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Europa und Rüstung

Welt im Umbruch

Europa und Rüstung: Welt im Umbruch
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Unter Präsident Donald Trump nähern sich die USA und Russland diplomatisch an. Die Nato scheint am Ende. Und Europa? Friedensforscher Thomas Nielebock plädiert für einen relativen Pazifismus. Dieser könnte eine defensiv ausgerichtete Militärpolitik mit Diplomatie kombinieren.

Die Lage für Europa ist historisch einmalig. Für viele ist es irritierend und herausfordernd, dass sowohl Russland als auch die USA sich in Gegnerschaft zu Europa befinden – einem Europa zudem, das sich durch Europarat, OSZE und EU über viele Jahrzehnte auf einem guten Weg befand, den internen Nationalismus und die Kriegsgefahr zu überwinden. Die Gegnerschaft zu Russland wird bereits seit ein paar Jahren wieder konstatiert, die Konfrontation mit den USA kommt jetzt für viele überraschend dazu.

Dabei gab es schon immer zwischen den USA und EU-Europa Interessengegensätze (Handel, Arbeits- und Umweltschutznormen, Lastenverteilung), aber auch grundsätzliche Unsicherheiten über die Sicherheitsgarantie und die Berücksichtigung westeuropäischer Interessen in der Sicherheitspolitik der USA. Diese Konflikte konnten durch Verhandlungen oder Formelkompromisse und durch einen – wenn auch asymmetrischen – multilateralen Institutionalismus (also der Zusammenarbeit der Staaten in Organisationen wie der Nato) sowie bis 1990 durch eine disziplinierende Gegnerschaft zur Sowjetunion bearbeitet werden. Dabei schwankte das westeuropäische Interesse in der Sicherheitspolitik zwischen der Furcht, dass die Beistandszusage im Kriegsfall doch nicht greife, und der Angst, das geostrategische Schlachtfeld für die USA zu sein (ein US-Reisebüro warb 1983: "Besuchen Sie Europa, solange es Europa noch gibt"). Versuche, sich sicherheitspolitisch von den USA unabhängiger zu machen, waren politisch nicht durchsetzbar.

Was nun sichtbar wird, ist eine schon lange schwelende geostrategische und geoökonomische Auseinandersetzung, die nur diejenigen überraschen kann, die politökonomische Studien übersehen haben. Was hat sich verändert? Die USA sind zwar militärisch noch am stärksten, aber ökonomisch gegenüber der EU in etwa gleichgestellt, und gegenüber China in Bezug auf die Wirtschaftsleistung zwar noch überlegen, aber der Abstand schrumpft rasant. In der jüngeren Vergangenheit, spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg, waren die USA militärisch und wirtschaftlich allen anderen Nationen überlegen (außer gegenüber der Sowjetunion/Russland bei Atomwaffen, was die absolute Anzahl der Sprengköpfe betrifft) und bestimmten – als angeblich wohlwollender Hegemon in Abstimmung mit anderen – die Regeln der Weltpolitik.

Westeuropa wurde zudem als geostrategischer Vorposten gegen den weltpolitischen Herausforderer Sowjetunion angesehen, der schon an der innerdeutschen Grenze stand. Die EU-Integration wurde auch deshalb lange von den USA gefördert. Heute aber ist die EU neben China ein ökonomischer Konkurrent, der außerdem als geostrategisches Vorfeld gegen die Mittelmacht Russland nicht mehr entscheidend ist. Hauptgegner der USA ist China, wobei dann Russland allenfalls als Verbündeter Chinas bedeutsam ist.

Mit berechenbarer Politik ist nicht zu rechnen

Ideologisch-habituell geändert hat sich, dass mit Präsident Trump in den Vereinigten Staaten diejenigen Kräfte dominieren, die der Theorie eines Unitary Executive Government anhängen: Einer Rechtsvorstellung, wonach der US-Präsident alleinige Macht über die Exekutive hat, die die Gewaltenteilung faktisch aufheben und der Direktivgewalt des Präsidenten übergeordnete und unangefochtene Gestaltungsmacht einräumen will. Bisher erweisen sich die Gewaltenteilung und die sie absichernden Institutionen in den USA nicht als resilient genug, ihrer verordneten Bedeutungslosigkeit, personellen Unterwanderung oder gar Auflösung etwas entgegenzusetzen. Für die internationale Politik ist unter anderem eine Missachtung des Völkerrechts, der internationalen Organisationen, der internationalen Gerichtsbarkeit und von internationalen Abkommen zu beobachten (dazu berichtet der "Verfassungsblog" detailliert). 

In einer solchen Situation kommt die Persönlichkeitsstruktur eines Präsidenten besonders zum Tragen. Im Hinblick auf Trump kann festgehalten werden, dass er geleitet wird von Ruhmsucht, Gier und Rachsucht. Darüber hinaus weiß er aber als Geschäftsmann auch, dass Kriege ein teures Unterfangen sind. Das gilt erst recht, wenn sie zugunsten Dritter geführt werden, die USA diese Kriege bezahlen sollen und Trumps Klientel damit angeblich Mittel vorenthalten werden. Aus dieser Sicht sind die Kosten für Krieg und Frieden zu externalisieren, sprich: abzuwälzen zum Beispiel auf die Ukraine und die EU.

Dazu kommt das in rechtsextremen Kreisen übliche und typische Verhalten einer Orwell'schen Umdeutung der Begriffe (wie zum Beispiel für den Tag des Putschversuchs am 06.01.2021: Der Sturm aufs Capitol wird so zum "Tag der Liebe"). Hinzu kommen die üblichen Projektionen der eigenen Unzulänglichkeiten und Schandtaten auf Dritte. Nur so ist zu erklären, dass US-Vizepräsident Vance eine Gefahr für die Meinungsfreiheit und Demokratie in EU-Europa sieht, die repräsentative Demokratie entwerte, von einer Missachtung des "Volkswillens" spricht und deshalb – zusammen mit Musk – aktiv rechtsextreme Parteien in EU-Europa und Großbritannien unterstützt. Freiheit wird neu definiert als Tun- und Lassen-Können, was man will und kann, ist also die Freiheit der Reichen und Militanten, anstatt Menschenwürde und Freiheit zusammen zu denken und deshalb der Freiheit des Einzelnen dort Grenzen zu setzen, wo die Freiheit der anderen existentiell beeinträchtigt wird (auch bekannt als Rechtsstaatsprinzip).

Die Auseinandersetzung zwischen den USA, China und der EU als einen Konflikt um Hegemonie zu begreifen, verweist uns auf die klassische Machtpolitik. Der für sie geltende Imperativ (Macht- und Sicherheitszuwachs des eigenen Staates) ist zwar den globalen Problemen nicht angemessen und blockiert die Bearbeitung der Menschheitsprobleme wie die Klimakatastrophe, lässt sich aber von berechenbaren Grundsätzen leiten. Danach bewegt sich auch staatliche Machtpolitik in einem wie auch immer ausgestalteten Rahmen und folgt diesem Sicherheits-Imperativ. Dabei entwickeln die staatlichen Institutionen ein Eigengewicht selbst gegenüber eigenwilligen Amtsträgern und hegen diese ein.

Sie ermöglichen so selbst in einer hegemonialen Auseinandersetzung zwar machtorientierte, aber dennoch nach diesen Maßstäben "kluge Politik". Einer solchen "klugen Politik" steht die ideologisch-habituelle Ausrichtung der Trump'schen Regierung entgegen, so dass eine disruptive Mischung entsteht, die eine berechenbare Politik nicht zuverlässig erwarten lässt. Um dies analytisch zu erfassen, ist vielleicht weniger ein Rückgriff auf Thomas Hobbes "Leviathan" als vielmehr auf Franz Neumanns Analyse des Nationalsozialismus als Behemoth (1944) sinnvoll. Er schreibt: "Behemoth (… ) soll einen Unstaat, einen Zustand völliger Gesetzlosigkeit, darstellen." Und er führt aus: "Nach einem über allen Gruppen stehenden Staat besteht kein Bedürfnis; (…) Es reicht völlig aus, wenn sich die Führung der vier Flügel informell auf eine bestimmte Politik einigt", wobei die vier Flügel die von Neumann im Nationalsozialismus identifizierten festgefügten Gruppen Partei, Staat, Wehrmacht und Industrie sind. 

Für die internationale Politik bedeutet dies das Verschwinden jeder Berechenbarkeit und stattdessen eine Orientierung an den situativ auftretenden Ruhm-, Macht- und Gewinninteressen sowie Racheabsichten der bestimmenden Akteure in den USA.

Eine Neuausrichtung Europas ist nötig

Offensichtlich ist, dass sich zumindest Teile der EU und andere europäische Länder angesichts der Trump'schen Politik gegenüber Russland neu abstimmen müssen, wollen sie sich nicht einzeln in höchst asymmetrischen und ungewissen bilateralen Beziehungen mit den USA wiederfinden. Zu einem gemeinsamen Wollen und Nicht-Spalten-Lassen gehört ein bestimmtes Machtpotential sowie eine ideologisch-habituelle Disposition, aber ebenso die Anerkennung der eigenen Grenzen und ein kritisches Nachdenken darüber, ob – wie wir es nun allenthalben von fast allen politischen Kräften hören – die Rettung nur in einer massiven europäischen Aufrüstung zu finden ist, das heißt ein Infrage stellen eines verstärkten "Weiter so".

Dies gilt erst recht, weil heute niemand sagen kann, wie man diese Aufrüstung finanzieren soll, und weil es wahrscheinlich ist, dass die damit einhergehenden sozialen Verwerfungen die autokratischen Kräfte in den EU-Staaten stärken und diese Staaten damit nationalistischer, unmenschlicher und kriegerischer werden lassen. Für den wirtschaftlichen Bereich ist unbestritten, dass die EU ein ernstzunehmender Akteur ist, aber auch im Hinblick auf eine militärgestützte Sicherheitspolitik sollten sich die europäischen EU- und Nato-Staaten nicht kleiner machen und abhängiger von den USA reden, als sie sind. Mit einem Rüstungsetat von jährlich über 400 Milliarden US-Dollar geben sie nicht weniger aus als das kriegführende Russland. Zudem sind im Lissabon-Vertrag (1997) Mechanismen einer militärischen Rückversicherung angelegt, die wegen des absehbaren Ausfalls der Nato aktiviert werden könnten.

Zu einem seiner Stärke bewussten Europa gehört auch zu wissen, immer noch das menschheitsgeschichtlich gerechtere und freiheitlichere Modell als das der Autokratien zu vertreten. Dennoch gibt es dringenden Änderungsbedarf im europäischen Verbund (prozedural und inhaltlich) und müsste deshalb die Chance zu einem neuen demokratischen Kern-Europa ergriffen werden. Dafür könnten sich die Treffen des Weimarer Dreiecks, also dem von Frankreich, Polen und Deutschland eingerichteten Konsultationsforum eignen, das jüngst um verschiedene Länder zum Beispiel wie Spanien und Italien sowie den Nicht-EU-Staat Großbritannien erweitert wurde. 

Was die Inhalte einer europäischen Sicherheitspolitik betrifft, so muss diese von der Erkenntnis ausgehen, dass die EU den Ausfall der USA im Hinblick auf die Unterstützung der Ukraine nicht kompensieren kann, noch dazu gegen ein Russland, das von den USA diplomatisch gestützt wird. Dies zwingt zu einer völligen Neudefinition der EU-Politik gegenüber Russland, die zugleich dem Ziel verpflichtet ist, für die Ukraine zu retten, was zu retten ist.

Sicherheit ist nicht durch Aufrüstung zu erreichen

Faktisch bedeutet dies zu prüfen, ob man nicht einen eigenen Verhandlungstisch mit Putin eröffnen sollte und ihm ein Kooperationsangebot macht, das eben nicht so selbstsüchtig wie dieses von Trump ist und das deshalb zugleich die Interessen der Ukraine im Blick hat. Dabei könnte für einen Waffenstillstand, abgesichert durch UN-Blauhelme, einen Truppenrückzug und einen Nichtangriffspakt für eine neutrale Ukraine Russland einiges angeboten werden: die stufenweise Aufhebung der vielen EU-Sanktionen, Vereinbarungen über Rüstungsbegrenzung und -kontrolle, umfangreiche ökonomische und technologische Kooperation, Zusammenarbeit beim Klimaschutz und vielleicht sogar auch die Einberufung einer Europäischen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit.

Damit hätte dieses neue Kern-Europa erste eigene Vorstellungen von einer künftigen Sicherheitsordnung in Europa entwickelt und dazu kraftvolle diplomatische Schritte unternommen – aus der Erkenntnis heraus, dass Sicherheit nicht durch Aufrüstung zu erreichen ist (siehe die Phase vor dem Ersten Weltkrieg, der Ost-West-Konflikt oder der Korea-Konflikt). Ein erster einseitiger Schritt könnte der Verzicht auf die geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen sein, begleitet von der Aufforderung an Russland, seinerseits seine Kurz-und Mittelstreckenraketen abzurüsten, die für das europäische Schlachtfeld gedacht sind.

Daneben muss die weitverbreitete Annahme ernst genommen werden, dass neben diplomatischen Regelungen und Verfahren im Notfall auch Militärpotentiale als bedeutsam für die eigene Sicherheit angesehen werden. Da eine Politik der weiteren Aufrüstung nicht finanzierbar ist, müsste ein Politikwechsel in Richtung Friedenspolitik im Sinne eines relativen Pazifismus darin bestehen, allenfalls eine defensiv ausgerichtete Militärpolitik zu betreiben und das Mindestmaß an defensiver Rüstung, welches benötigt würde, europäisch abgestimmt zu produzieren und anzuschaffen. Genau darin müsste die vordringliche Aufgabe des EU-Kommissars für Verteidigung liegen. Er hätte darauf zu drängen, dass die konkurrierenden nationalen Rüstungswege, wie wir sie bisher kennen, aufgegeben werden.

Einwand: alles Utopie! Das mag zutreffen, aber was ist die Alternative, und welche anderen Konzepte gibt es, die ungebremste Aufrüstung mit all ihren Eskalationsrisiken in einen europäischen Krieg zu verhindern? Und könnte es sein, dass die hier skizzierte Richtung europäischer Sicherheitspolitik der einzig realistische Weg in eine nicht-autokratische Zukunft Europas ist?

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10 Kommentare verfügbar

  • Joachim Petrick
    vor 3 Wochen
    Antworten
    Was Alchimisten im 18. Jahrhundert waren Gold aus Blei, Eisen zu zaubern, sind heute Alchimisten der Friedrich Hajek, Milton Friedman Chicago Boys Chaos-, Spieltheorie, die aus militärisch-sozialen Spezialoperationen systemisch korrupte Milliardärs Oligarchen Machtstrukturen generieren begünstigt…
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