Aber auch die USA verübten zahlreiche Völkerrechtsbrüche. Denken Sie an die Bombardierungen 1999 im Kosovo-Krieg – im Übrigen unterstützt durch den Kampfeinsatz der Bundeswehr ohne UN-Mandat. Was folgte, waren die Operation Enduring Freedom ab 2001 in Afghanistan, die Operation Iraqi Freedom ab 2003 im Irak, die Luftschläge und Marineeinsätze mit Marschflugkörpern 2011 in Libyen. Seit 2015 unterstützen die USA die völkerrechtswidrige Intervention Saudi-Arabiens im Jemen. 2018 dann der Luftangriff auf Duma in Syrien, 2020 der Luftangriff zur Tötung des iranischen Generals Soleimani im Irak.
Zu nennen wäre zudem die lange Liste der völkerrechtswidrigen militärischen Aktivitäten Israels, der Türkei und Großbritanniens. Alles in allem starben Millionen Menschen, weitere Millionen wurden verletzt. Ja, die Verantwortlichen all dieser Angriffe und Kriege gehören in Den Haag vor ein internationales Strafgericht gestellt. Ich betone: alle Verantwortlichen.
Am Anfang glaubten viele, Russland werde schnell gewinnen. Doch dem ist nicht so. Für viele ein Argument, dass es sich lohnt, die Ukraine militärisch zu unterstützen.
Um den Preis Hunderttausender Toter und Verstümmelter sowie eines völlig zerstörten Landes. Das realistischerweise am Ende dieses Abnutzungskrieges auf lange Zeit womöglich auch atomar verseucht sein kann. Was soll daran lohnend sein?
Kann man nicht doch darauf vertrauen, dass diese letzte, atomare Eskalation ausbleibt?
Ganz im Gegenteil. Das Regime Putin hat wiederholt und unmissverständlich bekundet, dass es zu allem bereit ist. Sollte Russland in einem konventionellen Krieg massiv in die Defensive geraten, dann bleibt aus Putins Sicht nur der gestaffelte Gebrauch von Atomwaffen. Dem Einsatz taktischer Atombomben in dünn besiedelten Gebieten wird der Beschuss ukrainischer Städte folgen. Sollte die Nato ihrerseits auch Atomaffen einsetzen, so ist die Eskalationsspirale an ihrem finalen Punkt angelangt: dem beiderseitigen Einsatz atomarer Interkontinentalraketen. Aufgrund der bestehenden Overkillkapazitäten wird ein Atomkrieg allesvernichtend wirken.
Was eine der beiden Seiten doch davon abhalten könnte.
So der letzte Funke Hoffnung: Mögen ganz am Ende doch noch die Tauben die Oberhand behalten. Darauf verlassen kann man sich aber in dem laufenden Kriegsszenario mit immer neuen Eskalationsstufen auf keinen Fall. Russland verfügt über mehr als 6300 atomare Sprengköpfe, die USA über 5800. Die Nato-Verbündeten Frankreich und Großbritannien zusätzlich über 290 und 215 Atomsprengköpfe. Am Ende spielen alle Kriegsparteien mit dem atomaren Feuer. Da wirkt es auf mich geradezu weltfremd, wenn westliche Politikerinnen und Politiker die Gefahr eines Atomkriegs gebetsmühlenartig verharmlosen. Die Gefahr des Dritten Weltkrieges ist akut.
Welche Rolle spielt die Vorgeschichte des Angriffs auf die Ukraine für Ihre Position?
Die mündlichen Versprechen des Westens, die dem früheren russischen Präsidenten Michail Gorbatschow gegeben wurden, lauteten: Die Nato wird ihr Territorium nach dem Fall der Berliner Mauer nicht nach Osten erweitern. Dieses Versprechen wurde gebrochen. Vom Baltikum über Polen, Tschechien und Slowenien bis hin nach Südosteuropa wurde ein Land nach dem anderen Mitglied der Nato. Aus russischer Sicht fehlt noch die Ukraine als Nato-Mitgliedsland, dann ist die westliche Front geschlossen, das westliche Bedrohungsszenario perfekt. Heute verfügt die Nato über die siebzehnfache militärische Schlagkraft im Vergleich zu Russland.
Dieser Krieg hätte mit einer Politik der Versöhnung und des friedlichen Miteinanders in Europa verhindert werden können. Durch die Schaffung einer neuen europäischen Friedenspolitik unter voller Einbeziehung Russlands. Der Vorwurf, dass die Falken in den USA und in anderen Nato-Staaten genau das nicht wollten, erscheint mir berechtigt.
Stützen Sie damit nicht die Erzählung Russlands, der Ukraine-Krieg sei so etwas wie Notwehr?
Die Nato-Osterweiterung erklärt etwas, aber sie legitimiert keinen Angriff auf die Ukraine.
Was wäre in der jetzigen Situation mit Blick auf die Ukraine die Alternative?
Die Lösung läge in der Aufnahme von Verhandlungen über einen Waffenstillstand. Danach könnten diplomatische Ansätze wirksam werden.
Weder die ukrainische noch die russische Seite haben daran Interesse.
Solange das Regime in Moskau die Autonomie bzw. Anerkennung der völkerrechtswidrigen Annexion weiter Teile des Ostens und Südens der Ukraine zur Voraussetzung für Friedensverhandlungen macht, kann es diese nicht geben. Und solange die Regierung in Kiew die Rückeroberung eines jeden Quadratmeters besetzten bzw. annektierten Landes als Voraussetzung benennt, kann es ebenfalls keine geben.
Die Unterstützer der Waffenlieferungen sagen auch hier: Die Aufrüstung der Ukraine stärke ihre Position bei Verhandlungen.
Fragt sich nur, wann eine der beiden Seiten ihre Position als ausreichend gestärkt sieht, um endlich Friedensverhandlungen aufzunehmen. Sobald das der Fall sein sollte, schätzt die Gegenseite die eigene Situation negativ ein. Sprich: Sie muss weiterkämpfen, beispielsweise um verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Was für ein Teufelskreislauf militärischer Kriegslogik!
Wie könnte eine Lösung aussehen?
Meines Erachtens liegt die Lösung in Friedensverhandlungen auf neutralem Boden, wohlgemerkt ohne Vorbedingungen. Diese Verhandlungen müssten unter Leitung von UN-Generalsekretär António Guterres beispielsweise in Genf oder Wien stattfinden. Ziel muss sein, akzeptable Lösungen zu finden. Wie etwa die Autonomie oder die Neutralität bestimmter Regionen der Ukraine unter UN-Schutz, mit Sicherheitsgarantien der USA und Russlands. Die Menschheit muss diese existentielle Krise überwinden, damit die Zeitenwende nicht zum Zeitenende wird.
Das Interview erschien zuerst in "nd – Die Woche" am 27. Januar 2023.
6 Kommentare verfügbar
Bernd Schneider
am 05.02.2023Es ist doch wohl keine Frage, dass Putin nicht bei der Einrichtung eines weiteren NATO-Stützpunkt „mithelfen“ wird und würde!
Waffenlieferungen führen zu weiterer Eskalation, wohl unbestritten.
Die Ukraine als…