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Pazifismus

Verteidigung ohne Krieg

Pazifismus: Verteidigung ohne Krieg
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Pazifismus ist ein Schimpfwort, seit dem Ukrainekrieg mehr denn je. Diese Diffamierung hat ihre Basis in einem toxischen Männlichkeitskult. Dabei muss Verteidigung nicht zwangsläufig militärisch sein, findet unser Autor.

Jeden Tag vernichten Waffen in der Ukraine Menschenleben, zerfetzen Gliedmaßen, durchsieben Körper. Das klingt reißerisch, ist aber die Realität dessen, was in Medien und Öffentlichkeit abstrakt geworden ist. Der Krieg ist zu einem anonymen, sterilen Hintergrundgeschehen mutiert, Blut und Schmerzensschreie sind ausgeblendet. Das lässt uns den Krieg als – angeblich – notwendiges Kollateralereignis aushalten.

Ist er wirklich notwendig? Den Krieg hat Russland völkerrechtswidrig und barbarisch mit seinem Angriff begonnen. Unentschuldbar. Die Ukraine hat auf derselben Ebene reagiert: militärisch, mit Waffengewalt. In der westlichen Öffentlichkeit erscheint diese Art der Verteidigung als alternativloses Übel, das man hinnehmen muss, das man nicht hinterfragen darf.

Dabei gäbe es Alternativen zur militärischen Verteidigung. Doch sie werden ausgeblendet, die meisten Entscheidungsträger und Medien im Westen haben sich reflexartig auf die militärische Option festgelegt, propagieren sie als einzig richtige und prägten lange die vorherrschende Meinung. Eine aggressive Grundtendenz im menschlichen Wesen scheint dabei eine Rolle zu spielen – der Impuls, mit gleichen Mitteln zurückzuschlagen. Das ist im Kleinen schon beobachtbar auf der Straße, in der U-Bahn, auf dem Pausenhof. Ob ich beleidigt werde, angerempelt oder angegriffen: Der Affekt ist zurückzuschlagen. Wer das nicht tut, gilt als Feigling. Es geht also nicht nur um Verteidigung, sondern unterschwellig auch um Ehre, Rache, Gesichtsverlust. Um eine Wertewelt aus vergangenen Jahrhunderten, die in aufgeklärten Milieus eigentlich längst als rückständig galt. Wie konnte das passieren? Was ist mit antiautoritären Grundsätzen, warum gelten sie nicht mehr? Was empört so an der Vorstellung zu verhandeln, wenn doch im Jugendheim, an der Schule, im gesamten sozialpädagogischen Umfeld seit Jahrzehnten die körperliche Zurechtweisung verpönt und verboten ist, egal wie aggressiv und bösartig sich ein Klient verhält?

Sind tote Zivilisten wertvoller als tote Soldaten?

Es wird Zeit, den Glaubenssatz infrage zu stellen, der lautet: Wir müssen diesen Krieg und die militärische Gegenwehr noch eine Weile hinnehmen, bis Putin und Russland besiegt sind – dann wird alles wieder gut und friedvoll. Krieg erscheint hierbei als eine Art Provisorium, eine Überbrückungsmaßnahme. Zivilisiertes Handeln kann man aber nicht vorübergehend aussetzen, es muss sich immer im Hier und Jetzt bewähren.

Die Waffenbefürworter sagen, dieser Krieg müsse geführt werden, um noch Schlimmeres zu vermeiden. Als ob das, was jetzt jeden Tag passiert, nicht schlimm genug wäre. Jetzt, in diesem Krieg mit all seinem Leid, findet doch das statt, was die Waffenbefürworter sagen, vermeiden zu wollen. Viele, die für Waffenlieferungen sind, mögen ernsthaft beabsichtigen, Menschenleben zu retten. Aber sie erreichen das Gegenteil. Die militärische Verteidigung bedeutet, das Spiel der Gewalt mitzuspielen, das von Putin und seinen Militärstrategen diktiert wird. So retten wir nicht Leben, sondern verlängern das Töten. Und banalisieren es. Immer wieder differenzieren die Medien zwischen zivilen Opfern und Soldaten. Ungewollt zynisch kommt hier ein Ranking der Opfergruppen zum Vorschein. Ein Ranking, das getöteten Soldaten einen geringeren Wert einräumt als getöteten Zivilisten. Die menschliche Tragödie wird abgestuft. Ist es ein Zufall, dass Staatslenker ihr Soldaten-Reservoir hauptsächlich – wie eh und je – aus der Unterschicht rekrutieren? Während die publizistische Bewertung vornehmlich Akademiker vornehmen.

Verhandlungen und waffenfreie Verteidigung wären eine Alternative, die eben nicht mit Unterwerfung zu verwechseln ist. Selbst wenn man rechnen müsste mit einem Putin, der im Zuge von Verhandlungen sein Ego aufpumpt und von einer Rettung der Ukraine vor angeblichen Nazis schwafelt. Eine schlimme Vorstellung, aber nicht schlimmer als das stetige Schlachten und Zerstören, das nun schon im dritten Jahr stattfindet und dessen Ende nicht absehbar ist. Es ist ein Denkfehler, dass dieses alltägliche Töten und Zerstören ein kleineres Übel sei als ein vermeintliches Siegesgeschrei der Angreifer.

Gandhi, Parks, King: Ziviler Widerstand ist möglich

Ein weiterer Denkfehler ist, dass Verteidigung zwangsläufig militärisch sein müsse. Es gibt unzählige Beispiele zivilen Widerstands in der Geschichte, die zu Erfolg geführt haben. Gandhi ist nur eines davon – das ikonisch wurde. Die Revolution am Ende der DDR-Zeit ist ein weiteres prominentes Beispiel, das nicht umsonst als Friedliche Revolution sprichwörtlich wurde. Und die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarność mit ihren Protesten und ihrer Hartnäckigkeit gilt als einer der Wegbereiter für den Fall der Berliner Mauer. Die Orangene Revolution 2004 in der Ukraine ist ein weiteres Exempel für gewaltfreien Protest. Rosa Parks und Martin Luther King stehen emblematisch für gewaltfreie Bürgerrechtsbewegungen der USA gegen staatlichen Rassismus. In Südafrika setzte Nelson Mandela nach seiner Freilassung nicht auf Rache und Vergeltung für das jahrzehntelang erlittene Unrecht. Stattdessen wurde die Wahrheits- und Versöhnungskommission zum Vorbild weltweit, um Unrecht aufzuarbeiten.

Im Jahr 2011 veröffentlichten die Wissenschaftlerinnen Maria Stephan und Erica Chenoweth eine Studie ("Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict"). Darin untersuchen und vergleichen sie systematisch Strategien des Widerstands bezogen auf Konflikte, die es zwischen 1900 und 2006 auf der Welt gab. Das Ergebnis: Durch die Anwendung gewaltfreier Methoden steigt die Erfolgsquote um fast das Doppelte. Und die Erfolge, die durch gewaltfreien Widerstand erreicht werden, sind nachhaltiger als durch Krieg herbeigeführte Veränderungen.

Unabhängig von dieser historisch-wissenschaftlichen Unterfütterung: Gewaltfreier Widerstand im 21. Jahrhundert, das wären Verteidigungsstrategien, die noch weiter erforscht und entwickelt werden müssten. Wir bräuchten ein Heer von Psychologen und Hackerinnen, Medienexpertien, Historikerinnen und IT-Expertinnen. Die Massenstreiks und Industriesabotage organisieren, Infrastrukturen der Besatzer lahmlegen, digitale Netze unterwandern, Deserteure in Sicherheit bringen und Subversion planen. Eine Guerilla des zivilen Widerstands würde nur einen Bruchteil der heutigen, aberwitzig steigenden Militärausgaben brauchen. Vor allem aber würde man unendlich viele Menschenleben retten. Und die weitere Massenzerstörung und Kontaminierung von Städten und Landschaften vermeiden.

Remilitarisierung in zackigem Marschtempo

Es scheint, als würde mit der wegsterbenden Generation des letzten Weltkriegs auch eine fundamentale Kriegsabscheu zu Grabe getragen. Und so verblasst das Bewusstsein darüber, dass Krieg letztlich nie gewinnbar ist, dass er die höchste Stufe an Demütigung, Ehrlosigkeit und Schande darstellt für alle Beteiligten. Stattdessen triumphiert Nekrophilie. Verborgen hinter der Behauptung, die Ukraine würde unsere Freiheit verteidigen. Doch was ist das für eine Freiheit, die sich von Tod und Trümmern speist? Eine der schlimmsten Unfreiheiten der Menschen ist Krieg. Menschen im Krieg können sich nicht frei bewegen, er bedroht und negiert das Recht auf Angstlosigkeit und Unversehrtheit des eigenen Körpers.

Oft behaupten die Waffenbefürworter, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer die militärische Verteidigung wollen. Aber wenn von "den Ukrainern" die Rede ist, fehlt die empirische Grundlage.

Wo sind valide Umfragen, die auf Grundlage einer neutralen Befragung repräsentative Ergebnisse aus der ukrainischen Bevölkerung liefern? Aus einem Land, das sich im Kriegszustand befindet und somit auch die Medien und die Wissenschaft limitierenden Bedingungen unterordnet. Und so sehen wir selten Reportagen über ukrainische Familien, die in diesem Krieg Menschen verloren haben und denen es – vom Schmerz zerrissen – nicht gelingt zu sagen: "Er starb für die Freiheit." Wenig liest man von Friedensinitiativen auf ukrainischer und russischer Seite, die das blutige Spiel nicht mitspielen wollen und sich zwischen allen Stühlen wiederfinden. Kaum Interviews sind zu hören mit Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern auf beiden Seiten. Doch es gibt sie. Vermutlich verhalten sich viele ukrainische Waffengegner bewusst still, wenn sie vor dem Kriegseinsatz in andere Länder flohen – um einem Gastgeberland wie Deutschland nicht in seiner Waffen-Doktrin zu widersprechen. Eine Doktrin, die uns einreden will, dass wir mit Waffen kämpfen müssen, um das Gute wiederherzustellen. Und so wird in Deutschland diskutiert, denen das Geld zu verweigern, die sich dem Einsatz an der Front entziehen wollten und flohen. Auch hier haben wir uns in vergangene Zeiten zurückgebeamt: Statt Deserteure zu ehren, diffamieren wir sie als Feiglinge. Die Remilitarisierung der Gesellschaft läuft im zackigen Marschtempo.

Verantwortung geht anders

Dabei nennen die Waffenbefürworter oft den Zweiten Weltkrieg als Vergleichsfolie: Hätte man damals Hitler-Deutschland rechtzeitig bekämpft, statt zu beschwichtigen, wäre es nicht zur Katastrophe gekommen. Aber die damalige Appeasement-Politik war keine konsequente Anwendung ziviler Gegenstrategien. Diese hätte Ausdruck finden können in einer radikalen ökonomischen Isolation Deutschlands, in Industriesabotage, in Allianzen zum umfangreichen Schutz von Verfolgten. Auch damals also hätte es alternative Optionen gegeben, die aber nicht zur Anwendung kamen. Ganz zu schweigen von den heutigen Möglichkeiten: Unser ziviles Handlungsreservoir ist um ein Vielfaches angewachsen . Ob durch Erfahrungswissen, psychologisch-soziologische Erkenntnisgewinne und natürlich die immensen technologischen Fortschritte. Und doch trauen wir uns nicht, andere Wege zu gehen.

Wer pazifistisch argumentiert, begibt sich in eine Meinungsnische, wird stigmatisiert als naiv, als Memme oder Vasall Putins. Der militärische Kampf wird wieder zum Heldenakt glorifiziert. Subtext ist der patriarchale Gegensatz zwischen echten Männern und verweichlichtem Nichtsnutzen. Und so stellt die westliche Welt es als verantwortungsvoll dar, die Ukraine mit Waffen zu versorgen.

Das Gegenteil ist der Fall. Denn dass die Ukraine als angegriffener Staat vom Furor geleitet wird, ist ein natürlicher und nachvollziehbarer Reflex. Aber die Staatengemeinschaft dürfte diesen Reflex nicht verstärken, sondern wäre in der Lage und in der Pflicht, eine rechtsstaatliche Vernunftposition einzunehmen. Ein Vergleich im Kleinen: Würde eine Menschengruppe auf der Straße brutal überfallen und die überlebenden Angegriffenen würden rasen, so würden wir sie nicht noch anstacheln und ihnen Waffen in die Hand drücken. Verantwortung wäre, zwischen Angreifer und Opfer zu gehen. Vermitteln. Im Rechtsstaat gibt es eine Jurisdiktion, die Gewalt sanktioniert. Für die Staatengemeinschaft gibt es den Internationalen Strafgerichtshof. Dorthin gehören Putin und sein Regime. Dieses Ziel mutet derzeit unrealistisch an, ob mit oder ohne militärische Mittel. Umso wichtiger, den Weg zu gehen, der so schnell wie möglich die meisten Menschenleben rettet. Dafür müssen wir begreifen: Wenn man verhandelt, macht man es nicht für Putin. Sondern für die, die Putin auf beiden Seiten in den Tod schickt.

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16 Kommentare verfügbar

  • Max Weber
    am 19.08.2024
    Antworten
    Ein unsäglich traumtänzerischer Aufsatz, der sich - um es noch freundlich zu sagen - aus reinem (putinfreundlichem?) Wunschdenken speist und die furchtbare Realität von Putins Angriffskriegs schlicht ignoriert (Massenmorde an Zivilisten in Butscha, Bombardierung von Krankenhäusern, usw). Putin will…
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