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SPD-Parteitag und der Frieden

"Hey, bezieht doch Stellung"

SPD-Parteitag und der Frieden: "Hey, bezieht doch Stellung"
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Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands will sich ein neues Grundsatzprogramm geben. Noch aber gilt das alte. Dort beschreibt sich die SPD als dem Frieden dienend – eine Haltung, die aktuell unter Druck steht. Nicht nur in Baden-Württemberg wollen Genoss:innen darüber zumindest diskutieren dürfen.

Hilde Mattheis hat viel erlebt seit ihrem Eintritt vor fast vier Jahrzehnten, in ihren 23 Jahren im Landesvorstand oder beim Mitgliederentscheid von 2009, als sie im Kampf um den Vorsitz Nils Schmid unterlag. Bis 2021 führte sie das Forum Demokratische Linke 21 und damit den linken Flügel der Partei. Eines ist ihr heute allerdings vollkommen neu, wie sie gegenüber Kontext klagt: "Dass nicht diskutiert wird." Auch nicht über Friedenssicherung in Europa in einer immer komplizierteren Welt. "Wir wollen niemandem unsere Meinung aufzwingen", sagt die frühere Ulmer Bundestagsabgeordnete, "aber wir wollen reden, ohne gleich in die Ecke der Putin-Versteher geschoben zu werden."

Bereits seit fast einem Jahr kursiert das in Baden-Württemberg entwickelte Papier "Mehr Diplomatie wagen", vor gut zwei Wochen kam hinzu das viel kritisierte Manifest zur "Verteidigung, Rüstungskontrolle und Verständigung"(Kontext berichtete). Miturheber ist der Erhard-Eppler-Friedenskreis. Dessen Ehrenvorsitzender Robert Antretter verlangt nach einem Gesprächsklima ohne Ausgrenzung und "im Wissen um unsere Grundsätze seit Willy Brandt". 

Antretter ist 86, Mattheis 70, andere Unterstützer:innen wie die frühere Tübinger Landtagsabgeordnete Rita Haller-Haid, die einen Brief mit der Bitte um Stellungnahme an den Landesvorstand geschickt hat, oder Ernst Ulrich von Weizsäcker, gehören ebenfalls zur Generation 70 oder gar 80 plus. Wie die Vereinigung 60 plus, eine der insgesamt elf parteiinternen Arbeitsgemeinschaften, nehmen sie alle für sich in Anspruch, viele Mitglieder bei der Stange gehalten zu haben. Diese AG, die nach eigenen Angaben das Engagement der Älteren fördern und Menschen für die sozialdemokratische Programmatik gewinnen möchte, wird das Thema Friedenssicherung auf den Bundesparteitag tragen, am kommenden Wochenende in Berlin. 

Die Parteitagsregie will Debatten verhindern

Die Regie rund um den neuen Bundesvorsitzenden Lars Klingbeil und seinen designierten Generalsekretär Tim Klüssendorf hat schon im Vorfeld alle Register gezogen. Einschlägige Friedensanträge sollen laut Antragskommission wahlweise an die Bundestagsfraktion überwiesen oder gar nicht erst befasst werden. Immerhin ein halbes Dutzend liegt vor. Darunter sogar ein Leitantrag der 60-plus-Bundeskonferenz, der sich ausdrücklich auf "Mehr Diplomatie wagen" bezieht und fordert: "Unsere Regierung muss neben der Aufrüstungsoffensive zur Landes- und Bündnisverteidigungsfähigkeit eine diplomatische Verhandlungsoffensive starten." Friedenspolitik brauche Diplomatie, brauche Reden, brauche Austausch und Erklärung, brauche auch Geld für Entwicklungspolitik und Friedensarbeit. Und die Erinnerung an das Willy-Brandt-Zitat: "Wir brauchen in Deutschland nicht mehr Mittel zur Massenvernichtung, wir brauchen weniger. Wir müssen die alten Pfade 'Abschreckung durch Wettrüsten' verlassen." 

Andere argumentieren ähnlich. So will der Unterbezirk Miesbach aus Bayern erreichen, dass Friedrich Merz‘ Ansage "Whatever it takes" nicht nur für die Beschaffung von Rüstungsgütern gilt, um Deutschlands Sicherheit zu gewährleisten. Sondern auch für alle Bemühungen, einer Aufrüstungsspirale entgegenzuwirken. Die SPD Tempelhof-Schöneberg verlangt, neben den schon von der Bundesregierung beschlossenen zusätzlichen Mitteln für Verteidigung zusätzliche Haushaltsmittel für nichtmilitärische Friedenssicherung, Entwicklungszusammenarbeit, zivile Krisenprävention und Konfliktregelung, humanitäre Hilfe sowie die Stärkung der Vereinten Nationen und der Organe der Internationalen Gerichtsbarkeit bereitzustellen.

Der Kreisverband Freudenstadt schlägt vor, eine Projektgruppe einzurichten aus Vertreter:innen der Friedensforschung und Friedenssicherung sowie relevanten Fachleuten zur Sichtung ziviler Konfliktstrategien sowie die Entwicklung eines Konzepts ziviler Sicherheitspolitik für Deutschland und Europa, weil es "als Friedenspartei uns ein dringendes Anliegen ist, zivile Alternativen zur militärischen Friedenssicherung zu entwickeln". Eine Absage an Taurus-Lieferungen in die Ukraine, die der Landesverband Bremen durchsetzen will, wird kurzerhand als "erledigt durch SPD-Regierungsprogramm" erklärt – was auch immer das sein mag. In den Koalitionsvertrag mit der Union hat der Begriff Taurus jedenfalls keinen Eingang gefunden. 

Wenig Frieden im Leitantrag

Gerade die Überweisung von Anträgen an die Bundestagsfraktion ist eher ungewöhnlich, weil es eigentlich umgekehrt laufen soll: Die Partei positioniert sich programmatisch, die Fraktion als ihr parlamentarischer Arm versucht sich an der Umsetzung – im Rahmen der jeweiligen koalitionären Gegebenheiten. Allein in laufenden politischen Prozessen ist es durchaus üblich bis erwünscht, Ideen einzelner Gliederungen an Abgeordnete zu überweisen – nicht zuletzt um zur allgemeinen Befriedung ausufernde Debatten auf Parteitagen zu verhindern. Diesmal allerdings ist empfohlen, mehr als hundert Anliegen zu unterschiedlichsten politischen Fragen nicht zu behandeln, sondern als Handreichung und eben nicht als Beschluss an die Fraktionär:innen in Berlin zu schicken – wo sie dann mit hoher Wahrscheinlichkeit in irgendwelchen Schubladen landen werden.

Noch kühner ist die Behauptung, einzelne Vorstöße seien durch die Annahme des Leitantrags des Parteivorstands erledigt. Denn der ist zwar sechs Seiten lang und will unter vielem anderen "Kommunikation neu denken". Mit dem Thema, das vielen Genoss:innen so wichtig ist, beschäftigt sich aber nur eine einzige Frage: "Wie verteidigen wir Frieden, Freiheit und unsere Werte?" Der Blick ins eigene Grundsatzprogramm hätte dem Team um Klingbeil zumindest nicht geschadet. "Was uns eint, ist die Überzeugung, dass die Gesellschaft gestaltbar ist und nicht vor dem blinden Wirken der kapitalistischen Globalisierung kapitulieren muss", heißt es, "und was uns eint, ist die historische Erfahrung, dass sozialdemokratische Politik nur erfolgreich sein kann, wenn sie verbunden ist mit dem demokratischen Engagement der Menschen in den Gewerkschaften, den Friedens-, Frauen-, Umwelt-, Bürgerrechts-, Eine-Welt- und globalisierungskritischen Bewegungen und Netzwerken."

Zugegeben, das war vor bald 18 Jahren, und die Zeiten haben sich geändert. Ausgerechnet Klüssendorf liefert auf der Pressekonferenz zum Bundesparteitag zu Wochenbeginn aber all jenen eine Steilvorlage, die sicher sind, dass Überzeugungen von damals nicht über Bord geworfen werden dürfen. Einer Frage zum Umgang mit dem von vielen Medien heftig gescholtenen Manifest und den anderen Anträgen weicht er mehr oder weniger elegant aus und verweist auf die Beschlusslage des Berliner Bundesparteitag vor zwei Jahren. "Die gelten weiterhin und haben Bestand", sagt der 33-Jährige. Dort allerdings ist zu lesen, dass die SPD "als älteste demokratische Partei Deutschlands in der Tradition einer wirksamen internationalen Politik auf der Höhe der Zeit steht, die der Friedenssicherung und -förderung verpflichtet ist". Und an anderer Stelle: "Der Dreiklang von Außen-, Entwicklungs- und Verteidigungspolitik ist und bleibt der Grundpfeiler sozialdemokratischer internationaler Politik. Seit unserer Parteigründung vor 160 Jahren bekämpfen wir – innergesellschaftlich wie global – soziale, ökonomische und ökologische Ursachen von Konflikten."

Stoch weiß schon Bescheid

Ganz unabhängig davon, ob und wie es den Spitzengenoss:innen tatsächlich gelingt, die Friedenssicherung vom Parteitag fernzuhalten, wollen Mattheis und ihrer Mitstreiter:innen das Thema in die baden-württembergischen Kreisverbände tragen. Formuliert ist ein Schreiben mit dem Angebot, für eine Veranstaltung zur Verfügung zu stehen aus Anlass der "überheftigen und nicht immer aggressionsfreien Reaktionen" auf das Manifest. "Hey, bezieht doch Stellung", will die Verfasserin den Mitgliedern zurufen und: "Debattiert mit uns über eure Meinung." Ihre eigene skizzieren die Linken schon mal so: "Uns geht es neben dem Aufzeigen eines diplomatischen Ansatzes auch darum, für die SPD, unsere Partei, eine Trendwende zu erreichen." Der Pfad in Richtung Kriegstauglichkeit und die gravierenden Defizite in der humanen Migrationspolitik, gepaart mit fehlender Erklärung und Ausstrahlung der Führungskräfte, hätten zu nur 16 Prozent Zustimmung bei der Bundestagswahl geführt – und "um diesen Trend umzukehren, müssen wir die Friedenspartei SPD wiederentdecken, wieder aufbauen". Auf "Argumente statt Worthülsen" hofft Mattheis. 

Andreas Stoch nennt es "richtig so", dass in der SPD "offen und intensiv diskutiert wird". Selbst schwierige Themen wie die aktuelle Außen- und Sicherheitspolitik würden dabei nicht ausgespart, sagt der Landes- und Fraktionschef, der auch Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2026 ist und sehr gerne noch einmal Minister werden möchte. Das Manifest bezeichnet er als "dieses Papier", aber immerhin auch als "Teil einer solchen parteiinternen Auseinandersetzung, was vollkommen legitim ist". Abwarten will er die Auseinandersetzung offenbar aber nicht. Auf Kontext-Anfrage erklärt er: "Wir als SPD Baden-Württemberg stehen hinter dem Kurs der Parteiführung und der Bundestagsfraktion." Die aktuelle Lage stelle Deutschland vor große sicherheitspolitische Herausforderungen, "auf die wir mit klaren Entscheidungen und erheblichen Investitionen in unsere Verteidigung reagieren". Gleichzeitig sei wichtig, dass die Situation nicht weiter eskaliere, weshalb das Ziel eine möglichst schnelle Rückkehr zum Frieden sei.

Am 5. Juli treffen sich die Delegierten zum Landesparteitag in Fellbach. Erstmals wird die nach dem neuen Wahlrecht nötige Liste der Kandidierenden für 2026 aufgestellt. Die Verfahren sind praktischerweise so aufwändig, dass für inhaltliche Debatten keine Zeit bleibt und sie auf der Tagesordnung also gar nicht vorgesehen sind.

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