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Smarte Apps und Datenkraken

Digitalisierung des Schleudergangs

Smarte Apps und Datenkraken: Digitalisierung des Schleudergangs
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 Fotos: Julian Rettig und Jens Volle 

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Auf Ämtern gibt's noch Faxgeräte, in manchen wird gefühlt mit Rauchzeichen gearbeitet. Dabei stehen alle Zeichen auf Digitalisierung. Smart Home, Smart Mobility, Smart City. In Böblingen sind jetzt Ampeln smart, in Stuttgart Waschmaschinen.

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Bis vor einiger Zeit hat noch eine Uhr gereicht. Seit Kurzem kann Lukas Walter in seinem Zimmer im Studierendenwohnheim am Schreibtisch sitzen und auf seinem Handy sehen, wie lange die Waschmaschine noch braucht. "Bisher", sagt er, "hab ich mir halt einen Timer gestellt."

Insgesamt 70 Waschräume des Studierendenwerks Stuttgart werden momentan umgerüstet. Die alten Waschmaschinen und Trockner kommen raus, neue rein, kaputte werden entsorgt, gebrauchte in gutem Zustand an die Standorte verteilt, die bisher eher gammelige Geräte hatten. WeWash hat den Zuschlag bekommen, die Firma gehört zu Bosch und hat sich auf Waschen in Gemeinschaftsunterkünften spezialisiert (Hotels, Campingplätze, Micro Living). "Unsere Leidenschaft ist es, das gemeinschaftliche Waschen und Trocknen für alle Beteiligten attraktiv zu gestalten", steht auf der Homepage. Dann kann ja nichts mehr schiefgehen. "Zukünftig erwartet Sie ein digitaler Waschalltag", frohlockt auch das Studierendenwerk in einer Mitteilung an seine Mieter:innen. Halleluja. Daneben freut sich die Pressestelle der Studierendenwerke, dass es endlich neue Geräte gibt, da habe wirklich was passieren müssen, und jetzt sei man eben grade mitten im "Roll out" des Ganzen.

Push-Nachrichten aus der Wäschetrommel

Die Waschküchen in den Wohnheimen werden seit März sukzessive grundgereinigt und gestrichen, die neuen Maschinen seien sehr leise, heißt es, und verbrauchten 50 Prozent weniger Energie als die alten. Den WeWash-Gründer:innen nimmt man ab, dass sie es gut meinen. Einer sagt in einem Interview, er nutze selbst einen Gemeinschaftstrockner und habe "alle Frustrationen rund um das Thema schon am eigenen Leib erlebt".

Lukas Walter steht zwischen noch nebelfeuchten Blümchen-Shorts und Erdbeersocken auf Trockengestellen und schaut auf sein Handy. Das müsse er jetzt jedes Mal mitnehmen, wenn er in den Waschkeller geht. "Als würde man da nicht eh schon genug reingucken", seufzt er, tippt auf den Bildschirm und schaltet eine der schwarz-grauen Maschinen ein.

Waschen kann hier, wer sich bei WeWash registriert und die App (in 16 Sprachen) installiert hat oder den QR-Code scannt, der unter dem Label Scan2Wash an der Wand hängt. Einmal waschen kostete 50 Cent, ohne App und Registrierung ist es teurer, schreibt das Studierendenwerk, "da höhere Gebühren für die jeweilige Zahlung entstehen". Deshalb der Ratschlag: "Einmalig registrieren, den vollen Service genießen und günstig waschen und trocknen." Gezahlt wird mit Kreditkarte, über ApplePay, Google Pay oder PayPal. Anonym den Studierendenausweis mit Guthaben aufladen, wie es bisher war, ist nicht mehr, sagt Walter.

Dafür, schreibt das Studierendenwerk, blieben die Waschenden "über den Status Eurer Wäsche stets informiert und bekommt eine Push-Notification, sobald sie fertig ist". Reservieren kann man die Maschinen aus dem Zimmer. Kein Laufen mehr in den Keller, nur um festzustellen, dass alle Maschinen belegt sind. Das zumindest ist eine gute Sache.

"Fehler bei der Anfrage aufgetreten"

Weniger gesegnet sind Radfahrende in Esslingen. Obwohl sie erst kürzlich ein nagelneues Fahrradparkhaus bekommen haben mit 370 Stellplätzen. Endlich das Rad sicher abstellen. Reinfahren, anschließen, fertig. Hätte man so machen können, hat man aber nicht.

Die erste Herausforderung: Wie kommt man überhaupt in dieses Fahrradparkhaus rein? Zwei Nebenstraßen und einen Hinterhof weiter dann also der Eingang. Wer eine Polygo-Karte, ein ÖPNV-Abo hat, parkt kostenlos, wer nicht, zahlt 1,20 Euro pro Tag. Passt schon, aber Abstellen draußen am Bahnhof kostet halt gar nichts. Und geht relativ unkompliziert. Im Parkhaus schiebt sich erstmal die Plattform vvs.bike-and-park.de zwischen Rad parken und Rad nicht parken. Schon der erste Eindruck ist mittelmäßig, sieht anstrengend aus. 

Wer sein ÖPNV-Abo auf dem Handy hat, muss zur VVS und sich eine physische Polygo-Karte ausstellen lassen, sonst tut's nicht. Weiter also auf der Homepage, in diesem Fall mit Abo. Schritt 1, Standort auswählen – "Esslingen, Mobilitätsstation". Schritt 2 Stellplatz-Nummer aussuchen, nehmen wir mal eine. "Es ist ein Fehler bei der Anfrage aufgetreten", sagt das Internet. Kann passieren, also nochmal. Diesmal ein Versuch mit Nummer 314, wobei die Stellplätze bis Nummer 300 Abo-Besitzer:innen vorbehalten und kostenlos sind. Die Homepage zeigt aber aktuell nur Stellplätze ab Nummer 301 zur Auswahl. Eigentlich, ist auf der Seite zu lesen, sei es auch völlig egal ist, welche Parkplatznummer eingegeben wird, die sei eh nur "fiktiv" und die im Parkhaus angebrachte Platznummern hätten "keine Gültigkeit". Aha. Parkdauer "1 Tag" angeklickt, was zur Registrierung mit allem Kladderadatsch wie Wohnort, Straße, Hausnummer weiterleitet.

Dann also Polygo-Card-Nummer eingeben, per Mail bestätigen (wie gut, dass wir alle unsere Mails immer dabeihaben), jetzt müsste es losgehen. 1,20 seien zu zahlen, sagt das Internet. Gezahlt werden kann mit PayPal, Sepa-Überweisung oder Kreditkarte. Warum aber kostet es überhaupt was? Mit Ploygo-Card ist es doch kostenlos! "Es ist ein Fehler bei der Anfrage aufgetreten", zeigt das Display wieder. Oh Mann.

Nochmal. Dann aber – nehmen wir diesmal Platz 61. Und es klappt! Die Erfolgsmeldung "Ihre Buchung" fasst per Mail nochmal alles zusammen und schickt einen Pin mit, eine Prüfsumme und einen QR-Code. Der ist an den Eingangs-Automaten zu halten, sagt die Anleitung am Automaten. Oder man solle alles – echt jetzt? – nochmal von Hand eingeben. Oder die Polygo-Karte vor den Scanner halten. Mit Pin. Oder doch nur den QR-Code ranhalten? Ganz schön kompliziert, so ein Fahrrad zu parken.

"Der Registrierungsprozess und das Hinterlegen des Deutschland-Tickets ist die Hölle", schreibt einer in den Google-Bewertungen. "Selbst ich als ITler wäre fast daran gescheitert." Aber keine Sorge, auch scheiternden Nutzer:innen wird in Esslingen geholfen. "Gegen einen Unkostenbeitrag von 3 Euro buchen Ihnen die Mitarbeiter:innen der Fahrradwerkstatt vor Ort einen Stellplatz und drucken Ihnen die Zugangsdaten aus." Oder man stellt das Rad halt doch draußen vor dem Bahnhof ab.

"Mächtige Stellschraube": der Ampelphasenassistent

Etwas viel Sinnvolleres fürs Verkehrs-Milieu hat sich dagegen die Stadt Böblingen einfallen lassen. Man gehöre damit "zu den Vorreitern", heißt es aus dem Rathaus nicht ohne Stolz. Denn einige der innerstädtischen Ampeln können neuerdings Signale an die Handy-App Signal2X schicken. "So kann ein Fahrzeug der Ampel beispielsweise mitteilen, dass es sich nähert." Ein zartes Rantasten ans autonome Fahren. Solange Autos noch nicht alleine unterwegs sind, können Autofahrer:innen jetzt auf der neuen App nachschauen, wie lange die jeweilige Ampel noch rot ist, vor der sie gerade im Stau stehen. Oder, bei freier Fahrt, wann sie demnächst rot sein wird. Und das sekundengenau.

Die Idee dahinter ist bestechend: "Unser Ampelphasenassistent Signal2X setzt an einer mächtigen Stellschraube für nachhaltigere Städte an: der Digitalisierung!", verkünden die Entwickler der Ampel-Chose stolz. "Die App hilft Verkehrsteilnehmer:innen, ihre Geschwindigkeit im Voraus genauso anzupassen, dass die angefahrene Ampel ohne Halt überquert werden kann. Das Ergebnis: flüssiger Verkehr, weniger Stau und weniger CO2-Emissionen. Und ganz nebenbei zudem benzin- bzw. energiesparendes Fahren für alle Einwohner Ihrer Stadt." Spitzenidee. Die Autofahrenden sind besonders gut darin, selbstständig und freiwillig die eigene Geschwindigkeit so anzupassen, dass dem Gemeinwohl aller Verkehrsteilnehmenden und auch noch dem Klima gedient ist. In der Realität fragt man sich bei jeder aufgerüsteten Ampel auf dem Handy, ob man's nicht doch noch grad so bei Grün schafft, wenn man ordentlich Gas gibt.

Aber erstmal die eigentlich vorgesehene "Experience" testen, "das spart nicht nur Nerven, sondern auch Kraftstoff, Geld und CO2", verspricht die App. Ranfahrt an die Ampel Talstraße, Kreuzung Calwer Straße. Die freiwillig angepasste Geschwindigkeit mag der Verkehr hinten eher nicht mittragen und die dauernde Handyguckerei ist auch nicht so vorteilhaft. Also doch normal gefahren. Die Ampel ist denn auch rot. Die App springt in den Nahmodus, zeigt ein Ampelsymbol und zählt. 13 Sekunden bis grün, 11, 8, 4, 2 – das Grünwerden hat der App-Entwickler ernsthaft mit einem Ton unterlegt. Damit niemand verpasst, wenn die Ampel umschaltet. Immerhin, es braucht keine Registrierung. Die App und die Ampel tauschen sich auch alleine aus und lernen voneinander.

Dauernd füttere man irgendwelche Programme mit Daten über einen, sagt der Student Lukas Walter in der Wohnheim-Waschküche. "Ich will Digitalisierung ja nicht grundsätzlich in Frage stellen, aber ob man eine App zum Waschen braucht, weiß ich jetzt auch nicht."

Sozusagen als Ausgleich für die digitalen Datensätze, die jetzt auch noch beim Wäsche machen gesammelt werden, finden sich in diversen Foren schon Tipps und Tricks, wie sich mit einmal zahlen bis zu vier Maschinen-Ladungen erschleichen lassen. "Danke WeWash", schreibt einer und setzt ein Herzchen dahinter.

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