Die Lage für Europa ist historisch einmalig. Für viele ist es irritierend und herausfordernd, dass sowohl Russland als auch die USA sich in Gegnerschaft zu Europa befinden – einem Europa zudem, das sich durch Europarat, OSZE und EU über viele Jahrzehnte auf einem guten Weg befand, den internen Nationalismus und die Kriegsgefahr zu überwinden. Die Gegnerschaft zu Russland wird bereits seit ein paar Jahren wieder konstatiert, die Konfrontation mit den USA kommt jetzt für viele überraschend dazu.
Dabei gab es schon immer zwischen den USA und EU-Europa Interessengegensätze (Handel, Arbeits- und Umweltschutznormen, Lastenverteilung), aber auch grundsätzliche Unsicherheiten über die Sicherheitsgarantie und die Berücksichtigung westeuropäischer Interessen in der Sicherheitspolitik der USA. Diese Konflikte konnten durch Verhandlungen oder Formelkompromisse und durch einen – wenn auch asymmetrischen – multilateralen Institutionalismus (also der Zusammenarbeit der Staaten in Organisationen wie der Nato) sowie bis 1990 durch eine disziplinierende Gegnerschaft zur Sowjetunion bearbeitet werden. Dabei schwankte das westeuropäische Interesse in der Sicherheitspolitik zwischen der Furcht, dass die Beistandszusage im Kriegsfall doch nicht greife, und der Angst, das geostrategische Schlachtfeld für die USA zu sein (ein US-Reisebüro warb 1983: "Besuchen Sie Europa, solange es Europa noch gibt"). Versuche, sich sicherheitspolitisch von den USA unabhängiger zu machen, waren politisch nicht durchsetzbar.
Was nun sichtbar wird, ist eine schon lange schwelende geostrategische und geoökonomische Auseinandersetzung, die nur diejenigen überraschen kann, die politökonomische Studien übersehen haben. Was hat sich verändert? Die USA sind zwar militärisch noch am stärksten, aber ökonomisch gegenüber der EU in etwa gleichgestellt, und gegenüber China in Bezug auf die Wirtschaftsleistung zwar noch überlegen, aber der Abstand schrumpft rasant. In der jüngeren Vergangenheit, spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg, waren die USA militärisch und wirtschaftlich allen anderen Nationen überlegen (außer gegenüber der Sowjetunion/Russland bei Atomwaffen, was die absolute Anzahl der Sprengköpfe betrifft) und bestimmten – als angeblich wohlwollender Hegemon in Abstimmung mit anderen – die Regeln der Weltpolitik.
Westeuropa wurde zudem als geostrategischer Vorposten gegen den weltpolitischen Herausforderer Sowjetunion angesehen, der schon an der innerdeutschen Grenze stand. Die EU-Integration wurde auch deshalb lange von den USA gefördert. Heute aber ist die EU neben China ein ökonomischer Konkurrent, der außerdem als geostrategisches Vorfeld gegen die Mittelmacht Russland nicht mehr entscheidend ist. Hauptgegner der USA ist China, wobei dann Russland allenfalls als Verbündeter Chinas bedeutsam ist.
Mit berechenbarer Politik ist nicht zu rechnen
Ideologisch-habituell geändert hat sich, dass mit Präsident Trump in den Vereinigten Staaten diejenigen Kräfte dominieren, die der Theorie eines Unitary Executive Government anhängen: Einer Rechtsvorstellung, wonach der US-Präsident alleinige Macht über die Exekutive hat, die die Gewaltenteilung faktisch aufheben und der Direktivgewalt des Präsidenten übergeordnete und unangefochtene Gestaltungsmacht einräumen will. Bisher erweisen sich die Gewaltenteilung und die sie absichernden Institutionen in den USA nicht als resilient genug, ihrer verordneten Bedeutungslosigkeit, personellen Unterwanderung oder gar Auflösung etwas entgegenzusetzen. Für die internationale Politik ist unter anderem eine Missachtung des Völkerrechts, der internationalen Organisationen, der internationalen Gerichtsbarkeit und von internationalen Abkommen zu beobachten (dazu berichtet der "Verfassungsblog" detailliert).
In einer solchen Situation kommt die Persönlichkeitsstruktur eines Präsidenten besonders zum Tragen. Im Hinblick auf Trump kann festgehalten werden, dass er geleitet wird von Ruhmsucht, Gier und Rachsucht. Darüber hinaus weiß er aber als Geschäftsmann auch, dass Kriege ein teures Unterfangen sind. Das gilt erst recht, wenn sie zugunsten Dritter geführt werden, die USA diese Kriege bezahlen sollen und Trumps Klientel damit angeblich Mittel vorenthalten werden. Aus dieser Sicht sind die Kosten für Krieg und Frieden zu externalisieren, sprich: abzuwälzen zum Beispiel auf die Ukraine und die EU.
Dazu kommt das in rechtsextremen Kreisen übliche und typische Verhalten einer Orwell'schen Umdeutung der Begriffe (wie zum Beispiel für den Tag des Putschversuchs am 06.01.2021: Der Sturm aufs Capitol wird so zum "Tag der Liebe"). Hinzu kommen die üblichen Projektionen der eigenen Unzulänglichkeiten und Schandtaten auf Dritte. Nur so ist zu erklären, dass US-Vizepräsident Vance eine Gefahr für die Meinungsfreiheit und Demokratie in EU-Europa sieht, die repräsentative Demokratie entwerte, von einer Missachtung des "Volkswillens" spricht und deshalb – zusammen mit Musk – aktiv rechtsextreme Parteien in EU-Europa und Großbritannien unterstützt. Freiheit wird neu definiert als Tun- und Lassen-Können, was man will und kann, ist also die Freiheit der Reichen und Militanten, anstatt Menschenwürde und Freiheit zusammen zu denken und deshalb der Freiheit des Einzelnen dort Grenzen zu setzen, wo die Freiheit der anderen existentiell beeinträchtigt wird (auch bekannt als Rechtsstaatsprinzip).
Die Auseinandersetzung zwischen den USA, China und der EU als einen Konflikt um Hegemonie zu begreifen, verweist uns auf die klassische Machtpolitik. Der für sie geltende Imperativ (Macht- und Sicherheitszuwachs des eigenen Staates) ist zwar den globalen Problemen nicht angemessen und blockiert die Bearbeitung der Menschheitsprobleme wie die Klimakatastrophe, lässt sich aber von berechenbaren Grundsätzen leiten. Danach bewegt sich auch staatliche Machtpolitik in einem wie auch immer ausgestalteten Rahmen und folgt diesem Sicherheits-Imperativ. Dabei entwickeln die staatlichen Institutionen ein Eigengewicht selbst gegenüber eigenwilligen Amtsträgern und hegen diese ein.
Sie ermöglichen so selbst in einer hegemonialen Auseinandersetzung zwar machtorientierte, aber dennoch nach diesen Maßstäben "kluge Politik". Einer solchen "klugen Politik" steht die ideologisch-habituelle Ausrichtung der Trump'schen Regierung entgegen, so dass eine disruptive Mischung entsteht, die eine berechenbare Politik nicht zuverlässig erwarten lässt. Um dies analytisch zu erfassen, ist vielleicht weniger ein Rückgriff auf Thomas Hobbes "Leviathan" als vielmehr auf Franz Neumanns Analyse des Nationalsozialismus als Behemoth (1944) sinnvoll. Er schreibt: "Behemoth (… ) soll einen Unstaat, einen Zustand völliger Gesetzlosigkeit, darstellen." Und er führt aus: "Nach einem über allen Gruppen stehenden Staat besteht kein Bedürfnis; (…) Es reicht völlig aus, wenn sich die Führung der vier Flügel informell auf eine bestimmte Politik einigt", wobei die vier Flügel die von Neumann im Nationalsozialismus identifizierten festgefügten Gruppen Partei, Staat, Wehrmacht und Industrie sind.
Für die internationale Politik bedeutet dies das Verschwinden jeder Berechenbarkeit und stattdessen eine Orientierung an den situativ auftretenden Ruhm-, Macht- und Gewinninteressen sowie Racheabsichten der bestimmenden Akteure in den USA.
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Joachim Petrick
vor 3 Wochen