Die Schule ist aus, aber der zwölfjährige Alyosha (Matvey Novikov) hat keine Eile auf dem Heimweg. Er trödelt durch bewaldetes Niemandsland, er findet ein Plastikband, wie es für Absperrungen benutzt wird, wirft es in die Äste eines kahlen Baums, schaut zu, wie es flattert. Und dann erreicht er schließlich doch die Blocks am Rande der Großstadt und damit ein Zuhause, in dem ihm seine Mutter Zhenya (Maryana Spivak) gleich wieder zeigt, wie lästig er ihr ist. "Loveless" heißt dieser große, kalte Film von Andrey Zvyagintsev, der vom Ende einer prekären Kindheit erzählt. Prekär freilich nicht im materiellen Sinn: Die vor der Scheidung stehenden Eltern Zhenya und Boris (Alexey Rozin) sind in die Mittelschicht aufgestiegen, verfügen ganz selbstverständlich über Auto und Smartphone, und auch Alyosha hat ein eigenes Zimmer und viele Spielsachen.
Wenn dagegen die sechsjährige Moonee (Brooklynn Prince) von ihren Streifzügen durch ein Niemandsland aus Tankstellen, Fast-Food-Läden und Outletbunkern zurückkehrt, dann findet sie sich im kleinen Zimmer eines Motels wieder, für das ihre junge Mutter Halley (Bria Vinaite) jeden Tag 38 Dollar heranschaffen muss. Sonst wird sie mit ihrer Tochter rausgeschmissen und ist obdachlos. Auch Sean Bakers Film "The Florida Project" erzählt also von einer prekären Kindheit, und dies in einem Milieu, das viel weiter unten angesiedelt ist als jenes in "Loveless." Und doch scheint in Bakers Geschichte nicht nur die südliche Sonne hinein, sondern auch die Hoffnung, dass die selbstbewusst-freche Moonee nicht so schnell herausfällt aus dem magischen Reich der Kindheit, das sie sich auch selbst geschaffen hat, das ihre triste Umgebung transzendiert.
"Welcome to a magical Kingdom", so steht es auch auf den Plakaten des Films und auf jenen an der Straße, an der sich Moonee und ihre Freunde Geld für ein Eis zusammenschnorren oder das Weitspucken üben. Es ist nämlich die Straße nach Disneyworld, und auch die Hubschrauber, die im Hintergrund abheben, machen sich auf zum Flug in einen amerikanischen Traum, der allerdings viel von seinem Glanz verloren hat. Das in schreiendem Pink bemalte Motel, in dem Halley und ihre Tochter hausen, heißt zwar noch "Magic Castle", aber es war mal für Touristen gedacht. Jetzt sind, so der Regisseur, die Auswirkungen der Finanzkrise von 2008 zu sehen, jetzt bleiben die Touristen aus und die neuen Bewohner versuchen, sich mittels Sozialhilfe und Wohlfahrtsorganisationen in der Gesellschaft festzuklammern.
Geld allein macht keine glückliche Kindheit
Halley allerdings, eine jederzeit dreist auftretende Frau in kurzen Jeans, knappen Tops und mit grünen Haaren und Tattoos, versucht sich gar nicht erst an einer bürgerlichen Fassade. Sie verkauft gefälschtes Parfüm, geklaute Eintrittskarten und auch, nachdem sie Moonee hinter einem Vorhang versteckt, sich selber. Sie ist also das, was als White-Trash-Schlampe beschimpft wird, wenn auch nicht vom Regisseur, der fast alle seine Protagonisten mit viel Empathie beobachtet. Halley entspricht ja auch nicht ganz ihrem äußerlichen Klischee, sie ist nämlich eine liebende Mutter. Nicht vorbildhaft, nein, aber doch eine Zuhörerin und geduldige Mitspielerin für Moonee.
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