81 "kann nicht davon ausgegangen werden, dass die B 10 von einem größeren Anteil des Verkehrs als Ausweichstrecke genutzt wird", rechtfertigten städtische Verkehrsplaner im Jahr 2011 den Tunnelbau.

Nicht abzustreiten ist aber: Die neue Tunneltrasse wird den Weg durch die Stadt attraktiver machen. Deutlicher: "Das Projekt ist pures Gift für die Stadt", sagt Stadtrat Christoph Ozasek (SÖS-Linke-Plus), und befürchtet, dass die Schadstoffbelastung in der Stadt großflächig steigen wird. Dem widerspricht Projektleiter Buch: Rund 80 Prozent der Abgase im Tunnel würden mit hoher Geschwindigkeit durch Abluftkamine in höhere Luftschichten geblasen. "Das führt zu einer Verdünnung und deutlichen Unterschreitung der Grenzwerte", verspricht der Ingenieur. Bleibt also festzuhalten: Das derzeit größte Straßenbauprojekt Stuttgarts ist hoch umstritten.

Unstrittig aber ist, dass die neue Tunnelwelt ihren Preis hat: Wie beim größten Verkehrsprojekt in der Landeshauptstadt, dem Tiefbahnhof Stuttgart 21, wurden bislang nicht nur Zeitpläne zu Makulatur – der Tunnel sollte ursprünglich 2015 fertig werden. Lange her. Wie bei der Bahn galoppieren auch beim Straßentunnelbau die Kosten davon. Zum Projektbeschluss noch auf 193,5 Millionen Euro taxiert, sollte das Vorhaben vier Jahre später, im Jahr 2013, schon 231 Millionen Euro kosten. Im Juni 2015 wurden die Baukosten dann offiziell auf 274,62 Millionen Euro korrigiert. "Beim Bau des Rosensteintunnels – wie der S21-Tunnelbahnhof ein überflüssiges und verzichtbares Projekt – muss deshalb die Notbremse gezogen werden", forderte SÖS-Linke-Plus damals vergeblich. Für die Grünen bewahrheiteten sich Befürchtungen, dass der Tunnel wie ein Staubsauger alles Geld für Erhalt und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur schluckt.

Tatsächlich hatte sich die Landeshauptstadt im Jahr 2009 mit einem Deal insgesamt 112 Millionen Euro aus der Bundeskasse für das innerstädtische Straßenprojekt gesichert: der Tunnel belegt bis 2019 alle jährlichen Zuschüsse aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz. Für alles andere, etwa den öffentlichen Nahverkehr oder den Bau von Radwegen, gab es seitdem keine Zuschüsse mehr aus Berlin. Stattdessen muss Stadtkämmerer Michael Föll (CDU) neben den anteiligen Tunnelkosten (derzeit 162 Millionen Euro) neue Busse und Stadtbahnen, aber auch den Teer fürs Schlaglochflicken komplett aus der eigenen Kasse bezahlen.

Von Kostenexplosionen mag Projektleiter Buch trotzdem nicht sprechen. "Die erste Kostenanpassung war der Baupreisentwicklung zwischen Baubeschluss und Baubeginn geschuldet", sagt er. Für die zweite Kostensteigerung jedoch waren steigende Preise für Stahl und Beton nur zum Teil verantwortlich. Rund ein Drittel der Mehrkosten gingen auf das Konto von sogenannten "zusätzlichen Maßnahmen", mit denen das städtische Tiefbauamt nicht gerechnet hatte.

Erkundungen zum Aufspüren von Blindgängern aus dem Zweiten Weltkrieg erwiesen sich beispielsweise als aufwändiger als erwartet. Das Bauen unter laufendem Verkehr erforderte zusätzliche Ampelanlagen. Geologische Schwierigkeiten, die das Gutachterbüro WBI, das auch beim Bahnprojekt Stuttgart 21 federführend ist, nicht vorhersah, verlangten teurere Sicherungsmaßnahmen. So stürzte vor zwei Jahren ein Teil der Tunneldecke beim Vortrieb ein, nur großes Glück verhinderte Opfer. Für den zuständigen Technikbürgermeister Dirk Thürnau (SPD) waren diese Pannen kein Grund zur Selbstkritik: Die Mehrkosten, so hieß es in der Vorlage für die Stadträte, bewegten sich "im üblichen Rahmen bei der Durchführung von Großprojekten".

"Wir bekommen einen verkehrlichen Quantensprung zum Preis von 230 Einfamilienhäusern", sagt Projektleiter Buch heute. Dass der Tunnelbetrieb in Zukunft jährlich 800 000 Euro (noch ein Einfamilienhaus in guter Lage) kostet, verrät bislang kein Projektprospekt.

Und das Ende der Fahnenstange ist damit noch lange nicht erreicht. Denn im zweiten Bauabschnitt des Gesamtprojekts ruhen die Arbeiten seit anderthalb Jahren. Am sogenannten Leuzeknoten, an dem sich der Verkehr in die Innenstadt und nach Bad Cannstatt mit den Fahrzeugen auf den Bundesstraßen 10 und 14 vermischt, soll der zweiröhrige Leuzetunnel eine dritte Röhre erhalten. Außerdem soll zusätzlich ein neuer Kurztunnel die Verkehrsströme in Richtung Innenstadt entzerren. Im März 2017 hatte die Stadt dem dort tätigen Stuttgarter Bauunternehmen Wolff & Müller Ingenieurbau aus "wichtigen Gründen" den Auftrag entzogen. Aus städtischer Sicht hatte die Baufirma Leistungen nicht zum vereinbarten Zeitpunkt erbracht und unberechtigte Nachforderungen zum vereinbarten Auftragsvolumen von 41,3 Millionen Euro gestellt. Außerdem seien Sicherheitsvorschriften missachtet worden. So war im März 2016 ein Polier auf der Baustelle von einem Betonquader erschlagen worden.

Seither haben die Rechtsanwälte das Sagen. Vor dem Landgericht fordern die ehemaligen Vertragspartner zweistellige Millionensummen voneinander. Dem Vernehmen nach verlangt die Stadt rund 12 Millionen Euro an Abschlagszahlungen zurück, die Baufirma wiederum besteht auf Nachschlägen über 30 Millionen Euro. Im Frühjahr ist ein erster Gütetermin angesetzt.

Dann sollen die Arbeiten auch erneut ausgeschrieben werden. In Zeiten boomender Baukonjunktur werden Angebote wohl deutlich über den bisherigen Kosten liegen und damit wird das Gesamtprojekt an der Kostengrenze von 300 Millionen Euro kratzen. Der Leuzeknoten wird frühestens im Jahr 2023 fertig sein. Und dieser Abschnitt der B 10 solange ein Dauerbrenner in den Verkehrsnachrichten bleiben. Auch die Nashörner der Wilhelma werden warten müssen. Auf blühende Landschaften und gute Luft in der Landeshauptstadt.


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3 Kommentare verfügbar

  • Michael Schenk
    am 16.07.2018
    Antworten
    Nachdem bis heute keine Bautätigkeit am zweiten Bauabschnitt sichtbar ist, stellt sich mir folgende Frage: Kann der erste Bauabschnitt (Rosensteintunnel) ohne den zweiten Ba (Leuzeknoten) überhaupt in Betrieb genommen werden?

    Herr Lessat, in Ihrem Artikel ist das Thema nicht angefasst worden. …
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